Bettelarm und mausetot

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yza

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Bettelarm und mausetot


Geschrieben wurde dies, kurz bevor alles in Wirklichkeit passierte.




Die internationalen Zeitungen erwähnten wie so oft nur am Rande die schrecklichen Zustände in der Region Kosovo. Natürlich, auch die Menschen im westlichen Europa nahmen Anteil an den grausamen Zuständen dieses unnötigen Krieges. Aber um ehrlich zu sein, es gab überhaupt genug Schrecklichkeiten auf dem Erdball, so dass niemand mehr wusste, worüber er sich noch wirklich empören sollte. Für welche von Menschen gemachte Katastrophe sollte man nun noch eine Träne verlieren?

Attentate? Überschwemmungen? Kindesmissbrauch? Unfälle?

Wenn man über alles weinen würde, müsste man jeden Tag mehrere Liter Wasser trinken, um den Verlust auszugleichen.

Die Sonne brannte mit knapp 40° Grad wieder einmal unerbittlich auf das Land. Doch sie war keineswegs das Erbarmungsloseste, was wir Menschen zu befürchten hatten. Unser Land war arm, sehr arm. Die Menschen mussten dem Boden jedes kleine Früchtchen abringen und es schien, als wenn der trockene Boden sich mit der Sonne verbündet hätte, um mit den Einwohnern dieses Landes ein kleines Spielchen zu spielen. Vielleicht unterhielten sie sich darüber, wie die Frauen und Männer sich auf den Feldern abrackerten und kicherten in sich hinein.

Jeden Tag standen wir mit den ersten Sonnenstrahlen auf und jeden Tag drehten sich die Gespräche nur um unsere Ernährung und das Trinkwasser. Jeden Tag hoffte ich darauf, dass sich über Nacht etwas geändert hätte und dass ich einen Fußball besitzen würde, um mit den anderen Kindern des Dorfes stundenlang auf dem trockenen Boden ein wunderbares Spiel zu spielen. Dann würden wir Kinder hoch zur Sonne sehen und sie anlächeln und ihr zeigen: "Hey siehst du, deine Strahlen machen uns gar nichts." Wir würden ihr trotzen.

Doch unser Leben war anders. Egal ob erwachsen oder Kind, wir alle mussten sehen, dass wir hier in unserem armen Land überleben. Niemand hatte eine Antwort darauf, wie es einmal anders werden könnte.

Irgendwie trug Jeder etwas Hoffnung in sich, doch es sollte schlimmer kommen, als wir es jemals erahnen wollten.

Die Menschen aus unserem Dorf hatten schon länger von dem Krieg gehört, der in den benachbarten Regionen wütete. Doch wir waren alle sehr schlecht informiert und niemand hatte einen Grund, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Wir hatten niemanden etwas getan. Wir arbeiteten, um uns zu ernähren und wir freuten uns an den wirklich kleinen Dingen des Lebens. Niemand in unserem Dorf und auch in den umliegenden Dörfern besaß etwas wirklich Wertvolles.

In diesen Tagen redeten wir nur ab und zu über den Krieg, doch keiner von uns hatte Angst, warum auch. Wir Kinder hatten sehr viel Phantasie und stellten uns den Krieg eher wie ein Spiel vor, ein Abenteuerspiel. Doch ansonsten war der Krieg kein wirkliches Thema für uns.

Erst als immer mehr bruchstückhafte Nachrichten auch unser Dorf erreichten, spürten wir, dass gerade die alten Leute diese Berichte immer ernster nahmen und aufgeregter wurden und ständig darüber redeten. Meine Oma hatte schon einmal einen grausamen Krieg erlebt und wenn sie mir Dinge davon erzählte, brach sie meistens in Tränen aus.

Doch ich war ein zwölfjähriger Junge und konnte den Schrecken ihrer Erzählungen kaum begreifen. Für mich hörte es sich wie ein riesiges Abenteuer an.

Jeden Tag ging es weiterhin, wie immer, um unser tägliches Brot.

Bis dann die Tage und Nächte kamen, in denen man immer wieder das Getöse von Explosionen hören konnte. Die Alten wurden noch aufgeregter und man redete darüber, das Dorf zu verlassen und nach Süden zu fliehen. Den Alten sah man die Angst an, doch die meisten Bewohner des Dorfes waren dagegen. Nachts lag ich wach in meinem Bett und hörte, wie es in der Ferne donnerte, doch es war anders als ein Gewitter.

Dann kam die Nacht in der ich hörte, dass das Donnern Meter für Meter näher kroch.

Langsam wurde aus dem fernen Abenteuer ein komischer Angsttraum. Die Nachrichten, die ins Dorf kamen, schilderten schon die Gräueltaten des Krieges, der einige nicht soweit entfernt liegende Dörfer leergefegt hatten.

Wir Kinder hatten immer mehr offene Ohren für die Besorgnis der Alten unseres Dorfes, sie ahnten nichts Gutes. Doch die meisten Bewohner redeten sich ein, dass nichts passieren würde, auch wenn die serbischen Soldaten einmarschieren würden. Schließlich war unser Dorf nicht militant.

Ich weiß noch, dass auch meine Familie überlegte, in den Süden zu fliehen, aber wovor? Niemand fühlte sich für irgendetwas schuldig.

An diesem einen Morgen lag ich im Bett und überlegte, wie es woanders sein würde. Irgendwie hatte sich über Nacht in mir der Gedanke vertieft, dass wir hier verschwinden würden. Ich war hier aufgewachsen und liebte die Gegend. Es war sehr früh, doch ich wollte noch vor der Schule zum See gehen. Es schien mir sehr wichtig, ich war von dem Gefühl geleitet, mich von ihm zu verabschieden. Der kleine See war für uns der Mittelpunkt unseres Lebens.

Meine Mutter sah mich erstaunt an, als ich so früh das Haus verlassen wollte. Sie sagte mit ernster Miene: "Hör zu, wir werden heute Abend unsere Dorf verlassen. Du musst nachher packen helfen."

Ich hatte also richtig vermutet, es lag irgendwie in der Luft. Heute Nacht war es eher auffällig ruhig, es waren nur vereinzelte Granateneinschläge, oder Maschinengewehrfeuer zu hören gewesen.

Ich rannte jedenfalls im Morgengrauen zum See und setzte mich ans Ufer. Was hatten wir Kinder hier für einen Spaß gehabt! Der See war ein sehr vielseitig verwendbares Spielzeug, das wir uns Alle teilten. Ansonsten hatten wir nichts, was wir nicht selber an Spielzeug angefertigt hatten. Obskure Roller aus Latten, Ästen und Holzrollen gebaut, kleine Steine wurden zu Murmeln, mit Schilf gebundene Grasbüschel wurden zu Bällen umfunktioniert.

Ich genoss den morgendlichen Blick über den See und dachte daran, dass ich bestimmt auch wieder zurückkommen würde. In diesem kleinen See lagen unsere Träume, wie oft hatten wir Kinder uns schon Gedanken darum gemacht, was alles in ihm stecken konnte. Er war wie ein Tor in eine andere Welt. Wir stellten uns vor, dass wir in ihm tauchen würden und vielleicht in jene andere Welt gelangen könnten. Unsere Phantasie war grenzenlos.

Ich blieb vielleicht dreißig Minuten dort und kehrte dann mit zwei gefüllten Wassereimern zurück ins Dorf. Ich war erst einige Meter vom See entfernt, da hörte ich anhaltendes Maschinengewehrfeuer. Mein Körper zuckte zusammen. Es war so anders als sonst, es kam mir so nah vor und jeder Feuerstoß schien irgendwie eine tiefe Wunde in meine Seele zu reißen. Ich hätte schreien können: "Aufhören! Aufhören...."

Nach gut drei Minuten erstarb das Geknatter. Ich hatte die Eimer abgestellt und mir die Ohren zu gehalten, jetzt ging ich weiter. Meine Gedanken kreisten um das Verlassen des Dorfes. Meine Mutter hatte mir nicht gesagt, wo wir hin wollten und ich versuchte mir vorzustellen, wie es woanders sein könnte. Wo wollten wir denn hin? Ich kannte nur ein paar Dörfer in unserer Nähe, aber sonst?

Ich lief um das letzte Haus des Dorfes herum, wo der Weg in die Hauptstraße mündete. Unser Dorf bestand ja nur aus 38 Häusern. Die Eimer waren schwer geworden, so dass ich meinen Blick zum Boden gesenkt hatte. Doch schon mit dem ersten Schritt auf der Hauptstraße spürte ich die Veränderung.

Ich sah nach vorn und blickte auf ein paar vor mir stehende Lkws, Soldaten standen dort und zu ihren Füßen lagen Menschenkörper, leblose Menschenkörper.

Ich lief weiter und in meinem Kopf jagten die Gedanken hin und her.

Ich sah die Straße entlang, dort lagen die Bewohner unseres Dorfes. Sie waren tot! Aus dem Haufen von Leichen blitzte etwas auf, ich erkannte sofort den Stoff des Kleides meiner Mutter. Erst jetzt wurde mir mit einem Schlag klar, was hier geschehen war.

Sie Alle waren tot!!! Der Tod war in unser Dorf eingezogen. Ich war nun schon an den Schreckensort herangelaufen und mein Blick konnte sich nicht von dem Haufen am Boden liegender Menschen abwenden. Die Soldaten nahm ich nicht wahr. Im nächsten Augenblick wurde mir bewusst, dass ich schnell verschwinden musste. Ich ließ die Eimer fallen und wollte links in die kleine Gasse flüchten. Doch nach nur wenigen Schritten blickte ich in die Mündung eines Maschinengewehrs. Ich sah dem Soldaten in die Augen, der mich anlächelte, dann blitzte es auf und ich spürte wie es im Inneren meines Körpers sehr heiß wurde. Es wurde auf einmal sehr dunkel und die Umgebung schien sich aufzulösen.

Ich hörte durcheinander redende Stimmen, weinende Stimmen und klagende Rufe. Es ging alles sehr schnell, so dass ich nicht verstehen konnte, was wirklich passiert war.

Ich war aufgeregt. Ich rief nach meiner Mutter, nach meinen Geschwistern, doch keine Antwort kam zurück. Ich schien zu schweben und aus dem Dunkel sah ich auf unser Dorf, als wäre ich ein Vogel. Ich sah wie die Soldaten die leblosen Körper unserer Nachbarn auf die Lkws warfen. Ich sah meine Geschwister in dem Haufen von Toten liegen, ich sah meinen Vater, meine Mutter und ich ahnte, dass ich nie wieder bei ihnen sein könnte....

Ich war mausetot......
 

Bo-ehd

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Da kommen mir beim Lesen die Tränen. Ein erschütternder Bericht über den Wahnsinn, der sich gerade über die Menschheit ausbreitet. Toller Text, ergreifend geschrieben.
 

yza

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@Bo-ehd & @petrasmiles ... ERSTMALl ein dankeschön für eure Worte... Ja, Leute ... der Text ist leider zeitlos, Zum Balkankrieg geschrieben, passt aber auch nach Vietnam ode heute in die Ukraine oder nach GAZA oder auch sonstwo in ein Kriegsgebiet, wo über Zivilisten hergefallen wird, vor allem über Kinder und Familien.
Sollen sich doch die SOLDATEN gegen SOLDATEN auf den Schlachtfeldern begegnen, am besten auf dem MARS.... Ich danke euch und ehrlich gesagt, der Text ist zum heulen, weil soviel Wahrheit in ihm steckt... DANKE :) #writeon
 



 
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