Lauf

„Bringt Eins Zwei Sieben in die Zelle. …Ausziehen. „Nein, nein, nein, nein, nein, nein … Am Ende lag ich in Embryohaltung auf dem Boden. … Stille. Die Dunkelheit droht mich vollends zu überwältigen…“ Paris Hilton „Mein Leben“
„D-Heim Stral… In der grauen Einzelzelle im Keller herrschte Stille. …Niemand störte mich unten auf den Steinfliesen…“
aus Silke Kettelhake „Sonja, negativ, dekadent: Eine rebellische Jugend in der DDR“
„Als sie mich erwischten, haben sie mich festgehalten und mir die schönen langen Haare raspelkurz geschnitten." Djamila Rowe über ihre Flucht aus dem Werkhof.


Das Licht erlischt, und man sieht auf der Leinwand, eine Gruppe von Mädchen in Trainingsanzügen zusammen mit ihrem Begleiter eine Straße entlanglaufen. Plötzlich löst sich eines der Mädchen aus der Gruppe und läuft mit schnellen Schritten davon. „Bleib gefälligst stehen.“ ruft der Mann ihr hinterher, und ist kurz davor, sie einzuholen. Aber sie kümmert sich nicht darum, sondern läuft schneller und schneller, bis man sie schließlich aus den Augen verliert.
Endlich muss er sich eingestehen, dass er sie nicht mehr fangen kann. Er zuckt resigniert die Achseln, und kehrt um.

Das war im Kino Babylon am Rosa Luxemburg Platz, zu Beginn der Achtziger, und es ging um Mädchen in einer geschlossenen Jugendeinrichtung in Ungarn. Mir gefiel die Aufmüpfige vom Anfang des Films, die ihnen immer wieder entwischt. Ich wollte sein wie sie.

Es bevölkern nicht allzu viele rebellische Girls die Kinoleinwand. Sie wollen wohl die Mädchen nicht aufstacheln, und kein weibliches Vorbild für Frauenprotest schaffen. „Wie ist es mit ihr weitergegangen? Vielleicht hat sie sich doch noch von einem Mann klein kriegen lassen?“ überlegte ich. Aber das glaubte ich nicht.
Jugendwerkhöfe und ihre Insassen waren ein Tabuthema. Sowas Realitätsnahes hätten sie bei uns nicht drehen dürfen. Das war in Ungarn anders, wo die Zensur schon immer alles etwas lockerer sah, und Künstler viel mehr Freiheit hatten.

Ein paar Jahre später traf ich Maggy, die sie auch in was ähnlichem eingesperrt hatten. Eigentlich hieß sie ja Margret. Der Ort ihrer frühen Leiden war der Jugendwerkhof in Burg. "Den Film hätte ich auch gerne mal gesehen." sagte sie. Was ich ihr erzählte, kam ihr alles sehr vertraut vor. „Ich kenne das.“ entgegnete sie mir verwundert. „Wir hatten auch immer Trainingsanzüge an, wenn unsere Gruppe draußen unterwegs war.“

Wer hätte ausgerechnet von Paris Hilton gedacht, dass sie sowas auch durchgemacht hat. Ihre Eltern steckten sie mit sechzehn zwei Jahre in berüchtigte private Besserungsanstalten, die Provo Canyon School und die CEDU, eigentlich nur weil sie sich nachts aus dem Staub machte und auf Raves ging.

Bis heute leidet sie sehr unter dem Horror, den sie dort erlebte. "Nachts kommt die Angst", der Titel dieses Films trifft auch auf sie zu. Ich kann nicht verstehen, wie sie ihren Eltern das jemals verzeihen konnte. Was sie schildert, erinnert mich sehr an Erzählungen über den geschlossenen Werkhof in Torgau.
Ich hatte sie vorher immer für ein Modepüppchen gehalten, und mich nie für sie interessiert. Vielleicht war ich da ungerecht.

Erst durch den Dokumentarfilm über sie wurde ich hellhörig, da ich vieles, wovon sie berichtete, schon bei Freunden gehört hatte, wenn sie, was selten vorkam, über ihre Zeit im Werkhof sprachen.
Der Dokumentarfilmerin, die sie sehr nah an sich ranließ, fiel auf, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Eines Nachts brach der Damm, und Paris erzählte ihr alles. Die Regisseurin ermutigte sie, sich vor der Kamera ihrer Vergangenheit zu stellen, und brachte sie auch mit anderen Frauen, die ähnliches erlebt hatten, zusammen.


Auch in Paris steckte ein Papillon*. Einem Ausbruchkünstler wie ihm, der sich auf der Teufelsinsel in Französisch - Guayana von einem Felsen unbekümmert in den Atlantik stürzte, und sich, nur an einen Sack Kokosnüsse geklammert, von den Meereswogen in die Freiheit treiben lässt, wäre bestimmt sogar die Flucht aus dem geschlossenen Werkhof Torgau gelungen, aus dessen Mauern noch nie einer entkommen konnte.
Sie flatterte ihnen wie ein Schmetterling immer wieder davon. Alle bei denen sie Schutz suchte, ihre Eltern, ihre Tante, ein Freund, verrieten sie, und lieferten sie wieder an ihre Peiniger, bullige Ranchertypen, die wohl bei den Wachmannschaften der SS in die Lehre gegangen waren, aus.

Sie ließ sich dadurch nicht entmutigen, sondern versuchte es wieder und wieder. Wegzulaufen war ihre Form des Widerstands, um nicht gebrochen zu werden. Wenn sie das nicht gemacht hätte, wäre sie verrückt geworden. Ich glaube auch, dass das ständige Hungern in den Entwicklungsjahren, die Unterkühlung und die körperliche Überanstrengung, sie mussten ja in Socken durch den Schnee laufen und dabei Felsbrocken rollen, dazu beigetragen hat, das sie Probleme hat, Kinder zu bekommen.

Von Maggy, die im Jugendwerkhof eingesessen hat, weiß ich, dass nach solchen Fluchtversuchen immer die ganze Gruppe bestraft wurde. Wenn sie wieder eingefangen wurde, versalzten die anderen ihr aus Rache das Essen, so dass sie in ihrer Zelle, wo sie den ganzen Tag nur auf dem Heizungsrohr sitzen durfte, auch noch unerträglichen Durst litt.

Am Abend, wenn sie in ihrem Schlafsaal eingeschlossen wurden, schnüffelte sie mit den anderen Mädchen zusammen Nut - Fleckentferner aus einer Plastiktüte. Angeregt durch ihre Erzählungen, versuchte ich es auch mal. Nicht nachahmenswert.
„In meiner ersten Zeit im Werkhof bin ich immer ausgerissen, weil ich bei meinem Freund sein wollte, aber dann habe ich eingesehen, dass es besser ist, wenn ich mich zusammenreiße, fleißig am Band Eier sortiere und dafür im Urlaub nach Hause fahren darf.“ erzählte mir Ines, ein Mädchen, das im Warenhaus am Alex als Verkäuferin arbeitete. Wir waren gerade dabei, Spraydosen ins Regal zu stellen. Ich half manchmal dort aus, wenn ich pleite war.

Sie war achtzehn, und vor kurzem aus dem Werkhof entlassen worden. Weil ihre beiden Eltern Alkoholiker waren, wuchs sie in einem Berliner Kinderheim auf. Als sie sich mit fünfzehn verliebte, schwänzte sie ab und an die Schule, und wurde mit Jugendwerkhof bestraft. „Er war aber nicht mein erster Freund.“ sagte sie, und lachte, als sie mein erstauntes Gesicht sah. Im Heim fangen die Kids wohl früh damit an.

Zum Glück hielt die Liebe, und ihr Freund hat auf sie gewartet.

Man muss sie sich aber jetzt nicht als rebellisches Girl vorstellen, das ist sie wohl auch nie gewesen.
Sie war aber enttäuscht, als ihr Freund, etwas älter als sie, sich seine langen Haare abschnitt. Er hatte wohl ihre Ausbruchsphantasien mit ausgelebt. Vielleicht sah sie in mir etwas ähnliches. "Was hatte nur ein so sympathisches Wesen wie sie ausgerechnet in einen Werkhof verschlagen? fragte ich mich.

Die Heime waren auch die Keimzelle für die Blues-und Hippiebewegung, bei uns im Osten die größte und langlebigste Jugendbewegung und ein Auffangbecken für Jugendliche mit Problemen. Sie und ihr Freund waren auch Teil davon. „Bei uns im Heim waren eigentlich alle so drauf.“ erzählte sie mir.

Etliche von meinen Kumpels sind dort aufgewachsen. Das war wahrscheinlich auch der Grund für das ungewöhnlich kleinbürgerliche Frauenbild, das bei ihnen vorherrschte, worüber ich mich immer gewundert hatte.
Die Frauen, die sie akzeptierten, sollten dem überhöhten Wunschbild der Mutter entsprechen, das sie sich im Heim, in Ermangelung einer realen, selbst geschaffen hatten, und Sicherheit verkörpern, eine Aufgabe, an denen ihre Freundinnen, die ihnen gerne den Gefallen getan hätten, sich natürlich verhoben.

Bei Ines näherte sich diese Phase jetzt wohl langsam dem Ende. Sie wollte mit der Welt ihren Frieden, und erwartete ihr erstes Kind. Ich hoffe, es ist ihr gelungen. Posttraumatische Belastungsstörungen äußern sich oft erst nach langer Zeit. Viele, die ähnliches erlebten, sind in Therapie. Sie gehört wohl nicht zu denjenigen, die sich nach der Wende öffentlich mit dem, was ihnen angetan wurde, auseinandersetzten. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt Entschädigungszahlungen beantragt hat.

Unsere Kreise berührten sich danach nicht mehr. Mir tat es leid, denn ich mochte sie, eine echte Berlinerin mit Herz.
“Das Kleid ist schön.” machte sie mir einmal ein Kompliment, als ich ein Kleid anhatte, das ein Kumpel für mich genäht hatte. “Na ja”, begann ich zu einer Erwiderung anzusetzen. Sie ahnte, was ich sagen wollte. Wütend fiel sie mir ins Wort: “Das ist falsch. Man muss immer von seinem denken, dass es das schönste ist.” In ihren Worten lag Weisheit.
“Du kennst die Menschen nicht.” sagte sie einmal zu mir, und in ihren großen blauen Augen konnte ich ehrliche Besorgnis lesen. Vielleicht hatte sie von ihrem Standpunkt aus recht. Sie, in der der Geist dieser Stadt lebte, der ihr in den Genen steckte, war viel mehr Menschenkenner als ich.

In ihrer Linie gab es Generationen von Berliner Arbeiterfrauen, die sich, mit einem Schwung Kinder gesegnet, und einem Mann, der zu tief ins Glas schaute, tapfer durch schwierige Zeiten kämpften. Da konnte man sich nicht allzu viel Idealismus erlauben.

Ich dagegen bemühte mich, in jedem nur das Gute zu sehen, wie Fürst Myschkin** bei Dostojewski. Das ging ja bekanntlich nicht sehr gut aus.

Wir stammten aus verschiedenen Gegenden und Verhältnissen, gerade das weckte ja unserer Interesse aneinander, und wir hätten bestimmt eine interessante Mischung abgegeben.
So erging es mir oft mit Frauenfreundschaften, sie streiften mich nur, und waren zu Ende, bevor sie angefangen hatten. Wahrscheinlich lag es auch daran, weil die anderen meine wackelige Situation durchschauten. Ich lebte von der Hand in den Mund, war weder Fisch noch Fleisch, und passte nirgendwo richtig rein.

Die, die aus meinem Leben verschwunden waren, tauchten dafür von Zeit zu Zeit immer mal wieder in einer Figur aus Büchern oder Filmen auf.
“Das ist sie”, dachte ich. Hans Fallada musste ihre Großmutter gekannt haben, denn Ines war genial getroffen in der Gestalt der hilfsbereiten, lebensklugen Rieke aus “Ein Mann will nach oben”.

Zum Glück ist die Möglichkeit, dass ihr mein Text mal in die Hände fällt, zu vernachlässigen. Sie hätte bestimmt den Kopf geschüttelt, das hätte ihr nur wieder ihren Verdacht bestätigt, dass ich zu verpeilt für die Welt bin, und ob sie über den Vergleich glücklich gewesen wär, ist die zweite Frage.

Das letzte Mal sah ich sie nach einer Nachtschicht bei Narva, auch dort half ich ab und zu aus, als ich morgens in der Kaufhalle am Alex einkaufte. Mir war bei der Arbeit blauer Lack in die Haare gespritzt, und die Leute in der S-Bahn hatten mich böse angekuckt, weil sie mich für einen Punk hielten. „Das sieht gut aus.“ sagte sie.

Der Vater von einem Mädchen, mit dem Maggy zusammen im Werkhof war, war ein bekannter Fernsehstar und sogar Träger des Vaterländischen Verdienstordens. Wenn ihre Eltern sie besuchten, nahmen sie meine Freundin immer mit dem Auto mit. Aber sogar er konnte seine widerspenstige Punkertochter nicht aus diesem Kinderknast befreien.

Im Fernsehen lief mal eine Dokumentation darüber. Es fiel auf, dass dort pausenlos der Fußboden gewischt wurde. Einzelhaft und Essensentzug drohten, wenn er nicht blitzblank war. Jetzt wurde mir auch klar, warum meine Freundin ständig feucht durchwischte. Sie legte ja praktisch den Wischmopp gar nicht mehr aus der Hand.

Ich überlege, ob ich ihr erzähle, dass mein Vater dort als Erzieher war. Er wurde strafversetzt, als sein Verhältnis mit meiner Mutter aufflog. Aber ich kenne ihn ja gar nicht.

Maggy kann sich noch an ihren Vater erinnern und besonders an den Tag, an dem sie ihn in der Küche fand, wo er sich mit Gas das Leben genommen hatte. „Damals schlief unsere ganze Familie bei den Nachbarn.“, erzählt sie mir. Ihre Mutter war wohl fünfmal oder sechsmal verheiratet.

Eines Tages bringt Maggy ein Mädchen mit, das sie auf dem Bahnhof kennengelernt hat. Kati ist aus dem Werkhof abgehauen, und will in Berlin zu ihrem Cousin, der der langhaarige Rebell der Familie ist, und hat die Hoffnung, dass er ihr hilft. Weil er nicht da ist, hat sie schon einige Zeit vor seiner Wohnungstür geschlafen, oder auch auf dem Bahnhof. Das geht schon seit 28 Tagen so.

Maggy kennt das auch. Sie hat mir erzählt, dass sie allein aus ihrem letzten Werkhof, wo sie bloß ein Dreivierteljahr war, siebenmal abgehauen ist. Sie gehört zu den gar nicht mal so zahlreichen Frauen, die solidarische Gefühle für ihre Geschlechtsgenossinnen hegen. Sie hat Kati, die erst siebzehn ist, gleich angesehen, was mit ihr los ist. Kati ist schwanger. „Es muss etwas passieren.“ denke ich.

Eines Tages ist Kati weg. Ich hoffe, ihr Cousin ist endlich aufgetaucht und kümmert sich um sie. Sie meldet sich nie wieder. Zum Glück für sie ist nur ein paar Monate später die Mauer gefallen, und die Tore der Werkhöfe haben sich geöffnet.

Durch die Bluesszene in Berlin lernte ich viele kennen, die sowas am eigenen Leibe erlebt hatten. Mein erster Freund, ein echter Berliner, der im Makarenko aufgewachsen ist, dem größten Kinderheim Europas, wie er mir nicht ohne Stolz berichtete, saß ausgerechnet in Olgashof ein, wo mein Vater als Erzieher gearbeitet hat. Da war mein Vater aber schon lange wieder an einer Schule, so dass er mir zu meinem Leidwesen nichts über ihn sagen konnte.

Anfang der Neunziger, in einer Kneipe, traf ich mal jemanden, der im Makarenko Erzieher gewesen ist. Vom Alter her könnte er sogar meinen Freund noch gekannt haben. Er wirkte vom Habitus her wie ein Intellektueller, und ich hielt ihn für einen fortschrittlichen Lehrer, und traute ihm Idealismus zu, obwohl ich noch nie jemanden kennengelernt hatte, der in der Volksbildung arbeitete, und so etwas besaß. Und ich spreche aus Erfahrung, denn ich bin unter Lehrern aufgewachsen.

Vielleicht war er der Typ väterlicher Pädagoge, an den seine Schützlinge gerne zurückdachten, und an den sie noch jahrelange Briefe schrieben. „Wie kommt es eigentlich, dass so viele den typischen Weg: Kinderheim, Jugendwerkhof, Knast, gegangen sind?“ wollte ich von ihm wissen, denn so war es bei meinem Freund und vielen anderen.
Ein peinliches Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Daraufhin brach er, der zuvor geredet hatte wie ein Buch, unser Gespräch einfach ab. Ich hatte mich wohl in ihm getäuscht. Irgendwas stimmte nicht.

Mit einmal wurde mir klar, dass er wahrscheinlich auch verstrickt war. Hatte er sich schuldig gemacht, und Kinder in den Werkhof einweisen lassen, oder dort sogar gearbeitet, wusste über vieles Bescheid, und war in Wahrheit gar nicht der fortschrittliche Pädagoge, für den ich ihn hielt, oder hatte zumindest oft weggesehen? Jetzt, nach der Wende, kam ja allerhand ans Licht. Ich war auf seinen wunden Punkt gestoßen. Verdrängte hier jemand Schuldgefühle?

Warum waren eigentlich die Werkhöfe für Rainer Eppelmann und die Bürgerrechtler kein Thema, fragen sich heute viele. Aber der bekannte Jugendpfarrer Walter Schilling aus Braunsdorf in Thüringen, der sich sehr um die langhaarigen Blueskunden und die Punks kümmerte, seine Pfarrei war ein Treffpunkt für die unangepasste Jugend der Gegend, und der auch viele von ihnen versteckte, die gesucht wurden, wird auf alle Fälle etwas gewusst haben.

Von ihm, den ich nie getroffen habe, und der sich erst mit Vierzig die Haare lang wachsen ließ, hörte ich schon Anfang der Achtziger das erste Mal. „Wo willst du hin?“ sprach mich auf dem Bahnhof in Erfurt ein junger Mann an. Er war neunzehn, genauso alt wie ich. „Du kannst Bruder Christian zu mir sagen.“ Er arbeitete als Diakon in einer kirchlichen Einrichtung für Behinderte. Sie redeten sich dort gegenseitig mit Bruder an. Der Leiter war dieser Jugendpfarrer, für den er Hochachtung hegte.
Insgeheim war er verliebt in die psychologiestudierende Pastorentochter, die er immer beim Klavierspiel beobachtete.
„Wenn du willst, kannst du mit auf den Zeltplatz in Hohen Velten kommen.“
Ich, die in den Semesterferien einfach aufs Geratewohl losgefahren war, hatte kein festes Ziel, und so stiegen wir beide zusammen in den Bus, der zu der Talsperre fuhr.

Auf dem Zeltplatz lernte ich seine Kumpels kennen, die aus den umliegenden Dörfern stammten. Die meisten hatten lange Haare. Thüringen war eine Blueshochburg.
Der eine davon gefiel mir sofort. Er wirkte ernsthaft und nachdenklich. Bruder Christian bemerkte es. "Er hatte seine Eltern durch einen Unfall verloren, und ist abwechselnd bei seiner Oma und im Heim aufgewachsen." erzählte er mir über ihn. Der, der mir gefiel, beachtete mich aber gar nicht. Stattdessen redete er verbissen auf ein Mädchen ein. Sie war auch aus der Gegend und zusammen mit ihrer Familie hier im Urlaub. Sie, ihre Mutter und ihre jüngere Schwester trugen alle dasselbe Dirndlkleid.

Er saß neben ihr auf der Holzbank, und verschwendete all seinen Witz und Charme an sie. Ich glaube, er lief sogar auf Händen. Aber vergeblich. Sie rückte mit eisigem Gesicht immer weiter von ihm ab.
Ihr Vater sah schon böse rüber. Hier biss jemand auf Granit. Ich glaube, der Grund waren seine langen Haare. Gerade das, was mir an ihm gefiel, dass er Aufmüpfigkeit und Rebellion ausströmte, brachte ihm bei ihr Minuspunkte ein.

Er dagegen, der bei Oma aufgewachsen war, hatte bestimmt Sehnsucht nach heiler Familie und wurde davon angezogen, dass sie davon umgeben war. Das war etwas, was er immer vermisst hatte. Vielleicht ging mir das früher auch so. Man ahnte wohl Ähnlichkeiten. Mit sowas konnte ich, die einer alleinstehenden Mutter entsprungen war, und ihren Vater nicht kannte, nicht punkten. Das sah er mir auch irgendwie an, und auch das ich nirgendwo reinpasste.

Vielleicht hat bei ihm, wie bei vielen Kumpels von mir, nach einer aufmüpfigen Jugend, eine extreme Verkleinbürgerlichungsphase eingesetzt, und die Kisten mit seinen geliebten Schallplatten vermodern im Keller, wenn sie nicht vorher von seinen Kindern entdeckt wurden, die so sind, wie er früher auch mal war.

Eine Kollegin erzählte mir einmal, dass sie und ihre Geschwister alle vom Vater missbraucht wurden. Daraus resultierende Verhaltensauffälligkeiten wurden mit einer Einweisung in den Werkhof bestraft. Sie hat ihr Leben nie wieder richtig in den Griff bekommen und ihre Tochter lebt auch nicht bei ihr.

Bei ihr und auch bei vielen Leuten, die vor der Kamera über ihre Zeit im Jugendwerkhof sprachen, fiel mir auf, dass sie eine Statur hatten, die von bösen Zungen als: “lang wie breit” bezeichnet wird, also augenscheinlich an einer Essstörung litten.

Ich führe das auf den ständigen Nahrungsmittelentzug in den Entwicklungsjahren zurück. Nur weil jemand am Tisch redete, wurde die ganze Gruppe hungrig in den Schlafsaal geschickt. Nach ihrer Entlassung wollten sie dann alles nachholen. Und gegen Sport, der im Werkhof als Mittel der Bestrafung angewendet wurde, und dort bis zum Zusammenbruch betrieben wurde, hatten sie einen abgrundtiefen Widerwillen entwickelt.

Die Zitate habe ich zu Beginn nebeneinander gestellt, weil sie einen fast identischen Inhalt haben, obwohl es in dem ersten um eine Besserungsanstalt im Amerika der Neunziger geht, und in dem anderen vom D-Heim in Alt Stralau in der DDR in den Siebziger Jahren die Rede ist.

Hut ab vor Paris Hilton. Sie kämpft jetzt mit anderen Frauen für die Schließung dieser privaten Jugendknäste in den USA. Dabei nützt ihr ihr Bekanntheitsgrad sehr. Viele trauen ihr nicht zu, dass sie das ehrlich meint, und halten das bloß für ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das sehe ich anders.

* Titelfigur des berühmten Gefängnisausbruchsfilm von 1973
** Gestalt aus “Der Idiot” von Dostojewski
 
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