Lebenslüge

rubber sole

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Wer sich in seiner Lebensmitte uneingeschränkt wohlfühlt, ist zu beneiden. Ich lebe in solch einer glücklichen Situation und genieße mein Leben in vollen Zügen. Und dieses findet in einer Umgebung statt, die seit frühen Jugendjahren meinen absoluten Sehnsuchtsort darstellt, fernab von meinem angestammten Herkunftsland Deutschland. Es ist ein Ort im äußersten Süden Festlandamerikas, die chilenische Stadt Punta Arenas an der Magellanstraße, in Sichtweite zur letzten bewohnten Region vor der Antarktis, der Insel Feuerland. Bei diesem Lebensmittelpunkt wird die Zahl der Neider vermutlich sehr viel geringer, denn es gibt kaum eine Region auf unserem Planeten, die wechselhafteres Wetter aufweist, bei dem nur eins beständig ist, die Unbeständigkeit; zeitweilig erlebt man hier alle vier Jahreszeiten an einem Tag. Dieses mag ich sehr. Der Höhepunkt dieses klimatischen Genusses ist jedoch der Wind, der hier allgegenwärtig in beachtlicher Stärke weht. Wind gäbe es auch in Europa, aber solch einen eben nicht, den kann man hier nicht nur fühlen, man kann ihn förmlich riechen, und ich meine, er hat sogar einen eigenen Geschmack. Dies alles in Verbindung mit einer mich stark inspirierenden Landschaft, mit einer Weite, die meine Seele streichelt.

In dieser für mich perfekten Umgebung spielt sich aktuell mein privat wie beruflich erfülltes Leben ab. Dieses wird getragen von einer kaum zu übertreffenden familiären Situation, mit einer wunderbaren Frau an meiner Seite, sowie zwei ebensolchen Kindern. Dies ist die Quelle meines glücklichen Daseins, aus der ich schöpfen kann, wenn ich abends von meiner beruflichen Tätigkeit heimkehre, die mich ebenfalls erfüllt, die Position des Präses der Deutsch-Chiilenischen Handelskammer hier vor Ort. Bei aller Bescheidenheit, für eine solche Stellung gäbe es kaum einen Besseren als mich. Das schwer Erklärbare daran, ich bin erst seit knapp zwölf Jahren hier im Lande und bin in überzeugender Weise meinen Weg gegangen.

Aber für diesen strahlenden Teil meiner Vita muss ich einen Preis zahlen, von dem niemand außer mir etwas weiß. Ich habe hier im Lande die frühere Zeit meines Lebens nach außen hin stets ausgeklammert und lebe mit Verdrängung, bei gezielten Nachfragen auch mit Lügen. Der Gedanke, mir mein Wohlergehen auf Kosten eines anderen Menschen erkauft zu haben, belastet mich neuerdings stark. So breche ich phasenweise aus und tausche mein Idyll dann für einige Tage gegen ein Leben in der einsamen Wildnis. Dies hilft. Leider nicht dauerhaft. Mit Wehmut denke ich dabei an mein früheres Leben. Damals schien auch alles zu passen. Ein Familienleben wie im Bilderbuch, eine erfüllende berufliche Situation. Kaum zu glauben, aber ich bin seinerzeit an einem Zuviel an Empathie gescheitert, am Leben mit einer Ehefrau, die nie etwas Negatives tat oder auch nur dachte, die mich mich mit ihrem wohlwollenden Wesen zudeckte. Selbst meine gelegentlichen Ausbrüche führten nicht aus dem Kokon, aus einem Leben wie in Watte gepackt - weich aber erdrückend. Niemand mochte ihr wehtun. Diesen Menschen zu kränken, zog automatisch ein schlechtes Gewissen nach sich. Für ein Gespräch über Konflikte oder Veränderung, oder gar eine Trennung, gab es nie einen passenden Zeitpunkt.

Dann konnte ich es nicht mehr, ein Leben zu führen, begleitet von dem Sound des ewig Guten. Meiner Frau direkt zu sagen, ich verlasse dich, brachte ich nicht fertig, ich würde den Anblick ihres traurigen Blicks nicht ertragen können. So wählte ich eine Variante der harten Art. Ich stahl mich davon. Klammheimlich. Vor der Rückreise aus einem gemeinsamen Urlaub. Mit einer Ausrede verpasste ich den Check-In und blieb zurück. Zunächst mit einem extrem schlechten Gewissen. Dieses legte sich später in meiner neuen Umgebung. Meine Beweggründe für diesen Neuanfang habe ich bis heute verschwiegen, ich werde es weiter tun. Ich werde mit einer Lüge leben.
 

petrasmiles

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Hallo rubber sole,

entweder ist die Geschichte nicht tief genug, oder so tief - aus Männersicht - dass sie mir entgeht.

Dein Protagonist scheint ja alles 'im Griff' zu gaben und sich mit dem versorgen zu können, was er braucht - und 'denkt' auch so von sich.

Aber dann nagt an ihm das Gewissen, weil er seine Ehefrau ohne ein Wort verließ - dass er deshalb ein Bigamist ist und seine aktuelle Frau belügt, scheint ihn nicht so zu bekümmern. Sie bekommt auch gar keinen Charakter verpasst, ob sie nun eine bessere Variante von Ehefrau wäre. Hier kommt nur das Klischée.

Und nun offenbart er (sich), dass er meint, sein 'Glück' mit dem nicht mehr vorhandenen Wohlergehen - woher weiß er das? - einer anderen Person, also seiner rechtmäßigen Ehefrau - erkauft hat. Auf diese Weise wird er wohl weiter nur um sich kreisen, denn die vertiefte Erkenntnis, warum er sich diese (erste) Frau ausgesucht hat und auch im weiteren Zusammenleben keine Wandlung dessen hinbekam, was ihn dazu trieb, diese zu verlassen, enthält er sich vor.
Vielleicht mag ich einfach solche Typen nicht, die nur um sich selbst kreisen.
Gut geschrieben ist die Geschichte allemal.

Liebe Grüße
Petra
 

rubber sole

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Hallo Petra,

ja, man kann bei der Einschätzung dieser Geschichte mit dem Bezug zu einer 'normalen' Gefühlswelt herangehen. Ich versuche mich hier mit den fiktionalen Gedanken und Verhaltensweisen eines Mannes zu befassen, der offensichtlich unter einer latent narzisstischen Störung leidet. Das Gerüst der Geschichte, eine Verbindung zu einer möglichen tatsächlichen Lebenslage, ist hier zweitrangig. Die Scheinheiligkeit, mit Wohlbefinden in einer realen Situation und in einer (idealisierten) Scheinwelt zu leben, beides für ihn funktionierend, sollte das Thema sein. Eine spezifische Tiefgründigkeit aus Männersicht wäre nicht beabsichtigt. Danke für deine abschließende Wertung.

Gruß von rubber sole
 

petrasmiles

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Hallo rubber sole,

ich denke, wir haben alle einen Filter auf den Augen durch das, wer wir sind - die einen weniger, ich wohl eher mehr.
Wenn Personen für mich nicht 'warm' sind, interessieren sie mich nicht, wenn ich die Protagonisten nicht als Mensch erfassen kann, interessiert mich die Geschichte nicht. Charakterstudien haben für mich dann keinen Nährwert.
Aber Du siehst, dass das eine sehr persönliche Sichtweise ist und weniger über Deinen Text aussagt als über mich.
Auch darum setzen wir uns hier mit anderen Texten auseinander - um etwas über uns selbst zu lernen.

Liebe Grüße
Petra
 
Der Witz an Literatur ist, dass man es nicht sagt, sondern zeigt. Und hier sagt mir der Text zu viel und zeigt zu wenig - dass bisschen Lokalkolorit am Anfang mit der geografischen und sozialer Verortung ist zwar ein guter Start, reicht mir aber nicht, denn der Rest ist eher was für psychologische Fachzeitschriften oder so. Finde ich.

Das Ganze jetzt weitergeschrieben und kontrastiert beispielsweise mit den Geschichten und der Sicht der Ehefrauen, das könnte was werden.

MfG
Binsenbrecher
 

rubber sole

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Hallo Binsenbrecher,

im Bereich Literatur kann man einiges unterbringen: Prosatexte mit psychologischen Sujets zählen sicher dazu - dies muss nicht zwingend 'Wikipedia-Stil' o.ä. zugeordnet werden. Die Idee, meine Geschichte zu einer breiter angelegten Erzählung auszuformulieren, klingt interessant. Danke für den Beitrag.

Gruß von rubber sole
 



 
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