SCHWARZWEISS

Sammis

Mitglied
Folgender Text liegt mir am Herzen. Er begleitet mich schon geraume Zeit. Es würde mich sehr Freuen, wenn sich hier jemand fände, der mir beim Ausmerzen letzter Unstimmigkeiten und holperiger Stellen behilflich sein möchte.



SCHWARZWEISS


1

August 2013

Der kürzeste Weg führt an Hausnummer 19 vorüber. Wie oft man in sechseinhalb Jahren wohl zur Schule läuft? Doch sicher mehr als fünfhundert Mal, oder? Habe nie nachgerechnet, aber es waren schon sehr viele Male; obgleich ich auch gern gefehlt habe. Und während all der Zeit habe ich kaum jemanden bei Nummer 19 angetroffen. Das Haus war immer bewohnt, keine Frage, gelegentlich parkte ein leuchtend rotes Auto in der Einfahrt, der Garten wirkte stets gepflegt. Genau genommen kann ich mich nur an ein einziges Mal wirklich erinnern, und selbst das nur sehr zerrissen. Ich weiß noch, dass es ein schulfreier Tag war und kalt. Es regnete, trotzdem putzte eine Frau die Fenster. Ich muss in etwa acht oder neun Jahre alt gewesen sein und wusste, weiß Gott, nicht viel übers Fensterputzen. Aber dass dies bei Regen eher ungewöhnlich ist, verstand ich wohl.
Woran ich mich noch erinnere, ist, dass im Hof ein kleines Mädchen spielte. Und auch das war sehr eigenartig. Es hatte den Anschein, dass es Autowaschen spielte. Ein ums andere Mal tauchte es einen imaginären Schwamm in einen imaginären Eimer und wusch dann damit das rote Auto. Im Regen.
Auch bin ich mir sicher, dass ich mich damals mit jener Frau unterhalten habe. Worüber wir jedoch sprachen, erinnere ich heute nicht mehr. Die Bilder von der Fenster putzenden Frau und dem Mädchen, dass das leuchtend rote Auto wusch, werde ich wohl nie vergessen.
Das Haus gefiel mir auch damals schon, besonders seine Lage. Inmitten der Stadt und dennoch isoliert. Auf mehrere hundert Meter findet sich, auch heute noch, kein zweites Haus. Gerade so, als hätte es sich verlaufen. Auch den Wintergarten mochte ich sehr, der grenzte unmittelbar an den Weg und war, wunderbar anzusehen, aus verziertem Holz erbaut. Gut möglich, dass Wintergarten hierfür das falsche Wort ist – ein Freisitz? Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen.
Jedenfalls scheint den Weg heute niemand mehr zu gehen, denn es gibt ihn kaum mehr. Sträucher, Gräser und auch Blumen haben die wenigen Quadratmeter fast vollständig zurückerobert. Nur wer weiß, wo er einst entlangführte, kann ihn heute noch erahnen.
Kurz bleibe ich stehen und schaue hinüber – wieder kein rotes Auto.

Knapp dreihundert Meter weiter komme ich am Minigolfplatz vorüber. Ist es nicht eigenartig, was Jahrzehnte überdauert und was nicht? Schon meine frühsten Kindheitserinnerungen zeigen den Platz verwahrlost und wenig besucht. Dennoch öffnet er, auch vierzig Jahren später, Tag ein Tag aus. Im Ganzen dauert es knapp zehn Minuten vom Haus meiner Eltern, in das ich, nach dem Tod meiner Mutter, erst kürzlich zurückgekehrt bin, bis in die Innenstadt. Aber ganz so weit möchte ich gar nicht. Wenige Meter vor Beginn der Altstadt führen mich meine Schritte hangabwärts in Richtung Bushaltestelle. Dort überquere ich die Straße und halte zielgenau auf die kleine Imbissbude zu, von wo aus mir bereits überschwänglich zugewinkt wird.
»Na, so früh schon auf den Beinen?«, begrüßt mich Sara, wie immer hell lächelnd. Es ist drei Uhr nachmittags. »Tom, das ist Katrin«, stellt Sara mir eine junge Frau vor, die ein wenig gehetzt wirkt. »Katrin ist sehr nett«, sagt sie und grinst, »sie mag mein Gulasch.«
Ich betrachte die junge Frau und schätze sie auf Anfang zwanzig. Ihre Wangen färben sich rosarot, offenkundig versteht sie nur Bahnhof.
»Hallo Katrin!«, sage ich und strecke ihr die Hand entgegen. Höflich nimmt sie sie und erwidert den Gruß: »Hallo Tom!«
»Das tut mir aber Leid«, sage ich im Versuch, komisch zu sein, »das mit deinen Geschmacksnerven, meine ich.« Sara lacht ihr bezaubernd wieherndes Lachen und die junge Frau starrt mich verständnislos an. Was folgt sind etliche Sekunden unbehaglicher Stille. Endlose Augenblicke, während derer ich mir dämlich vorkomme und Katrin den Blick nicht von den braunen Fleischklumpen auf ihrem Teller löst.
»Quatsch!«, sagt Sara schließlich. »Das ist nur Quatsch, Katrin. Tom hat mir schon oft versichert, dass ich eine ganz vorzügliche Köchin bin.« Sie sieht zu mir rüber und lächelt. »Nur mein Gulasch, das findet er nicht ganz so toll. Und damit ziehe ich ihn gelegentlich auf. Das ist alles!«
»Ja«, falle ich sogleich mit ein, »Sara ist mit Abstand die beste Köchin weit und breit! Und selbstverständlich ist auch ihr Gulasch hervorragend!«
»Ah«, macht Katrin, »ein Insider. Verstehe.«
Noch einmal wiehert Sara, erst dann scheint Katrin vollends überzeug.
Alles wieder gut.
»Gut«, sage ich.
Ihr Gulasch ist eine Katastrophe.


2

August 1944

»Glaubst du noch immer, dass wir das Richtige tun?«, fragte Larissa Liebherr flüsternd ihren Ehegatten.
»Ja«, antwortete Heinrich nach zu langer Pause, die weit mehr sagte, als dies eine Wort. Larissa rang sich ein Lächeln ab und Heinrich ergänzte: »Jetzt ist es ohnehin zu spät.«
Auf der Rückbank, unzureichend verborgen unter Decken, drängten sich zwei junge Frauen, ein Mann Mitte vierzig und vier kleine Kinder. Juden.
»Fahr doch langsamer!«, ermahnte Larissa ihren Mann einmal mehr, ihre Stimme zitterte vernehmlich.
»Entschuldige!«, Heinrich hatte große Mühe, seinen rechten Fuß zu kontrollieren. »Zu schnell fahren ist schlecht«, ermahnte er sich flüsternd, »auffallen ist schlecht!«
Zwanzig Minuten später erreichten sie das Haus. Am Hintereingang brannte Licht, sie wurden bereits erwartet. Gottfried Liebherr, seine Frau Sieglinde und Heinrichs Schwester Silvia empfingen sie an der Tür. Selbst die vierjährige Michaela stand dort, obgleich für das Mädchen längst Schlafenszeit gewesen wäre. Eilends schafften sie alle ins Haus, gleich darauf erlosch das Licht. Heinrich fuhr den Wagen in den Schuppen und als er zum Haus zurückkehrte, war da nur mehr Gottfried.
»Vater«, begann Heinrich, »tun wir das Richtige?«
»Ja?«, erwiderte der, ohne zu zögern und mit fester Stimme. Das gab Heinrich ein großes Stück der Zuversicht zurück, mit der er die Sache angegangen war.
Gemeinsam betraten sie das Haus. Durch die dunkle Küche in die Stube und von dort den langen, schmalen Gang hinunter zur kleinen Werkstatt. Hier waren nun alle versammelt, bei Kerzenschein stellte Larissa sie einander vor.
Da waren Hanna Rosenberg und deren beide Töchter Rachel und Maria. Die dreijährigen Zwillingsschwestern hatten helle, wache Augen und freundeten sich augenblicklich mit Larissas Tochter Michaela an. Ihre gerade einmal einundzwanzigjährige Mutter wirkte erschöpft, aber gefasst. Die andere Frau war Zilla Sternmann mit ihren beiden Söhnen Jonathan und Jeremia. Die beiden Knaben, drei und fünf Jahre alt, weinten ohne Unterlass. Schon die gesamte Fahrt über heulten sie, und ihre Mutter vermochte es nicht, sie zu beruhigen. Ein Umstand, der noch zu großen Schwierigkeiten führen könnte. Zuletzt war da noch Zillas Bruder Ruben Sternmann, der mit 44 Jahren beinahe auf den Tag genau doppelt so alt war wie seine Schwester und verrückt. Das wussten alle. Er redete nie und neigte in jüngster Zeit zu gewaltsamen Wutausbrüchen, die sich bisher jedoch ausschließlich gegen ihn selbst gerichtet hatten.
Er ist verrückt, pflegte Zilla stets mit einem lachenden und einem sehr traurigen Auge zu sagen. Aber was soll ich machen? Er ist mein Bruder.
Im Moment stand Ruben mit starrem Blick, von einem Bein auf das andere tappend, bei der Tür und erweckte den Eindruck, als würde er jeden Moment austicken.
Plötzlich löste sich die kleine Michaela von den anderen, ging direkt auf Ruben zu und nahm dessen Hand. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte das vierjährige Mädchen mit heller Stimme, »komm, spiel mit uns!« Ruben schrak sichtlich zusammen, dann starrte er das Mädchen an.
Larissa lief ein eisiger Schauer über den Rücken, am liebsten wäre sie augenblicklich losgestürmt, um ihre Tochter von dem unheimlichen Mann fortzuholen. Aber Ruben schien sich tatsächlich zu beruhigen. Er lies sich von dem kleinen Mädchen zu den anderen Kindern führen und auf seinem Gesicht zeigte sich so etwas wie ein Lächeln.

Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, zeigte Larissa den beiden Frauen die verborgene Kammer. In letzter Zeit war das Anwesen der Schwiegereltern mehrfach umgebaut und erweitert worden. Auch früher schon war es der Familie gut gegangen und seit Kriegsbeginn hatte sich ihr Einfluss und Wohlstand noch vermehrt. Das Stahlwerk Liebherr, das Gottfried Liebherr aus dem Boden gestampft und mit seiner Hände Arbeit groß gemacht hatte, war eines der wenigen, das nicht alsbald zwangsverstaatlicht worden war. Mit Glück und Verhandlungsgeschick war es Vater und Sohn gelungen, zur rechten Zeit, an richtiger Stelle vorstellig zu werden und zu überzeugen, dass ein funktionierender Betrieb Liebherr sehr viel nützlicher sei als ein ausgebeuteter.
Schlampige Planung unter Zeitdruck hatte zwischen Neu- und Altbau eine Art Verwerfung entstehen lassen. Einen geschossversetzten Hohlraum, der nahezu unmöglich von außen zu erkennen und nur auf abenteuerliche Weise umständlich zu erreichen war.
»Seht ihr, es ist alles da«, erklärte Larissa den jungen Müttern. »Essen und Wasser für mindestens drei Tage und dort hinten könnt ihr euch erleichtern.«
Zilla und Hanna sahen sich um. Es war unerwartet hell und weit weniger beklemmend, als sie befürchtet hatten.
»Und von hier aus könnt ihr in die Werkstatt schauen«, fuhr Larissa fort, »ihr könnt alles gut einsehen und solange ihr kein Licht macht und euch ruhig verhaltet, wird niemand euch entdecken.«
Zurück in der Werkstatt versuchten die beiden Frauen die Stelle auszumachen, von welcher aus sie eben in die Werkstatt geblickt hatten. Und obgleich sie doch wussten, was von oben zu sehen ist, gelang es ihnen erst nach etlichen Sekunden den unscheinbaren Spalt zu entdecken.
»Das ist perfekt!«, ließ Hanna hören und Zilla sich sogar zu einem freudigen Quieken hinreißen.
»Das ist es!«, stimmte Larissa nicht ohne Stolz in der Stimme zu. »Nur rasch dort hinzugelangen, ist nicht einfach,« ergänzte sie ernst, »das müsst ihr üben. Und eure Kinder müssen lernen, vollkommen still zu sein!« Sie wandte sich Zilla zu und wiederholte mit Nachdruck: »Ihr müsst wirklich ganz still sein. Egal, was passiert!«
»Das werden wir«, versprachen die beiden Frauen im Chor, »egal, was passiert.«

Am Abend erkundigte Hanna sich nach ihren Eltern. »Sie sind gut untergebracht«, versicherte ihr Gottfried Liebherr, »sie sind in Sicherheit. Auch eure Eltern und die Großmutter sind dort«, sagte er an Zilla und Ruben gewandt, »es geht ihnen gut.«
Die Frauen dankten es ihm lediglich mit knappem Nicken und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Niemand wollte es ihnen verübeln, ein jeder ahnte, woran sie jetzt dachten. Für ihre Männer, die Väter der kleinen Kinder, kam wohl jede Hilfe zu spät. Schon vor über einem Monat waren sie interniert worden und längst war es kein Geheimnis mehr, was mit den Männern, Frauen und Kindern in den Lagern geschieht.
Heinrich sah seine Frau an, auch sie hatte Tränen in den Augen. Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich. Dankbar lehnte sich Larissa an seine Schulter und weinte mit den beiden Frauen. Da wusste Heinrich, dass es eine gute Entscheidung gewesen war. Die einzig Richtige. Er sah seiner Frau in die Augen und küsste sie auf die Stirn. Auch sie wusste es.


3

»Der Mann ist ein Monster!«, Katrin spuckt winzige, braune Tröpfchen in meine Richtung, so sehr regt sie sich auf. Nachdem die Sache mit dem Gulasch erschöpfend geklärt war, hatte unsere Unterhaltung eine ganz andere Richtung eingeschlagen.
»Glaubst du nicht, dass man sich ändern kann?«, höre ich mich fragen. »Und sollte man das Ganze nach so langer Zeit nicht endlich ruhen lassen?«, tue ich eine Meinung kund, die nicht meine ist, weil ich genau genommen, keine dazu habe.
»Nein, nein«, echauffiert sie sich prompt, »jemand der zu so etwas fähig ist, der ändert sich nicht! Und ganz sicher verdient er es nicht, in Ruhe gelassen zu werden!«
Katrin Arnold war eben erst aus Zentralamerika zurückgekehrt, von einer Reise, von der ihr viele abgeraten hatten. Dort hatte sie Heinrich Liebherr zur Rede stellen wollen. Den Mann, der 1944 während der letzten Kriegsmonate mutmaßlich 162 Menschen ermordet haben soll. Mutmaßlich deswegen, weil er seit Monaten seines gesundheitlichen Zustandes wegen für verhandlungs- und reiseunfähig gilt und dadurch einer rechtskräftigen Verurteilung trotz erdrückender Beweislage entgeht.
In Chile hatte Katrin rasch feststellen müssen, dass Freunde und Bekannte mit ihren Behauptungen recht gehabt hatten. In der Tat gestaltete es sich äußerst schwierig, bis unmöglich, an den Mann heranzukommen.
Warum sich Katrin überhaupt derart in diese Sache verrannt hatte, vermochte sie kaum zu erklären. Aber seit geraumer Zeit missfiel ihr in zunehmendem Maß die sprichwörtliche Ungerechtigkeit in der Welt. Weder naiv noch dumm gab sie sich keinerlei Illusionen hin, daran grundlegend etwas ändern zu können. Doch seit dies spezielle Thema jüngst erneut von den Medien aufgegriffen und derart kontrovers diskutiert worden war, lies Katrin die Sache nicht mehr los. Allein die Tatsache, dass bis zum heutigen Tag nachweislich Täter solch abscheulicher Gräueltaten ungestraft davon kommen, empfand sie als Schlag mitten ins Gesicht.
Katrin hatte sich weder von der Reise abbringen, noch entmutigen lassen, als sich gezeigt hatte, wie schwer es war, Heinrich Liebherr ausfindig zu machen. Bis zur letzten Woche ihres Aufenthalts war es ihr versagt geblieben, den Mann zur Rede zu stellen. Dann hatten sich die Ereignisse jedoch überschlagen. Sie gelangte an die Adresse, aber Heinrich Liebherr war nicht mehr vor Ort. Wenige Tagen zuvor hatte er gemeinsam mit seiner Frau Klarissa das Land Richtung Deutschland verlassen. Aus zuverlässiger Quelle erfuhr Katrin den exakten Zielort.

»Das Schwein ist hier!«, keifte Katrin – braune Tröpfchen. »Heinrich und Larissa Liebherr sind hier in dieser Stadt.«
Ich schaue sie überrascht an und frage mich, wie man diese Pampe essen kann?
»Und was hast du jetzt vor?«, möchte Sara wissen. »Willst du wirklich einen über hundert Jahre alten Mann für den Rest seiner Tage ins Gefängnis bringen?«
»Ja!«, antwortete Katrin prompt, »genau das möchte ich! Denn jeder einzelne Tag, den er in Freiheit verbringt, ist eine verdammte Ungerechtigkeit!«
»Aber damit ist doch niemandem geholfen«, mische ich mich ein, ohne zu wissen, was genau ich damit aussagen möchte.
»Ihr versteht es einfach nicht!«, kontert Katrin sofort und treffend, zumindest was mich angeht. »Aber wie solltet ihr auch, euch geht es ja gut!« Jetzt kommt sie richtig in Fahrt und wird laut: »Aber diese Menschen haben so unfassbar Schreckliches durchleben müssen und wenn man bedenkt–«
»Juden?«, fällt Sara ihr forsch ins Wort, »meinst du mit diesen Menschen Juden?« Sie schaut Katrin für ein, zwei Sekunden herausfordernd an, ehe sie zu meiner Überraschung sagt: »Ich bin Jüdin. Und meine Großmutter ist es demnach auch. Und es ist uns egal!« Sie legt erneut ein bedeutsame Pause ein, ehe sie mit trotziger Stimme sagt: »Meine Großmutter ist 96 Jahre alt und ich glaube, sie versteht sehr wohl!«
Wow, was passiert denn hier? So habe ich Sara noch nicht erlebt.
»Ein einziges Mal nur«, fährt sie fort und fuchtelt mit erhobenem Zeigefinger vor Katrins Gesicht, »habe ich meine Großmutter konkret nach damals gefragt. Und was sie mir antwortete, habe ich verstanden und empfinde ich bis heute als richtig. Die Zeit damals war schrecklich, sagte sie mir, aber ich lebe. Heute und hier.«
Nie zuvor habe ich Sara derart ernst erlebt. Bewegungslos steht sie Katrin gegenüber und sieht ihr direkt in die Augen. Bereit für ihre Widerworte.
Aber es kommen keine. Da hellen sich Saras Gesichtszüge plötzlich auf, sie lächelt und wendet sich ihrer Arbeit zu. Dann fragt sie leichthin, an unbestimmte Adresse: »Wie setzt sich die perfekte Fußballmannschaft zusammen?«
Ich schaue sie verdutzt an und zucke verhalten lächelnd mit den Schultern.
»Na im Tor steht eine fünfzigjährige Nonne, denn die hat schon seit einer halben Ewigkeit keinen mehr reingelassen. Davor verteidigen ein paar Schwule, die für ordentlich Druck von hinten sorgen. Ins Mittelfeld kommen Schwarze und Chinesen, die machen das Spiel schön bunt. Und vorne stürmen Juden«, Sara dreht sich um und sieht Katrin erneut direkt an, »denn die dürfen ja bekanntlich nicht verfolgt werden.«
Peng! Das hat gesessen! Unter anderen Umständen hätte ich sicher laut gelacht und augenblicklich selbst einen zum Besten gegeben. Jetzt interessiert mich jedoch ausschließlich Katrins Reaktion. Und die lässt nicht lange auf sich warten. Geräuschvoll schiebt sie das Gulasch von sich, legt Geld neben den Teller und wischt sich theatralisch den Mund ab. Und schon ist sie weg.


4

Die Tage verstrichen und aus einer Woche wurden zwei. Täglich übten sie das rasche Verstecken, regelmäßig wurden die Lebensmittel in der Kammer getauscht. Am zwanzigsten Tag bat Hanna Larissa, nach dem Vater und der Mutter zu sehen. Und da sie seit geraumer Zeit nichts von ihnen gehört hatten, willigte Larissa ein.
Die beiden etwa gleich alten Frauen teilten ein Geheimnis. Während einer nächtlichen Stunde, als sie beisammen gesessen waren, hatte Hanna Larissa unvermittelt eröffnet, dass sie erneut schwanger sei. Jedoch nicht mit diesen Worten. Vielmehr hatte sie Larissa auf den Kopf zu gesagt: »Mir geht es wie dir. Ich kann es sehen, du trägst ein Kind unter dem Herzen.« Seitdem umflocht die beiden Frauen ein besonderes Band, waren sie Freundinnen geworden.
Früh am Morgen des einundzwanzigsten Tages machten sich Heinrich und Larissa auf den Weg in die Stadt. »Wir werden pünktlich zum Mittagstisch zurück sein«, beschwichtigte Larissa Heinrichs Schwester, da Silvia die Ausfahrt für keine gute Idee hielt und mit ihrer Besorgnis allmählich die gesamte Familie verunsicherte.
»Mach dir keine Sorgen«, bestärkte sie auch Heinrich, »alles wird gut!«
Doch nach ihrer Rückkehr sollte nichts mehr so sein, wie es war.


5

»Sie fahren mit 100 km/h und müssen unverhofft bremsen. Wie lange ist ihr Bremsweg?« Sara kneift die Augen zusammen und legt die Stirn in Falten.
»Na komm«, sage ich, »das weißt du doch!«
Sie öffnet den Mund und setzt zu einer Antwort an und beißt sich dann vor Zorn in die zur Faust geballte Hand. »Scheiße!«, zischt sie und greift zum Lehrbuch. »Ich bin so verdammt blöd!«, wiederholt sie einmal mehr und allmählich bin ich es leid, ihr zu widersprechen.
»Du bist nicht blöd. In unserem Alter lernt man eben nicht mehr so leicht.«
Sie sieht mich an, zieht eine Kleinmädchenschnute und stampft trotzig mit dem Fuß auf. »Ich krieg den Mist einfach nicht in meinen Kopf! Und es sind doch nur noch wenige Tage!«
»Dir bleiben noch vier volle Tage bis zur Prüfung«, ermutigt ich sie, »wir schaffen das!« Ich versuche möglichst zuversichtlich zu klingen, insgeheim beginne ich zu glauben, dass sie tatsächlich zu blöd dafür ist. »Komm, ich frage dich noch einmal die Vorfahrtsregeln ab, das hat doch schon ganz gut geklappt.«
»Och ne, ich brauche eine Pause, sonst platzt mir der Kopf! Außerdem ist es schon fast acht und ich muss noch zwei Bestellungen herrichten.«


6

Mehrmals am Tag klopfte Katrin an die Tür im Rosenweg Nummer 9. Eigenartigerweise gab es keine Klingel. Auch jetzt hämmerte sie energisch gegen das alte Holz, erneut erfolglos. Bislang hatte sich nichts in dem etwas heruntergekommenen Haus gerührt, allmählich kam ihr ihr Handeln sinnlos vor. Nur was hätte sie weiter tun können? Gewaltsam eindringen?
Vielleicht musste sie die Sache ja komplett anders angehen. Morgen würde sie sehr früh wiederkommen und möglichst den ganzen Tag über in Sichtweite zum Hauseingang verbringen. Jetzt wollte Katrin noch einmal den Garten in Augenschein nehmen, nur um ganz sicherzugehen, dass es keinen weiteren Zugang zum Haus gab. Linksherum begab sie sich zur Westseite, als sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Im Garten, bei einem üppigen Beerenstrauch, kniete eine Frau und zupfte Unkraut. Katrins Herz begann wild zu pochen – konnte das Larissa Liebherr sein?
Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass die Frau steinalt war. Sie hatte langes, schlohweißes Haar, helle, durchscheinende Haut und wirkte im Ganzen recht gebrechlich. Katrin ging am Zaun entlang, bis sie das unverschlossene Gatter erreichte. Die alte Frau schien sie noch immer nicht bemerkt zu haben, vermutlich hörte und sah sie schlecht. Katrin öffnete das Gartentor und ging hindurch. Ihr Herz hämmerte hart gegen ihre Brust und ihre Gedanken sausten wirr durcheinander. Was sollte sie sagen? Was tun? Bisher war sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die beiden aufzuspüren. Noch hatte sie keinerlei Gedanken darauf verwandt, was sie sagen wollte, wenn sie ihnen tatsächlich gegenüberstand. Bis auf wenige Schritte herangekommen, drehte sich die alte Frau urplötzlich um. Sie lächelte aus klaren, wachen Augen und meinte freundlich: »Nun haben sie mich ja endlich gefunden.«
Schwerfällig richtete sich die alte Frau auf und Katrin vermochte es nur mit Mühe dem Drang zu widerstehen, ihr behilflich zu sein. Auf die Beine gekommen, ergänzte sie noch immer lächelnd: »Lassen sie uns ins Haus gehen, es wird ja schon dunkel.«


7

Exakt zur Mittagsstunde erreichte Gottfried Liebherr der Anruf eines Geschäftsfreundes: »Sie durchsuchen die Häuser, sie werden gleich bei euch sein!« Die knappe Nachricht.
In Windeseile wurden die Kinder in die verborgene Kammer geschafft, dort angelangt schärften Hanna und Zilla ihnen abermals ein, dass sie nun ganz still sein müssen. Die Kinder gehorchten, eifrig nickten die Mädchen und Buben, bis die kleine Maria doch noch einmal den Mund auftat: »Wo ist Ruben?«, wollte sie wissen, und den beiden Müttern stockte der Atem.
Sie hasteten zu der Stelle, wo man durch den Spalt in die Werkstatt sehen konnte, und was sie erblickten, ließ ihre Herzen gefrieren. Inmitten des Raumes stand Ruben und starrte direkt in ihre Richtung. In seinen Armen hielt er Larissas Tochter, und das kleine Mädchen rührte sich nicht. Die beiden Frauen wollten glauben, dass das Kind schlief. Sie wollten es so sehr glauben und wussten doch, dass es nicht stimmte.
Dunkelrot tropfte es aus dem goldblonden Haar und dunkelrot glänzte es an Rubens Händen. Hanna schrie auf und wollte nach unten laufen, aber Zilla warf sich geistesgegenwärtig auf sie. Beide Hände auf den Mund der Freundin gepresst, flüsterte sie eindringlich: »Ich bitte dich, die Kinder!« Kurz starrten sie einander an, dann sahen sie zu den Kindern hinüber, die brav beisammen hockten, die Augen geschlossen hielten und keinen Mucks von sich gaben. Eben ganz so, wie man es ihnen beigebracht hatte. Egal, was passiert.
Noch einmal sträubte sich Hanna gegen die Umklammerung der Freundin, heiße Tränen säumten ihre Wangen. Noch einmal wollte sie sich losreißen und nach unten laufen. »Sieh dir die Kleinen an!«, zischte Zilla und hielt sie mit aller Kraft am Boden. »Sollen auch sie sterben? Das werde ich nicht zulassen!«
Hanna gab ihren Widerstand auf. Sie konnte dem Kind nicht mehr helfen, das sah sie nun ein. Und natürlich wollte sie nicht, dass ihren Töchtern oder den beiden Buben etwas zustieß.
Zögerlich ließ Zilla sie los und stieg von ihr. Weinend hielten sich die beiden Frauen bei den Händen, im nächsten Augenblick schlug unten die Werkstatttür auf, begleitet von ohrenbetäubendem Geschrei.
»Was hast du ihnen angetan!«, brüllte Silvia aus Leibeskräften und stürzte in die Werkstatt. Ruben wandte sich ihr zu und Silvia verstummte jäh, als sie das tote Mädchen in seinen Armen gewahr. Die beiden Frauen in der Kammer waren zum Spalt zurückgeeilt und mussten nun mit ansehen, wie Silvia mit leerem Blick auf ihre Knie sank und Ruben das tote Mädchen achtlos fallen ließ. Hanna unterdrückte einen zweiten Entsetzensschrei, diesmal presste sie selbst die Hände auf ihre Lippen.
Langsam ging Ruben auf Silvia zu, die ihren Blick nicht von dem achtlos hingeworfenen Bündel auf dem schmutzigen Fußboden lösen konnte. Ungehindert legte er seine Hände um ihren Hals und drückte zu. Erst da erwachte Silvias Körper, wehrte sie sich nach Kräften. Zilla hatte sich längst abgewandt, die Hände auf ihre Ohren gepresst betrachtete sie starren Blickes die still sitzenden Kinder. Egal, was passiert.
Verzweifelt rangen Silvias zarte Hände mit den unnachgiebigen Rubens. Hilflos scharrten ihre nackten Knie und Schienbeine über den steinernen Fußboden, bis sie blutig waren. Hanna konnte ihre Augen nicht abwenden. Sie biss sich auf die Unterlippe, bis Blut von ihrem Kinn tropfte.
Als Silvia sich nicht mehr wehrte, Ruben sie losließ und sie rücklings zu Boden fiel, war das Haus plötzlich erfüllt von dem Getrampel vieler schwerer Stiefel und Unheil verkündenden Rufen. Ruben kniete bei der jungen Frau nieder, schob ihr Kleid hoch und zerriss ihr die Unterwäsche. Plump grapschte er nach ihrem Busen, ehe er sich zwischen ihre Schenkel drängte und vollends bekleidet unbeholfen rhythmische Bewegungen vollführte. Hanna glaubte die Besinnung zu verlieren, als die Tür zur Werkstatt abermals aufflog und ein Gewehrkolben dumpf auf Rubens Schädel traf.
Dabei sollte es noch viel schlimmer kommen.


8

»Nehmen sie Zucker oder Milch?« Katrin verneinte beides und wusste darüber hinaus nicht, was sie hätte sagen sollen. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit, dass sie so offenherzig empfangen werden würde. Die alte Dame wandte ihr den Rücken zu und hantierte mit dem Teeservice. »Wissen Sie«, hob sie an, ohne sich umzudrehen, »mit dem Altern ist das so eine Sache. Die einen haben Glück, andere weniger.« Sie öffnete eine Schranktür und nahm eine silberne Zuckerdose heraus. »Ich bin einhundert Jahre alt. Beinahe schon einhundertundeins.« Sie wandte sich zu Katrin um und trug das Tablett zum Tisch. »Meine Hände zittern und die Beine tun mir weh, aber noch habe ich alle Sinne beisammen und mein Kopf funktioniert gut.« Sie nahm drei Tassen vom Tablett und rührte in eine davon zwei Stück Zucker. »Wissen Sie, ich weiß sehr wohl, warum Sie Tag für Tag hierher kommen.«
Katrin wurde heiß und kalt. Drei Tassen. Das konnte nur eines bedeuten.
»Heinrich ist nicht der Mensch, für den Sie ihn halten.« Bei dem Namen schreckte Katrin sichtlich zusammen. Die alte Frau sah sie jetzt direkt an und in ihrem Blick lag weder Arglist noch Feindseligkeit. »Ergreifen Sie die Gelegenheit, uns kennenzulernen. Hören Sie sich unsere Geschichte an und urteilen sie dann.«
Katrin blieb der Mund offen stehen und als wenig neben ihr der Boden knarzte, wurde ihr für ein, zwei Sekunden schwarz vor Augen.
Im Türrahmen zu ihrer Rechten stand ein uralter Mann. Heinrich Liebherr.
Aufrecht stand er still und musterte den unerwarteten Gast. Er war gut gekleidet und seine Augen ruhten erwartungsvoll auf Katrin.
»Kindchen«, fragte Larissa Liebherr, »wie ist Ihr Name?«
»Ich, ähm –«, stammelte Katrin. Tatsächlich benötigte sie einige Augenblicke, ehe ihr die Antwort einfiel. »Katrin«, sagte sie, »ich heiße Katrin Arnold.«
»Heinrich, das ist Katrin. Sie ist hier, weil sie dich kennenlernen möchte.« Der greise Mann begann scheu zu lächeln. Er streckte seine Hand vor und ging einen Schritt auf den Gast zu. Katrin sprang vom Stuhl auf, ergriff die dargebotene Hand und sprach die Worte: »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«
Was, zur Hölle, geht hier vor sich?, überschlugen sich die Gedanken in Katrins Kopf. Irgendetwas läuft hier komplett falsch!


9

Als sie das Haus von weitem sahen, war Heinrichs erster Gedanke: Nur nicht anhalten, einfach weiterfahren. Direkt vor dem Elternhaus parkten zwei Wehrmachtsmotorräder und weiter hinten ein großer Mannschaftswagen. Hausdurchsuchungen.
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Heinrich Larissa, sie waren beinahe am Haus angelangt und die Haustüre stand weit offen. Larissa war kreidebleich und sah ihn verstört an. Dann meinte sie jedoch unerwartet fest: »Halt an! Wir gehen hinein.«
Heinrich parkte den Wagen vor dem Schuppen, dann gingen sie so langsam und beherrscht, wie sie konnten, ins Haus. Niemand war in der Küche und niemand in der Stube. Vom Gang her vernahmen sie Stimmen. Larissa lief voran und Heinrich folgte ihr. Die Tür zu Gottfrieds Büro war angelehnt. Das war sie nie. Entweder stand sie weit offen oder war verschlossen. Larissas Magen krampfte sich zusammen. Die Klinke bereits in der Hand haltend, vernahm sie die Worte: »Das arme Kind, das ist ja schrecklich!«
Die Stimme kam aus der Werkstatt und Larissa wurde speiübel. Sie machte auf dem Absatz kehrt, stieß ihren Mann beiseite und rannte los.

Einer fesselte den reglos am Boden liegenden Ruben, zwei andere rauchten in der Hocke sitzend und starrten Silvia ungeniert in den Schritt. Der vierte kniete bei der kleinen Michaela, strich ihr das blutverschmierte Haar aus dem Gesicht und sagte einmal mehr: »Das ist ja schrecklich.«
Nicht einer von ihnen bemerkte die Frau, die im Türrahmen stand.

Larissa sah ihr kleines Mädchen, ihr Kind, ihr ein und alles, tot. Sie sah Silvia, mehr nackt als bekleidet, und mit gespreizten Beinen auf dem Rücken liegen. Auch tot. Dann sah sie Ruben – und verstand.
Larissa Liebherr schloss ihre Augen. Und als sie sie wieder öffnete, wanderte ihr Blick hoch zu dem unscheinbaren Spalt. Still stand sie da und blickte aus leblosen Augen hinauf. Von oben sah Hanna ihre neu gewonnene Freundin bewegungslos stehen. Sie sah ihre Augen und wusste, dass kein SS-Offizier sie jemals mehr hassen könnte, als es diese Frau nun tat.


10

Weit nach zehn Uhr abends verließ Katrin das Haus ihrer Gastgeber. Auf dem Nachhauseweg drehte sich ihr der Kopf. Noch vor wenigen Stunden war alles ganz einfach gewesen. Heinrich Liebherr der erklärte Feind, ihn zu hassen war leicht gewesen. Jetzt aber hatte sie mit ihm Tee getrunken und zu Abend gegessen. Hatte einen Mann kennengelernt, der äußerst zuvorkommend und sympathisch war. Auch Larissa Liebherr hatte sich als angenehme Gesprächspartnerin und großzügige Gastgeberin erwiesen. Unaufgefordert hatten die beiden ihr von den ersten Kriegsjahren erzählt. Wo sie diese zugebracht und wie sie sie erlebt hatten. Und etwas später, wie sie im Sommer 44 beschlossen, selbst tätig zu werden und letztlich die Sternmanns und Rosenbergs bei sich versteckt hielten.
Der Name Rosenberg war Katrin nicht fremd. Während ihrer Recherchen war ihr der Name aufgefallen, eines der letzten Opfer, für dessen Tod Heinrich Liebherr verantwortlich war. Nur dass die beiden Familien zuvor im Haus der Liebherrs Unterschlupf gefunden hatten, davon stand nirgends ein Wort geschrieben.

Auf ihrem Weg zur Bushaltestelle kam Katrin am Imbiss vorüber. Schon von weitem hatte sie das Licht bemerkt, und als sie vorbeiging, hielt sie den Kopf gesenkt. Das seltsame Erlebnis von vor ein paar Tagen war ihr gut in Erinnerung geblieben. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass jener Tom der eigenwilligen Köchin beim Aufräumen half. Kurz war sie versucht, sich den beiden zu erkennen zu geben, um ihnen von den unwirklichen Ereignissen der letzten Stunden zu erzählen. Sie entschied sich jedoch dagegen, beschleunigte ihre Schritte und überquerte eilends die Straße.

»Hat dir schon mal wer gesagt, dass du eigenartig bist?« Sara wirft die Geschirrtücher in den Wäschesack und sieht mich an. »Wirklich lieb, aber doch eigenartig.« Ich sage nichts dazu, schnappe mir den Müll und bringe ihn hinaus.
Bin ich eigenartig?, frage ich mich, während ich den Unrat in die überfüllte Tonne stopfe. Zu keinem Schluss kommend, kehre ich zu Sara zurück, die mich unverändert an selber Stelle erwartet.
»Warum machst du das?«, möchte sie jetzt wissen und nimmt meine Hände. Vermutlich damit ich nicht wieder fortlaufen kann. »Warum kommst du so häufig hierher und bist so nett zu mir?« Fragend sieht sie mich an und wartet auf eine Antwort.
Weil ich dich liebe, bin ich drauf und dran zu sagen, was aber Quatsch ist. Weil ich einsam bin und du, eines Zufalls wegen, Zeit mit mir verbringst, kommt der Sache schon näher. Weil ich verzweifelt bin und jedem Rock nachrenne, der mir ein klein wenig Aufmerksamkeit schenkt. Weil du eine attraktive Frau bist und ich mir einzureden versuche, wir könnten glücklich miteinander sein, obgleich ich das ernsthaft bezweifle. Weil ich ein blöder Arsch bin und mich unentwegt selbst belüge! All das kommt der Wahrheit sehr viel näher und genau das sollte ich ihr jetzt wohl auch sagen. Ich spüre, wie meine Hände feucht werden und ich winde mich, wie ein Hund, der den direkten Blickkontakt scheut. Dann mache ich den Mund auf und sage: »Weiß nicht, keine Ahnung.«
Sara sieht mich an, als hätte sie jeden meiner Gedanken mitangehört. Sie lächelt ein sehr trauriges Lächeln und lässt meine Hände los.


11

Heinrichs lautes Wehklagen, er fand Vater und Mutter erschlagen im Büro auf, setzte der gespenstischen Stille in der Werkstatt ein Ende. Wenig später führten sie ihn und Larissa aus dem Haus, nahmen sie sie mit zum Verhör. Schlussendlich wurde der Vorfall so verstanden und zu den Akten genommen, dass Ruben Sternmann, ein offenkundig geistig zurückgebliebener Jude, in das Haus der Deutschen eindrang und die Verbrechen aus geistiger Verwirrung und niederen Beweggründen beging. Über die Kammer verlor keiner ein Wort.

Als Heinrich und Larissa spät am Abend nach Hause entlassen wurden, fanden sie das Haus und die Kammer leer vor. Wohin die beiden Mütter und deren Kinder unterwegs waren, lag auf der Hand.
Schon während des Verhörs sprach Larissa kein Wort. Man sah es ihr nach, schrieb es dem Schock zu. Somit war es an Heinrich, Rede und Antwort zu stehen.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit trafen sie zu Hause ein. Am Ende seiner Kraft fand Heinrich Zuflucht im Sessel des Vaters. Er wollte nur mehr ruhen. Eine Aufgabe stand ihm da jedoch noch bevor.
Rastlos streifte Larissa durch alle Zimmer. Als sie damit endete, fand sie sich mit dem Telefonhörer in der Hand bei ihrem Ehemann ein. Noch immer schweigend, der Ausdruck auf ihrem Gesicht bedurfte keiner Worte.
Heinrich tätigte den Anruf, tags darauf wurden die jüdischen Frauen und Kinder nicht von ihren Eltern oder der Großmutter empfangen, sondern einer Hand voll Wehrmachtssoldaten.


12

Am Minigolfplatz bleibe ich stehen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt jemanden dort habe spielen sehen. Jetzt ist der Platz nahezu überfüllt. Eine Feiergesellschaft vermutlich, auf dem ehemals weißen Tisch vor dem Kassenhäuschen, dessen aufgequollene Holzplatte wenig Vertrauen spendend auf wackeligen Stelzen darbt, warten Torte und Geschenke. Warum mir feiernde Menschen zeitlebens ein Dorn im Auge waren, habe ich lange nicht hinterfragt. Das ungute Gefühl unreflektiert annehmend, habe ich Einladungen größtenteils ausgeschlagen, bis sie letztlich ausblieben. Irgendwann wurde mir klar, dass meiner Abneigung hierzu derselbe Mechanismus zugrunde liegt, der mich stets dazu veranlasste, erfolgreichen Menschen oder funktionierenden Partnerschaften ein Haar in die Suppe zu legen.
Zwei Minuten später betrete ich Saras Imbiss, zum Glück ist sie nicht allein. Auch bei ihr herrscht heute viel Betrieb, somit dürften unangenehme Fragen fürs Erste ausbleiben. Hoffe ich.
»Zweimal Huhn mit Reis, bitte schön! Guten Appetit! Ja, der Salat kommt gleich. Hallo Tom! Hast du gut geschlafen? Möchtest du etwas essen?« Die Hand zur Begrüßung hebend bejahe und verneine ich, um dann verdutzt an Sara vorüber zu starren, da ich hinter ihr, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, Katrin Arnold erkenne. Begleitet von zwei sehr alt wirkenden Menschen kommt sie aus der Innenstadt gelaufen, alle drei scheinen sich gut zu unterhalten.

»Schon gut, Kindchen, das muss Ihnen nicht Leid tun. Aber Sie haben natürlich Recht. Ein Kind auf diese Weise zu verlieren, ist eine harte Probe für jede Mutter.«
Katrin ließ sich etwas zurückfallen und schluckte. Die beiden waren wirklich ganz außergewöhnliche Menschen und ihre Geschichte erschütternd und faszinierend zugleich.
Gemeinsam spazieren zu gehen, was Larissa Liebherrs Vorschlag gewesen war, hatte Katrin zunächst für eine gute Idee gehalten. Jetzt war sie sich damit nicht mehr so sicher, da es der alten Dame sichtlich große Mühe bereitete, während des Gehens zu sprechen.

War das da eben?, grüble ich, aber das kann doch nicht sein, oder?
»Tom.«
Na das wäre ja – aber wer sollte es sonst sein?
»Tom!«
»Was?«
»Hast du das eben gesehen?« Auch Sara schaut jetzt in die Richtung, in welche die drei eben verschwunden sind.
»Glaubst du«, sagt Sara ungläubig, »dass das Heinrich Liebherr war?«


13

Acht Tage vergingen, in welchen Larissa nicht sprach und Heinrich kaum das Bett verließ. Am Morgen des neunten stand Larissa sehr früh auf, wusch das Blut von ihren Schenkeln, zog das Laken ab, frisierte und bekleidete sich. Dann ging sie zu Heinrich und beendete ihr Schweigen nach über einer Woche mit den Worten: »Ich möchte sie tot wissen. Alle.«
Heinrich sah seine Frau fragend an, aber Larissa ließ ihm keine Zeit zum Denken.
»Jetzt zieh dich an und fahr mich ins Hospital. Ich warte im Wagen auf dich.«

Auf dem Weg ins Krankenhaus erfuhr Heinrich erstmals von der Schwangerschaft seiner Frau und dass sie sein Kind, dem Anschein nach, heute Morgen verloren hatte.
Der Arzt bestätigte Larissas Verdacht. Obendrein eröffnete er ihr, nachdem sie die erforderliche Behandlung gänzlich teilnahmslos über sich hatte ergehen lassen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach niemals ein Kind bekommen würde.
Als Heinrich wenig später zu seiner Frau vorgelassen wurde, hatte Larissa einen Entschluss gefasst. Mit Nachdruck forderte sie von ihrem Ehemann den Schwur ein, nicht eher zu ruhen, als dass beide Familien ausgelöscht wären.
»Ihre Namen sollen sterben«, sagte sie, »genau wie der unsere.«

XXXXXXXXXXX
14

Gut dreißig Minuten vor der Zeit machte Katrin sich auf den Weg. Was sie bisher von Larissa und Heinrich Liebherr erfahren hatte, stellte alles auf den Kopf. Wenn sie den beiden Glauben schenken wollte, wogegen wenig sprach, beruhte deren gesamte Geschichte auf der Verkettung von unglücklichen Ereignissen, auf welche sie, während einer der dunkelsten Epochen der jüngeren Geschichte, nur allzu menschlich reagierten. Aber so sehr Katrin die beiden verstehen und so gut sie nachvollziehen konnte, was Heinrich Liebherr angetrieben hatte, so wenig wollte und konnte sie es als Entschuldigung für seine Taten gelten lassen. Bei aller Sympathie, die sie zugegebenermaßen für die beiden hegte, war sie noch immer fest entschlossen, ihr eigentliches Vorhaben nicht aus den Augen zu verlieren.
Als Katrin viel zu früh verhalten an die Tür des alten Hauses klopfte, kam sie jedoch nicht umhin, sich einzugestehen, dass sie sich sehr auf ein weiteres Gespräch mit den beiden freute.
»Guten Tag Katrin, kommen Sie rasch, Larissa geht es nicht gut!« Dass Heinrich Liebherr die Türe öffnete, darauf war Katrin nicht vorbereitet. Ohne jeden Grund war sie fest davon ausgegangen, dass Larissa sie empfangen würde. Der groß gewachsene Mann wirkte beunruhigt und blickte sehr ernst drein, was Katrin erschreckte. Eilends lief er voraus und Katrin hatte Mühe, Schritt zu halten. Schnurstracks stieg er die Treppe in den ersten Stock hinauf und steuerte dann direkt auf das Zimmer am Ende des schmalen Flures zu. Er öffnete die Tür und trat zur Seite.
Katrin ging an ihm vorüber und stieß auf eine Wand aus längst überwunden geglaubten Ängsten und unguten Erinnerungen.
Alle Vorhänge in dem kleinen Zimmer waren zugezogen und es roch erdrückend nach zu Ende gehendem Leben. Die Situation erinnerte Katrin so sehr an die letzten Besuche bei ihrer Urgroßmutter, dass sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte und davongelaufen wäre.
In dem viel zu großen Bett, das nur einseitig bezogen war, wirkte die alte Frau erschreckend verloren. Tapfer lächelte sie Katrin an und reckte, um Heiterkeit bemüht, ihr beide Hände entgegen. Dabei war offensichtlich, dass es ihr nicht gut ging.
Genau wie damals, musste Katrin sich auch jetzt zu jedem einzelnen Schritt zwingen. »Hallo Katrin. Schön, dass Sie es einrichten konnten.« Larissa Liebherr versuchte sich im Bett aufzusetzen, schaffte es jedoch nicht. Katrin überwand ihren Widerwillen, nahm die alte Frau bei den Händen und half ihr auf. Sie sah das schmutzige Nachthemd und roch das unzureichend sauber gemachte Bettzeug. Katrins Lächeln wirkte gequält und »Ja« war alles, was sie zu sagen imstande war.
»Heinrich, möchtest du uns Tee bereiten?«
»Aber natürlich.« Das leise Klicken, als er hinausging und die Tür hinter sich zuzog, hallte laut in Katrins Ohren. Das alles vermittelte ihr das Gefühl von Gefangenschaft.
»Katrin, ich möchte nichts beschönigen«, begann Larissa ohne Umschweife. »Sie sind eine kluge Frau und sehen selbst, wie es um mich steht. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, aber das ist in Ordnung. Ich bin mit mir im Reinen, ich kann gehen.« Die alte Frau lächelte. Ihr Lächeln wirkte echt und untermauerte ihre Worte: »Glauben sie mir, ich weiß, welch Schuld ich auf mich geladen habe.« Ihr Lächeln verblasste und sie schwieg einen Augenblick. »Und ich habe dafür bezahlt. Mein Leben lang.« Das Lächeln war nun vollständig verschwunden und ihre Augen spiegelten wider, was sie dann sagte: »Ich sorge mich sehr um Heinrich! Er ist ein guter Mensch, Katrin. Zeitlebens hat er nur getan, was er für das Richtige hielt. Alle seine Verfehlungen, alles was auch Sie ihm anlasten, Katrin, ist allein meine Schuld.«
Noch immer hielt Katrin die kühlen Hände der Frau, die in ihr zu lesen vermochte, wie in einem offenen Buch.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr Heinrich seiner Taten wegen leidet, wie sehr er sich nach Vergebung sehnt. Wissen Sie, Katrin, wir sind einzig nach Deutschland zurückgekehrt, damit Heinrich um Verzeihung bitten kann.«
Katrin wurde zunehmend unwohl in ihrer Haut und ihre Kehle staubtrocken.
»Erst kürzlich wurde uns zugetragen, dass Maria Rosenberg noch am Leben ist. Sie hat eine Enkelin und beide leben hier in dieser Stadt. Seit Heinrich davon weiß, hat er nur mehr einen Wunsch. Er möchte sie treffen, um sich erklären zu dürfen. Danach wird er sich den Behörden stellen und alles annehmen, was entschieden wird.«
Katrins Gedanken galoppierten nun derart schnell, dass sie große Mühe hatte, nicht den Überblick zu verlieren. So hatte sie es sich nicht vorgestellt, damit hatte sie nicht gerechnet.
»Katrin, uns bleibt kaum mehr Zeit. Ich gehe davon aus, dass sie uns bald schon hier finden werden. Es war alles andere als leicht, müssen Sie wissen, unbemerkt nach Deutschland zu kommen.« Jetzt schienen ihre Gefühle die alte Frau zu übermannen. Tränen sammelten sich in ihren Augen, trotzdem war sie noch immer um Fassung bemüht. »Heinrich wird es alleine nicht schaffen.« Ein erstes Rinnsal bahnte sich seinen Weg über die aschfahle Wange. »Er wirkt noch immer sehr stark, aber das ist er längst nicht mehr. Heinrich ist ein gebrochener Mann und ohne Hilfe wird er es nicht durchstehen.« Unerwartet fest packten Larissas Hände jetzt zu. Sie zog sich an Katrin hoch, sah ihr direkt in die Augen. »Bitte Katrin, helfen Sie meinem Mann, die Frau zu finden!«
Auch Katrins Gesicht war tränennass, noch immer brachte sie kein Wort über die Lippen. Sie hielt fortwährend Larissas Hände und nickte. Dann sprach die alte Frau sehr schnell, so als gälte es keine weitere Sekunde zu verlieren: »Man hat uns gesagt, dass die beiden hier im Rosenweg wohnen. In Hausnummer 19. Aber das letzte Anwesen der Straße trägt Nummer 18, darüber hinaus gibt es kein weiteres Haus. Katrin, ich kann Heinrich nicht mehr zur Seite stehen, ich habe nicht länger die Kraft dafür.«
In direktem Widerspruch dazu, hielt sie Katrins Hände so fest umklammert, dass es weh tat. Sie zog sich weiter vom Bett hoch, so dass ihr gesamter Körper vor Anstrengung zu zittern begann und Katrin es mit der Angst zu tun bekam. »Versprechen Sie mir, dass Sie Heinrich helfen werden! Versprechen Sie mir, ihn zu Maria Rosenberg zu bringen, damit er endlich Frieden finden kann!«
Katrin schluckte geräuschvoll, ehe sie mit kaum verständlicher Stimme antwortete: »Ja, das werde ich.«
Einige Sekunden noch hielt Larissa sich an Katrin fest, fixierte sie ihren Blick, so als wollte sie den Schwur dadurch besiegeln. Dann verschwand urplötzlich alle Kraft aus ihrem Körper und sie sackte zurück ins Kissen. So kraftvoll intensiv sie eben noch um Katrins Hilfe gekämpft hatte, so beängstigend reglos lag sie nun da. Katrin fürchtete schon, sie wäre gestorben, aber dann sah Larissa Liebherr wieder zu Katrin auf und bat mit schwacher Stimme, sie möge Heinrich zu ihr bringen.


15

»Wie stellen Sie sich das vor? Glauben Sie allen Ernstes, dies ist der Ort für persönliche Rachegelüste?« Eine Pfeife stopfend saß Standartenführer Günter Stahl hinter seinem raumfüllenden Schreibtisch. »Sie wollen diese Juden tot sehen«, fuhr er fort und steckte die Pfeife an, »das lobe ich mir. Aber das allein reicht nicht. Sollten Sie es jedoch ernst damit meinen und sich bereit erklären, dem großen Ganzen zu dienen«, er beugte sich weit über den Schreibtisch und atmete Heinrich dicke Rauchschwaden entgegen, »verspreche ich Ihnen, werden Sie ihre Gelegenheit bekommen.«
Heinrich Liebherr saß dem Respekt einflößenden Mann erschöpft gegenüber. Es hatte ihn viel Zeit, allen Einfluss der Familie und eine beachtliche Summe Geld gekostet, zu ihm vorgelassen zu werden. Aber die Frau, die seit diesem schrecklichen Tag das Haus mit ihm teilte, war ein anderer Mensch geworden. Und Heinrich wünschte nichts dringlicher, als seine Larissa zurückzugewinnen. Dafür war er bereit, alles zu tun.
»Was erwarten Sie von mir?«, fragte er Standartenführer Stahl.


16

Ich hätte nicht gedacht, dass ich das Auto noch einmal wieder sehe. Aber es besteht kein Zweifel, es ist dasselbe leuchtend rote Coupé, da bin ich mir absolut sicher. Ein kleiner, dicklicher Mann, im ölverschmierten Overall, befestigt eben den Haken einer Seilwinde an der Front des Wagens. Offensichtlich soll er abtransportiert werden. Neben ihm steht eine skeptisch dreinblickende, sehr alt wirkende Frau und lässt ihn keine Sekunde aus den Augen.
Ein Ford, komisch. In meiner Erinnerung war es immer ein Benz oder BMW, irgendetwas Nobles. Dabei ist der Ford nobel – ich mag alte Autos.
»Und Sie bringen mir den Wagen sicher am Dienstag wieder?« Die alte Frau brüllt ihre Frage so laut, dass ich sie problemlos verstehen kann, obgleich ich ein gutes Stück vom Haus entfernt stehe.
»Ja, am Dienstag. Sie können sich auf mich verlassen«, schreit der Mechaniker zurück.
»Warum brüllen Sie so? Ich kann sie gut verstehen!«
Gut möglich, dass die schreiende Frau, die Frau von damals ist. Dieselbe Frau, mit der ich mich als Kind hier am Gartenzaun unterhalten habe. Genauso gut könnte sie jedoch auch jemand vollkommen anderes sein. Vielleicht hat sie das Haus, samt Ford in der Garage, vor Jahren gekauft.
Der Abschleppwagen rollt mit dem roten Auto am Haken vom Hof und die Frau schaut ihm nach. Mir kommt ein alter Film in den Sinn und dann, dass ich Hunger habe.


17

Geld bewirkte unter Umständen die Freistellung vom Dienst. Ein Privileg, für das manch einer buchstäblich den rechten Arm gegeben hätte. Geld ermöglichte aber auch den Beginn einer Offizierslaufbahn, ohne jemals zuvor gedient zu haben.
Am 1. September 1944 bezog Heinrich Liebherr, frisch ernannter Obersturmbannführer, Quartier in Niederhaidenheim. Einzig Standartenführer Stahl unterstellt, hatte er vollkommen freie Hand, weitreichende Befugnisse und scheute sich nicht, von der neu erworbenen Macht umfassend Gebrauch zu machen.
Unter dem Einfluss Obersturmbannführer Liebherrs wandelte sich das bis dahin unbedeutende Außenlager Niederhaidenheim in kürzester Zeit zu einem der gefürchtetsten Lager überhaupt. Denn obgleich Standartenführer Günter Stahl fortwährend versprach, dass sowohl die Sternmanns als auch die Rosenbergs zu ihm nach Niederhaidenheim verlegt werden würden, forderte er Beweis um Beweis, dass Heinrich nicht vorrangig auf persönliche Rache aus war.

Jeden Morgen ließ Heinrich vollzählig antreten. Vollkommen gleichgültig, ob Greis oder Kind, krank oder halb tot. Alle hatten pünktlich Aufstellung zu nehmen, ohne jede Ausnahme.
Was den Mann dazu trieb, blieb Heinrich ein Rätsel. Warum er all das von ihm verlangte und warum er ihn dabei vorschob. Jeder im Lager glaubte, Liebherr sei der Sadist. Einzig Heinrich wusste, dass er lediglich Spielball war, zumindest die meiste Zeit über. Manchmal jedoch, wenn ihm alles zu viel wurde, wenn er sich am Ende seiner Kraft glaubte, kamen ihm die haarsträubenden Befehle des Standartenführers gerade recht. Dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen und glaubte selbst daran, dass die Juden an allem Schuld trügen. So wie an jenem Freitag, als 432 Gefangene zum Morgenappell antraten und zwei fehlten. Larissa hatte während des Frühstücks fortwährend auf Heinrich eingeredet. Er sei eine Marionette, er müsse endlich etwas unternehmen, damit die Mörder ihrer Tochter ihrer gerechten Strafe zugeführt würden.
Der Verantwortliche der Baracke, aus welcher die beiden Gefangenen abgängig waren, schwor bei seinem Leben, dass beide tot auf ihren Pritschen lägen. Im Grunde war dies nichts Außergewöhnliches, zudem leicht zu überprüfen. Nur war Heinrich an diesem Morgen so voll von Selbsthass, so blind vor Wut obgleich seiner Ohnmacht, dass er keine Vernunft hatte gelten lassen. Anstatt jemanden zu der Baracke abzukommandieren, griff er zum Megafon und blaffte: »Jede Sekunde, die ihr euch versteckt haltet, werde ich einen euresgleichen erschießen!« Er zog seine Walther aus dem Holster, zielte auf den Kopf einer Frau und drückte ab. Dann ging er einen Schritt weiter, richtete die Waffe auf das Gesicht eines Mädchens und feuerte erneut. Schritt um Schritt ging er die Reihe entlang, Patrone um Patrone erschoss er einen nach dem anderen. So lange, bis der Schlitten seiner Pistole ein letztes Mal zurückschnellte und offen stehen blieb. Heinrich schob die Waffe zurück ins Holster, wandte sich um und lief wortlos zur Wachbaracke. Dort angekommen, empfing ihn kopfschüttelnd und süffisant grinsend Standartenführer Stahl. Heinrich ließ ihn links stehen, ging schnurstracks zur Waffenkammer. Mit einem Maschinengewehr in Händen verließ er Sekunden später die Baracke.
Einundzwanzig weitere Menschen verloren an jenem Morgen ihr Leben, ehe Standartenführer Stahl höchstselbst Heinrich das Gewehr aus den Händen riss.
Wenig darauf zählte Niederhaidenheim sechs neue Gefangene.


18

»Dass du Jüdin bist, hast du nie erwähnt.«
»Du hast nie danach gefragt.«
»Na ja, man zieht ja auch nicht los und fragt irgendjemanden, ob er Jude ist.«
»Aha. Aber man unterhält sich so über Dies und Das und sagt dann beiläufig: Ach übrigens, ich bin Jüdin.«
Ich kaue mein Essen und grinse Sara an. Sieht sicher sehr sexy aus, ich sollte es lassen.
»Ist das ein Problem für dich?«, fragt sie und sieht mich mit diesem speziellen Blick an. Bist du dumm, Forest?, fragt dieser Blick und ist in ihrem Fall mehr Feststellung als Frage.
»Nein. Wieso?«, sage ich und grinse eine weitere Gabel voll in mich hinein.
»Wie kommst du da jetzt drauf?«
»Keine Ahnung, war diese Katrin mal wieder hier?«
»Die hat dir gefallen, hm?«
»Was? Quatsch.«
»Warum? Sie ist doch eine tolle Frau, und wenn sie dir nicht mehr aus dem Kopf geht, dann–«
»So ein Bullshit! Nur weil ich da eben dran denken musste, heißt das noch lange nicht, dass sie mir im Kopf rumspukt!«
»Aha.«
»Was, aha?«
»Nichts.«
»So ein Bullshit! Und außerdem ist sie ein Kind! Was sollte ich bitte mit einer Zwanzigjährigen?«
»Was regst du dich dann so auf?«
»Ich reg mich nicht auf!« Ja, was rege ich mich eigentlich so darüber auf? Die Vorstellung ist absurd und bis eben hatte ich tatsächlich nie daran gedacht.
Sara grinst mich an, dann dreht sie sich zu ihren Töpfen um.
Wie kommt sie darauf? Ist mir da etwa was entgangen? War Katrin am Ende scharf auf mich und ich zu blöd, es zu bemerken? Bullshit! Wahrscheinlich ist Sara ganz einfach eifersüchtig.
»Was denkt ein Jude, wenn er zu einer Grillparty eingeladen wird?«
»Keine Ahnung, verrate es mir«, sage ich – ich mag ihren dunkelschwarzen Humor.


19

Als es endlich so weit war, blieb die Befriedigung aus. Vielleicht weil ihr Tod zu unpersönlich war, vielleicht weil es so lange gedauert hatte oder so viele vorausgingen.
Larissa Liebherr betrat zum ersten und einzigen Mal solch einen Raum, der Gestank war unerträglich. Ein Taschentuch auf Mund und Nase haltend, stieg sie über nackte Leiber, Heinrich blieb am Eingang zurück. Die beiden Buben zu finden war einfach, es waren die einzigen Kinderleichen im Raum. Zu Larissas Überraschung lagen sie nicht bei ihrer Mutter. Wenig später fand sie Zilla Sternmann an der Wand gegenüber, in den Armen der Großmutter. Zuletzt entdeckte sie Ruben. Er lag auf dem Bauch, das verzerrte, blauschwarze Gesicht zur Seite gewandt. Larissa betrachtete ihn minutenlang, aber ihr Schmerz wurde dadurch um nichts geringer. Enttäuscht wandte sie schließlich den Blick ab und ging hinaus.
Vielleicht hätte sie ihn foltern lassen oder gar eigenhändig umbringen sollen. Vielleicht sollte sie ihm jetzt noch mit dem Stiefel ins Gesicht treten, aber insgeheim wusste Larissa, dass nichts davon helfen würde. Als sie beim Hinausgehen den Blick ihres Mannes einfing, meinte sie lediglich: »Und jetzt die Rosenbergs.«


20

Samstag Abend würde sie nach Köln zurückfahren und Katrin wurde das Gefühl nicht los, auf ganzer Linie versagt zu haben. In der Badewanne ihres Hotelzimmers liegend tauchte sie zum wiederholten Mal mit dem Kopf unter und genoss die dumpf pochende Stille. Mit jedem Treffen war ihre Verwirrung angewachsen und jetzt wusste sie endgültig nicht mehr, was sie von alldem halten sollte. Abgesehen davon bereute sie mehr und mehr, ihre gesamten Ersparnisse für diese fixe Idee aufgebraucht zu haben.
Der Trick war einfach: Untertauchen und zählen, wie lange man aushalten kann. Normalerweise ein verlässliches Mittel, das lästige Gedankenkarussell einen Moment lang verstummen zu lassen. Aber heute wollte es nicht gelingen und allmählich wurde das Badewasser kalt. Katrin stieg aus der Wanne, trottete tropfend durchs Zimmer und legte sich direkt ins Bett.
Unangenehm klebte das Laken nasskalt an ihrem Körper, obendrein roch es modrig. Katrin stiegen Tränen in die Augen, als sie aufstand und zur Minibar ging. Neben Cola, Sprite und Wasser in 0,33er Dosen, fand Katrin je ein Fläschchen Rum und Cognac. Nackt und mit übereinandergeschlagenen Beinen kostete sie auf dem Boden sitzend von beiden, ehe sie jäh aufsprang, weil sie sich plötzlich vor dem schmuddeligen Teppich ekelte.
Minuten später lag Katrin erneut in frischem, dampfendem Badewasser und tauchte ihren Kopf unter die Wasseroberfläche.


21

Hanna und Rachel Rosenberg trafen etwas später, mitten in der Nacht in Niederhaidenheim ein. Woche um Woche hatte Standartenführer Stahl Heinrich hingehalten, Woche für Woche hatte der die Insassen des Lagers gequält und dezimiert.
An einem Sonntag, weit nach Mitternacht, wurden die schwangere Frau und ihre Tochter aus dem Zug auf die Pritsche eines Kleinlasters verladen und dann ins Lager abtransportiert. Exakt um 0:52 Uhr informierte Rottenführer Ferdinand Harrer Larissa Liebherr über die Ankunft der neuen Gefangenen.

Hanna konnte nicht verstehen, was vor sich ging. Nach all den Entbehrungen und Widrigkeiten vieler Wochen, als es endlich den Anschein hatte, nun würde sich doch noch manches zum Guten wenden, wurden sie plötzlich abgeholt.
Lange Zeit hatte sie nicht begreifen können, warum ausgerechnet der Mann, der sie unzählige Male vergewaltigt und misshandelt hatte, letzen Endes ihre einzige Hoffnung auf eine Zukunft sein sollte. Erst als sie vollends akzeptierte, dass ihr Tod und der ihrer beiden Töchter die einzig wahrscheinliche Alternative darstellte, sah sie den Mann mit anderen Augen, begegnete sie ihm mit weniger Widerwille. Unzählige Male weinte sie sich in den Schlaf. Doch je fügsamer sie sich zeigte, desto seltener wurden seine Übergriffe. Am Ende hatten sie sich derart arrangiert, dass die Freude, am Leben zu bleiben, die Qualen überwog.
Vor einer Woche wendete sich das Blatt erneut. Rüdiger Stahl trank mehr als üblich und verbrachte die Abende außer Haus. Die häufigen Einbestellungen bei seinem Bruder verhießen nichts Gutes. An einem Samstag kam er ungewöhnlich früh nach Hause und Hannas Welt brach einmal mehr auseinander.
»Es tut mir leid«, flüsterte er kaum verständlich, als die Soldaten kurz nach ihm das Haus betraten. »Das ist alles, was ich jetzt noch für dich tun kann«, waren seine letzten Worte, ehe er mit Maria auf dem Arm das Haus verließ.

Später führte man Hanna und Rachel in einen großen ungeheizten Raum und ließ sie allein. Mutter und Kind waren müde und froren. Der Raum war blendend hell erleuchtet und vollkommen leer. Hanna wollte sich eben mit der Kleinen auf den Fußboden legen, als plötzlich eine Tür aufschlug.


22

»Wieso kannst du mir nicht einfach sagen, wo du wohnst?«
»Na weil ich dich dann auf der Stelle töten müsste.«
»Haha.«
»Wochenlang kommst du mich besuchen, bisher hat es dich nicht interessiert. Warum ist es ausgerechnet jetzt so wichtig für dich?«
»Ist es nicht. Ich hätte es einfach gern gewusst. Aber wenn du ein Geheimnis daraus machen möchtest, bitte!«
»Na wenn es dir nicht wichtig ist, brauch ich’s ja nicht zu sagen.«
»Du verstehst es wirklich, einem das Wort im Mund umzudrehen!«
»Oh, jetzt schmollt es.«
»Es schmollt überhaupt nicht! Und wen interessiert schon, wo eine wie du wohnt!«
»Eine wie ich? Was willst du damit sagen?«
»Nichts will ich damit sagen! Ich wollte lediglich–«
»Na was? Nur zu! Sag schon, was wolltest du damit sagen?«
»Nichts, verdammt! Ich wollte damit gar nichts sagen!«
»Was? Hm? Eine Hure? Wolltest du sagen, eine Nutte, wie ich?«
»Was! Sag mal spinnst du jetzt komplett?«
Sara bricht in ihr wieherndes Lachen aus und kriegt sich überhaupt nicht mehr ein.
Für einen Moment hat sie mich echt drangekriegt. Sie kann so verdammt überzeugend sein.
»Soll ich dir denn nun verraten, wo ich wohne?«, fragt sie mit kindlich verstellter Stimme, nachdem sie mich hinreichend ausgelacht hat.
»Steck's dir sonst wo hin!«, keife ich und zum erstes Mal finde ich ihr Lachen zum Kotzen.


23

Mit Ruben hatte sie sich getäuscht, Hanna zu demütigen half sehr wohl.
»Hast du ernsthaft geglaubt, mich niemals mehr wieder zu sehen?«
Hanna saß auf ihren Knien und hatte die Arme wärmend um Rachel gelegt.
»Wo ist das andere Mädchen?«, wollte Larissa Liebherr jetzt wissen.
»Maria?«, stieß Hanna erschrocken aus.
»Ja, Maria«, wiederholte Larissa kalt.
Hanna kamen die Tränen, aber sie reagierte sofort: »Sie hat es nicht geschafft«, sagte sie wenig überzeugend. »Maria ist tot.«
»Ach«, meinte Larissa. Sie kam einen Schritt näher und betrachtete Mutter und Kind eingehend. Hanna wirkte niedergeschlagen und verletzbar, erweckte jedoch nicht den Eindruck, als hätte sie die Zeit seit damals in einem Lager verbracht. Allein die Kleider, die die beiden am Leib trugen, gute Schuhe und ein warmer Mantel, sprach gegen eine Internierung. Darüber hinaus schienen Mutter und Tochter wohl genährt. »Du lügst!«, blaffte Larissa und kam noch näher.
»Nein!«, widersprach Hanna vehement, »das ist die Wahrheit!«
»Ach«, sagte Larissa wieder und baute sich direkt vor Hanna auf. Dass sie log, war offensichtlich, für den Moment jedoch nicht wichtig. Eine andere Sache interessierte Larissa weit mehr. Viele Wochen waren seitdem vergangen, und wenn Hanna noch immer schwanger war, sollte man ihren Bauch jetzt deutlich sehen können. Aber so, wie sie auf dem Boden kauerte, das Kind eng umschlungen vor sich haltend, konnte Larissa nichts erkennen. »Steh auf!«, befahl sie, und weil Hanna nicht augenblicklich folgte, rief sie nach der Wache. »Stellen Sie die Frau auf die Beine und nehmen sie ihr das Kind weg!«
»Nein!«, schrie Hanna, sprang auf und stellte sich schützend vor ihre Tochter. Ein Soldat kam heran und blieb unentschlossen stehen. Rachel, die bis eben erstaunlich ruhig gewesen war, weinte nun lauthals und klammerte sich verängstigt an ihre Mutter.
Dann sah sie es.
»Stopp!«, rief Larissa, »lassen Sie ihr das Kind.«
Der Mann wirkte erleichtert und verschwand augenblicklich.
»Du hast es also noch«, sagte Larissa sehr leise und ihre Stimme klang weit weniger bedrohlich, eher traurig. Automatisch fasste Hanna an ihren Bauch, zog die Hand jedoch sogleich wieder zurück. In diesem Moment verstand sie, worum es Larissa ging. Hanna blickte auf Larissas Mitte und erkannte, dass dort kein Leben mehr gedieh.
Larissa, die Hannas Blick gefolgt war, wirkte mit einem Mal verunsichert. Sie trat von einem Bein aufs andere und ihre kühle Selbstsicherheit flackerte und wandelte sich dann rasch zu Zorn. Als Hanna das erkannte, begriff sie vollends ihre Situation und bekam schreckliche Angst.
Aber neben der Furcht, die sich deutlich von Hannas Gesicht ablesen ließ, glaubte Larissa auch Trotz oder gar Stolz darauf zu erkennen. Und tatsächlich hatte sie Recht damit. In Hanna entbrannte zur gleichen Zeit auch ihr Kampfgeist. Nach allem, was sie zuletzt über sich hatte ergehen lassen müssen, nach all den Qualen und Erniedrigungen, wollte sie jetzt nicht ohne weiteres vor dieser Frau kleinbeigeben. Hanna richtete sich zu voller Größe auf, bog den Rücken durch und legte ihre Linke demonstrativ an ihren Bauch. Das war eindeutig zu viel.
Einen einzigen Wimpernschlag später brannten Larissa alle Sicherungen durch und sie schlug Hanna ohne Vorwarnung mit ungeahnter Wucht ins Gesicht. Und noch ehe Hanna in irgendeiner Form darauf hätte reagieren können, brandete ein wahrer Hagel an Schlägen auf sie ein, dem sie wenig entgegenzusetzen hatte. Mit Händen und Füßen schlug und trat Larissa wie von Sinnen auf Hanna ein. Minutenlang, bis es plötzlich geschah.
Rachel wurde während des ungleichen Kampfes umhergewirbelt, geriet zwischen die beiden Frauen und verlor das Gleichgewicht. Unglücklicherweise stürzte das Mädchen ausgerechnet in dem Moment, als Larissa mit aller Kraft zutrat. Ihr Stiefel traf das Kind hart an der Stirn, schleuderte es nach hinten. Allein der Tritt verletzte das Kind schwer. Der Aufprall auf dem unnachgiebigen Fußboden war verheerend. Rachel schlug ungebremst mit dem Hinterkopf auf den steinernen Bodenkacheln auf und blieb reglos liegen.
Hier endete der Kampf.
Hanna heulte auf, wie ein verwundetes Tier. Sie riss sich von Larissa los und stürzte zu ihrem Kind.
Mit blutverschmierten Händen blieb Larissa zurück. Ihr Leib zitterte haltlos vor Anstrengung, Entsetzen zeichnete eine hässliche Fratze auf ihr schweißnasses Antlitz. Fassungslos musste sie mit ansehen, wie Hanna Rachel dicht zu sich zog, wie sie ihre Tochter küsste, streichelte und schüttelte. Aber das kleine Mädchen rührte sich nicht mehr.


24

Der hölzerne Anbau war ihr der liebste Ort. Hier hatte ihr die Mutter vorgelesen, hier hatte sich die Familie zu besonderen Anlässen zusammengefunden. Heute beherbergte er eine Vielzahl von Blumenstöcken und Unmengen an Staub. Sara machte das nichts aus, und die Großmutter setzte seit damals keinen Fuß mehr hier herein. Zweiunddreißig Jahre würden es am Ende des Monats sein, allmählich verblassten Saras Erinnerungen daran. Neben dem Sessel türmten sich alte Fotoalben, Staub hüllte sie ein und bewahrte sie auf. Sara kannte jedes einzelne Bild, jedes Detail. Sie musste nur ihre Augen schließen, schon hatte sie alles vor sich. Vielleicht hatte sie sich die Aufnahmen zu oft angesehen. Jetzt war es nur mehr Papier, Geschichten erzählten sie keine mehr.
Schon eher dieser Raum.
Die kahle Glühbirne ohne Schirm. Sara hatte die Leiter gehalten und ihre Mutter spontan entschieden, dass der Lampenschirm dem Teddy weit besser stehe. Noch heute thront er auf dessen Kopf. Oder die einzelne Stufe, die in den Raum führt, auf welcher sie, weiß Gott wie oft, gesessen und der Mutter gelauscht hatte.
Und nicht zuletzt der Geruch.
Gerüche scheinen ohnehin eine weit längere Halbwertszeit als Bilder zu besitzen. Stunden, Tage oder gar wochenlang könnte Sara hier sitzen, angestrengt nachdenken und die alten Alben wälzen. Wahrscheinlich würde sie sich an manches erinnern, vielleicht hätte sie dann sogar längst vergessen Geglaubtes wieder vor Augen.
Aber manchmal, einfach so, ohne jede Ankündigung oder Vorwarnung, hatte sie plötzlich diesen Duft in der Nase, der alles zurückbrachte. Dann hatte sie nicht nur Bilder vor Augen, dann empfand Sara genau so, wie sie als Kind empfunden hatte. Dann spürte sie die Geborgenheit und Wärme wieder, die seit dem Unglück verloren gegangen waren. Mit geschlossenen Augen, bewegungslos im alten Sessel, Glückseligkeit im Herzen.
Ob dieser Zustand Minuten oder nur Sekunden währt, kann Sara nicht sagen. Aber Stunden, Tage oder auch Wochen dafür still im Sessel zu sitzen und darauf zu hoffen, lohnt allemal.


25

Erneut fühlte sie sich betrogen. Denn seit dem Tod der Tochter war Hanna vollkommen gleichgültig. Sie aß nur unter Zwang, wusch sich nicht und war binnen weniger Wochen so abgemagert und verwahrlost, dass sie kaum wiederzuerkennen war. Larissa ließ sie schlagen, vergewaltigen und auf jede erdenkliche Weise foltern, die ihr in den Sinn kam. Aber es nutzte nichts, Hanna war längst tot. Gestorben, als Rachel starb und sie das Ungeborene verlor. Am Ende erschlugen sie drei Männer mit Stöcken und Larissa sah dabei zu. Mehrfach musste sie sich übergeben, machte sich in die Hose, wandte den Blick jedoch für keine Sekunde ab. Es war grotesk, die Männer hätten ebenso gut auf einen leblosen Kadaver eindreschen können, Hanna zeigte nicht die geringste Reaktion. Zuletzt verweigerte Larissa Hanna sogar die Beisetzung in einem der Massengräber. Was von ihr übrig war, ließ sie in den Trog im Schweinestall werfen. Als Heinrich davon erfuhr, sprach er tagelang kein Wort mit seiner Frau. Wenig später desertierte er und sie flohen nach Zentralamerika.


26

»Er ist es tatsächlich!«
»Kein Scheiß?«
»Kein Scheiß!«
»Wo ist er?«
»Draußen.«
»Du lässt ihn draußen auf der Straße stehen?«
»Er wollte nicht reinkommen, er wartet in seinem Wagen.«
»Und jetzt? Soll ich ihm das Ding etwa rausbringen?« Der Große zuckte lediglich mit den Schultern und grinste den Kleineren an. Darauf legte der die Stirn in Falten und schien angestrengt nachzudenken. »Und er ist es ganz sicher?«, erkundigte er sich noch einmal bei seinem Gegenüber.
»Einhundertprozentig!«, bestätigte der, ohne zu zögern.
»Okay, gehen wir!«
Die beiden kahl geschorenen Männer gingen Seite an Seite nach draußen.
»Welcher ist es?«
»Der dunkle Mercedes da.«
Beim Wagen angekommen, öffnete sich wie von Geisterhand die Tür im Heck der Limousine und die beiden Männer stiegen ein.
»Obersturmbannführer Liebherr, es ist mir eine Ehre!«, brüllte der kleinere, unmittelbar nachdem er die Tür zugezogen hatte. Heinrich musterte ihn einige Sekunden im Rückspiegel, ehe er sich zu den beiden umdrehte. Die Männer salutierten und gaben ein recht albernes Bild ab, da sie auf der Rückbank sitzend stramm zu stehen versuchten.
»Habt ihr sie hier?«, fragte Heinrich Liebherr ohne Umschweife, er wollte die beiden so schnell, wie möglich, aus dem Auto haben.
»Sicher!«, antwortete der Kleinere und zog die Walther PP wie ein billiger Fernsehganove aus dem Hosenbund. Heinrich bemerkte sofort, dass die Waffe nicht gesichert war, als der Dummkopf den Lauf in seine Richtung hielt.
»Ist sie geladen?«, fragte er ruhig und sah ihm direkt in die Augen.
»Sicher, das Magazin ist voll, plus eine in der Kammer.« Heinrich griff in sein Jackett und zog ein Bündel Geldscheine hervor.
»Nein nein!«, mit der Pistole in Händen fuchtelte der Glatzkopf abwehrende Gesten, »das ist ein Geschenk, Obersturmbannführer.«
»Sechstausend«, entgegnete Heinrich ungerührt, »wie vereinbart.« Er reichte ihm das Geld und nahm die Waffe.
»Darf man erfahren«, wollte nun der Größere von beiden wissen, »was Sie damit vorhaben?«
»Darf man nicht. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Heinrich wandte sich wieder nach vorn, legte beide Hände ans Steuer und wartete. Im Rückspiegel erkannte er, dass er die Männer gekränkt hatte. Ihr Grinsen war verschwunden, jetzt schauten sie finster drein. Etliche Sekunden starrten sie düster auf seinen Hinterkopf, ohne sich von der Stelle zu rühren. Auf dem Beifahrersitz wartete griffbereit die Walther.
Dann stiegen sie unvermittelt aus und gingen ohne ein weiteres Wort davon. Heinrich Liebherr startete den Wagen und fuhr los.

»Hast du hinten abgeschlossen?«
»Ja, noch immer.«
»Oh, hab ich dich das schon gefragt?«
»Mhm«, mache ich und lege Sara beide Hände auf die Schultern, »Du schaffst das! Glaub mir, du schaffst das schon.«
»Mir ist schlecht«, erwidert Sara, und in der Tat sieht sie nicht gut aus. »Die halbe Nacht habe ich kein Auge zugetan, und als ich endlich schlafen konnte, habe ich nonstop von dieser verdammten Prüfung geträumt!«
»Komm«, sage ich und lächle ihr aufmunternd zu, »wir müssen los. Du möchtest doch nicht zu spät kommen, oder?«
»Ist mir egal!«, sagt sie trotzig und rührt sich nicht vom Fleck.
»Na jetzt komm aber!« Ich nehme sie bei der Hand und ziehe sie mit mir. Sara legt den Kopf schief und trottet widerwillig hinterdrein. Nach wenigen Schritten jammert sie abermals: »Mir ist schlecht.«

Heinrich gab den Leihwagen zurück und fuhr dann mit dem Bus zur in die Innenstadt. Es war 10 Uhr morgens, in etwa einer halben Stunde würde er sich mit Katrin treffen, die zugesagt hatte, sich im Rathaus nach Hausnummer 19 zu erkundigen. Für Heinrich wäre der Gang zu den Behörden viel zu riskant gewesen.

»Also gut, du gehst da jetzt rein und beantwortest in aller Ruhe die Fragen.«
»Ich kann das nicht!«
»Aber klar doch!«, entgegne ich so zuversichtlich, wie man nur klingen kann. »Wenn es darauf ankommt, ist man immer besser!«
»Glaubst du das wirklich?«, fragt Sara kleinlaut. Inzwischen ist sie, was ich nicht für möglich gehalten hätte, noch blasser geworden.
»Aber klar doch!«, sage ich im Brustton der Überzeugung, »wirst schon sehen!« Insgeheim gebe ich ihr bestenfalls fifty-fifty. »Okay«, sage ich und ringe mir ein weiteres Lächeln ab, obwohl mir ihr albernes Gezeter allmählich mächtig auf die Nerven geht. »Ich warte gleich da drüben in dem Café. Und wenn du–«
»Mir ist schlecht!«, fällt sie mir ins Wort und mir platzt der Kragen. »He!«, fahre ich sie an, »das will ich jetzt nicht noch einmal von dir hören!«
»Aber ich bin so verdammt nervös«, sagt sie und es hat den Anschein, als würde sie gleich losheulen, »ich glaube, ich muss sterben!«
»Das musst du ganz sicher nicht«, beschwichtige ich und schon tut es mir leid, dass ich sie angeschrien habe. »Jetzt hör bitte mit dem Blödsinn auf und–.«
»Aber ich –«, unterbricht sie mich wieder, senkt den Blick und lässt ihren Satz unvollendet.
»Du schaffst das«, behaupte ich einmal mehr und diesmal klingt es, als würde ich tatsächlich daran glauben. Ich mache den einen notwendigen Schritt auf Sara zu und nehme sie in meine Arme. Dankbar lehnt sie sich bei mir an, ohne jedoch die Umarmung zu erwidern. Eine kleine Ewigkeit bleiben wir einfach so stehen und gegen alle Erwartung ist mir nicht unwohl dabei. Mein Kopf leert sich zusehends und es fühlt sich wirklich gut an.
»Ich glaube«, sagt Sara dann leise, »ich muss jetzt reingehen.« Dabei macht keinerlei Anstalten, sich von mir zu lösen.
»Ja«, sage ich schließlich einsilbig und lasse sie los.

»Guten Morgen Katrin, wie geht es Ihnen heute?«
»Hallo, danke, es geht mir gut.« Katrin sah dem alten Mann an, dass es ihm nicht gut ging, daher beschloss sie, ihn gar nicht erst danach zu fragen. »Wie geht es Ihrer Frau? Besser?«
»Nein, leider nicht, ganz im Gegenteil.«
Es gibt einen wirklich guten Grund, warum man auf solch eine Frage nicht wahrheitsgemäß antworten sollte. Was soll der Fragesteller dazu sagen? Katrin schämte sich ihrer Gedanken wegen und sagte überhastet: »Das tut mir leid, sollen wir jetzt zum Rathaus gehen?« Ohne auf Antwort zu warten, wandte sie sich zum Gehen und Heinrich schloss kommentarlos zu ihr auf.

Gleich neben dem Café gibt es ein Blumengeschäft. Ich kaufe rote Rosen und gebe sie eine Minute später zurück. Ich tausche sie gegen leuchtend gelbe Lilien und verlasse, das Getuschel der Verkäuferinnen überhörend, den Laden. Den Blumenstrauß betrachtend bewege ich mich gedankenverloren in Richtung Café und stoße beinahe mit Katrin Arnold zusammen, die sich eben zu ihrem Begleiter umgewandt hatte. »Entschuldigung!«, rufe ich automatisch und bleibe verdutzt stehen, als ich sie erkenne. »Katrin? Du bist doch Katrin, oder? Was für ein Zufall!«
»Ja, ich meine–, hallo.«
»Ja, hallo! Schön, dich wieder zu sehen!«, lüge ich, wenn das lügen ist, denn im Grunde ist es mir egal.
»Ja«, sagt sie wieder und sieht mich an, als hätte ich sie beim Klauen erwischt. Erst da fällt mir ihr Begleiter auf.

»Natürlich benötigen wir Ihren Ausweis! Sonst könnte ja sonst wer die Prüfung ablegen.«
»Ja, sicher, Entschuldigung! Aber ich habe es nicht weit, ich bin gleich zurück! Okay?«
»11 Uhr! Wir beginnen pünktlich um 11!«
»Ja, danke, kein Problem, das schaffe ich!« Sara eilt zum Ausgang und rennt nach Hause.

Ich mustere den groß gewachsenen Mann für Sekunden, dann strecke ich ihm meine Hand entgegen und sage: »Thomas Gärtner.«
Katrin bleibt der Mund offen stehen, aber der Mann scheint unbeeindruckt. Er nimmt meine Hand und erwidert freundlich: »Josef Arnold. Katrins Großvater.«
Ja genau! Einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, ob ich das eben gedacht oder doch laut gesagt habe.
»Ja«, sagt Katrin wieder, »wir müssen dann auch los. Wir haben es eilig.«
»Ah«, mache ich, »dann will ich euch nicht länger aufhalten.«
»Ja, wir müssen zum Rathaus. War schön, dich wieder zu sehen.«
»Die haben zu«, verkünde ich prompt und in zu deutlich schadenfrohem Tonfall. »Da bin ich mir ganz sicher«, ergänze ich rasch und viel zu ausführlich, »weil ich erst kürzlich mit Sara dort war und da haben die uns das gesagt, also dass kommende Woche, also diese, also dass sie zu haben und so.« Und wie ich noch darüber nachgrübele, warum ich es sagte, wie ich es sagte, fällt mir auf, dass die Gelassenheit von Großvaters Gesicht verschwunden ist und Katrin ihn ansieht, als hätte ich ihm Krebs diagnostiziert.

Beim Haus angekommen, springt Sara aus vollem Lauf über den niedrigen Gartenzaun, was ihr wundersamerweise auch gelingt, und ein kurzlebiges Lächeln auf ihr Gesicht zaubert. Völlig außer Atem nestelt sie die Schlüssel aus der Hosentasche, öffnet die Tür und eilt hinein.

Wortlos stehen mir die beiden gegenüber und ich werde das Gefühl nicht los, etwas wieder geradebiegen zu müssen. »Was wolltet ihr denn dort?«, frage ich zwangsläufig.
»Nur eine Auskunft«, antwortet mir Katrin, heftet ihren Blick jedoch weiter auf den Mann an ihrer Seite.
»Na dann fragt mich doch«, höre ich mich sagen und dämlich grinsend ergänzen: »vielleicht kann ich ja–«
»Rosenweg, Hausnummer 19.«
Mein Grinsen erstirbt und ich verstumme, weil der hoch gewachsene Mann weit näher an mich herantritt, als mir lieb ist, und noch einmal fragt: »Wissen Sie, wo Rosenweg Nummer 19 ist?«
»Nein«, sage ich und weiche einen großen Schritt zurück, »aber das haben wir gleich.« Ich ziehe mein Smartphone aus der Tasche, öffne die entsprechende App und tippe die gesuchte Adresse ein.
»Oh, Mann!«, sagt Katrin und fasst sich an den Kopf. Ich schenke ihr ein breites Machtdochnichts-Lächeln, dann starre ich ungeduldig das kreisrunde Lade-Symbol auf dem Display an.

»Oma!?« Verwundert darüber, die Großmutter nicht sogleich anzutreffen, eilt Sara in ihr Zimmer. Ihren Ausweis auf Anhieb dort vorzufinden, wo sie ihn vermutet hatte, freut und überrascht Sara so sehr, dass sich ihre Stimmung noch weiter aufhellt. Bereits wieder bei der Haustür angelangt, übermannt sie urplötzlich der Drang, das Schlafzimmer der Großmutter aufzusuchen.

»Hm, das ist ja eigenartig. Der Rosenweg ist garnicht weit von hier, aber Hausnummer 19 scheint es nicht zu geben.« Auch Katrin hält mittlerweile ihr Smartphone in Händen und kommt zum selben Ergebnis. »Tut mir leid«, wiederhole ich, »19 scheint es nicht zu geben.«
»Ja«, bestätigt Katrin.
Wieder stehen mir die beiden wortlos gegenüber und allmählich wird mir die Sache zu dumm. »Ja, ähm, ich muss dann auch weiter«, verkünde ich, weiche noch einmal etwas zurück und hebe grüßend die Hand. »Viel Glück noch!«, und, »man sieht sich«, ist alles, was mir noch einfällt, ehe ich mich umwende und rasch davongehe.

»Oma?«, Sara klopfte leise an die Tür und trat sogleich ein. »Oma, du liegst ja noch im Bett, geht es dir nicht gut?«
»Hallo Sara, Liebes, wie ist es gelaufen, hast du bestanden?« Die Stimme der Großmutter klang zittrig, ihre Augen waren glasig und sie sah überhaupt nicht gut aus. »Nein, Oma, die Prüfung war noch gar nicht, ich habe meinen Ausweis vergessen.«
»Ah«, machte die Großmutter und vermochte es nicht länger, ihr Leid zu überspielen.

Im Café nehme ich bei der großen Fensterscheibe Platz und bestelle Espresso. Zu meiner Überraschung sehe ich Katrins Großvater allein an selber Stelle stehen, von seiner Nichte weit und breit keine Spur.
So wie er da steht, gibt der alte Mann ein wahrhaft trauriges Bild ab. Im nächsten Augenblick stehe ich vom Stuhl auf, um dann wie ein Vollidiot mitten im Café unschlüssig stehen zu bleiben. Ihr Großvater, sicher!
Vollkommen verloren steht er inmitten all der geschäftig umherlaufenden Menschen. Jetzt fehlt nur mehr, dass es zu regnen anfängt, und das Bild wäre perfekt. Aber es ist ein sonniger Morgen und würde es wohl auch bleiben. Also was soll’s, scheiß drauf!

»Du hast es mir versprochen, Oma.«
»Ja, aber heute ist doch dein Tag, Liebes.«
»Oma, wenn du Schmerzen hast, musst du mir das sagen! Du hast es versprochen!«
»Das habe ich, Liebes, aber so schlimm ist es nicht.«
»Oma!, ich sehe es dir doch an.«

Als er mich kommen sieht, fällt mir etwas ein. »Das allein stehende Haus unweit des Minigolfplatzes trägt Nummer 19«, sage ich noch zwei, drei Schritte von ihm entfernt. Er starrt mich fragend an, auf seinen Wangen glänzen Tränen. »Kennen Sie den Minigolfplatz gleich vorn bei der–«
»Aber ja, den haben wir gesehen!« Er wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht und ich vermeide es, ihn direkt anzusehen. »Wenn Sie dem Weg weiter folgen, kommen Sie direkt zum Haus. Keine Ahnung, ob es–«
Er dreht sich um und lässt mich stehen. Schnellen Schrittes läuft er in Richtung Minigolfplatz und ich stehe wieder da, wie ein Idiot.
»Arschloch!«, denke und sage ich. Lässt mich einfach so stehen. Langsam gehe ich zurück zum Café und kann es noch immer nicht fassen. Dieser Mistkerl lässt mich einfach so stehen. Was glaubt er, wer er ist? Ihr Großvater, pah! Verdammtes Nazischwein!

Auch zwanzig Minuten später habe ich mich kein Stück beruhigt. Eigentlich sollte es mir egal sein, aber solche Situationen haben mir schon immer sehr zugesetzt. Geht es nur mir so oder empfinden das andere ähnlich? Und was denkt er sich dabei? Wahrscheinlich überhaupt nichts!
Einmal hat mir ein zehnjähriger Grünschnabel den Mittelfinger gezeigt und gesagt, ich soll mich verpissen. Das hing mir eine volle Woche nach und beschäftigt mich selbst heute noch manches Mal. Und wo zum Teufel bleibt eigentlich Sara!?

***
 

Matula

Mitglied
Es fällt mir sehr schwer, Deine Geschichte einzuordnen, weil sie so krass ist. Eben "Schwarzweiß" wie's im Titel steht. Am Ende habe ich mir gedacht: da will ein Autor/eine Autorin Gräben zuschütten. Warum hat er/sie sie vorher soweit aufgerissen?
Ich finde den Aufbau mit den unterschiedlichen Perspektiven recht gelungen, aber mit den Charakteren komme ich gar nicht zurecht.
Das Fräulein Katrin ist zwar noch jung und leicht zu beeinflussen, aber wie rasch sie sich von einer Greisin betören und vor den Karren spannen lässt, wundert schon sehr.
Tom und Sara sollten sich weniger über Gulasch und Führerschein, sondern mehr über ihre Ängste vor einer Beziehung unterhalten. Dass Sara mulmig ist, spürt man, dass sie Jüdin ist, wird mE ein wenig zu spät erklärt.
Und dann die eigentliche Story.
Warum Ruben, der öffenbar psychotisch dekompensiert ist, seine kleine Freundin samt Großeltern ermordet, wäre dringend zu erklären. Solche Dinge geschehen sehr selten, sofern nicht auch Drogen im Spiel sind.
Herr Liebherr mutiert vom Waschlappen zum Schlächter, angestachelt von seiner rasenden Frau, die jegliche Vernunft abgelegt hat. Ruben auf der Stelle töten oder töten lassen, wäre als Akt von Selbstjustiz noch irgendwie verständlich. Aber Sippenhaftung? Unter Einbeziehung von Ungeborenen? Wochen später? - Also ich fühle mich da überfordert, nehme aber an, dass Du auf kein Detail verzichten willst.

Schöne Grüße,
Matula

PS Es gibt kaum Fehler in Deinem Text, aber vielleicht hat er mich so in Atem gehalten, dass ich sie glatt übersehen habe.
 

Sammis

Mitglied
Hast du Kinder? Hast du Leben in dir gedeihen gespürt? Und wurde es dir dann auf solch eine Art entrissen? Ob Tage, Wochen oder auch Jahre – Zeit ist hierbei nicht von Bedeutung. Allein das ist der Kern der Geschichte, der Rest nur Rahmen. Das lässt sich für mich nur auf diese, krasse Art erzählen, somit nehme ich deinen ersten Satz als Kompliment, als Bestätigung, damit klopfst du mir auf die Schulter.

Vielen Dank für deine Zeit.
 



 
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