John Goodman
Mitglied
Prolog - Aetheria Academia
In der dunklen Kabine herrschte Stille, nur das leise Summen des Bordcomputers war zu hören. Entgegen der Anweisung, nichts unbefestigt liegenzulassen, schwebten einige Kleinutensilien umher, begleitet von einem Buch mit abgegriffenem Einband, dessen Seiten sanft in der Schwerelosigkeit wogen.
»Zulassungsunterlagen, Check. Schuluniform, Check.« Das schwache Licht ihres Tablets beschien ihr Gesicht und gepaart mit der gelben Farbe ihres Raumanzuges, verlieh es ihren feuerroten Haaren einen goldenen Schimmer. Ihre flinken Finger flogen über das Display. »Schulordnung, Check. Cockpit-Vorschriften, Check.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Doch ihre Vorfreude versuchte sie zu unterdrücken. All die schlaflosen Nächte, der erbarmungslose Lehrstoff, den sie immer und immer wieder durchgekaut hatte.
Sie hatte vermutlich das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen erfahren. Von tiefster Verzweiflung, wenn sie erneut bei einem Test durchgefallen war und die Prüfer sie unentwegt an ihr Unvermögen erinnerten. Bis hin zu hemmungslosen Glücksgefühlen, als sie endlich die Abschlussprüfung bestand. Es war ein Privileg hier zu sein und das wusste sie.
Ein seichtes Plätschern, wie das einzelner Wassertropfen, lenkte ihren Blick von dem Tablet auf den dunklen Bereich neben ihr. Wo sich jetzt eine Animation aus vielen bläulichen Dreiecken abspielte, die sich zu den Seiten in Wellen wieder auflösten. Der Klang war ihr vertraut. Sie war mit ihr aufgewachsen und sie hatte gelernt darauf zu achten, wenn sie was auf dem Herzen trug oder sie etwas beunruhigte. Sie gehörte zu ihrer Familie. Auch wenn die Leute das nicht verstanden. »Keine Sorge Ava, ich habe schon ein Gesuch deinetwegen eingereicht.«
Im selben Augenblick meldete sich aus dem Com eine blecherne Stimme. »Wir erreichen in Kürze die technische Bildungsanstalt Aetheria Academia im zweiundachtzigsten Bezirk«, die Com Einheit verstummte kurz in einem Rauschen, dann fuhr der Sprecher der Kommandobrücke fort. »Warteposition für den Andockvorgang wird eingenommen.«
Mit einer Hand drückte sie sich von ihrem Sitz ab und neigte ihren schwebenden Körper nach vorne, um an der glatten, dunklen Oberfläche, der sie sich näherte, ihre Vorwärtsbewegung mit den Fingerspitzen abzupassen. Rote Haarsträhnen tänzelten schwerelos an ihr entlang.
Sie hatte Bilder und Aufnahmen dieser Universität bisher nur im Datenstream gesehen. Dass es sich um ein gewaltiges Konstrukt handelte und selbst den Mond winzig erscheinen ließ, war ihr ebenfalls bekannt. Aber es mit eigenen Augen zu sehen, war dann doch ein ganz anderes Erlebnis. Schnell tippte sie ihren Sicherheitscode für die Bildfreigabe ins Tablet und löste im Bordcomputer eine leise, melodische Klangabfolge aus. Die dunklen Bereiche öffneten sich schlagartig und gaben ihr ein Panorama frei auf das weite All und abertausende Lichtpunkte darin. Ihr Gesicht spiegelte sich kaum merklich auf der virtuellen Bildkuppel, die sie wie eine gläserne Kugel umschloss.
Inmitten dieses galaktischen Ozeans glich die Raumakademie einem strahlenden Juwel. Ihr Atem stockte.
»Das ist also ... die Schule ..., ich habe es endlich geschafft. Mom!«
Gigantische ringförmige Strukturen erstreckten sich vor ihr, umgeben von Metallstreben, die das Sonnenlicht reflektierten. Nach unten hin zog sich das Konstrukt wie ein Trichter in immer kleiner werdenden Ringen zusammen. Angetrieben durch einen inneren Kern in steter Rotation um die eigene Achse, wurde daraus eine nahezu unerschöpfliche Energiequelle gewonnen und ein stabiles Magnetfeld erzeugt. Sie vermochte das Ausmaß nur erahnen. Ihr Transportfrachter war dagegen wie ein einsames Staubkorn.
In weiter Ferne sah sie etwas schweben. Vermutlich ein Wartungsbot, der sich im Reparatureinsatz befand. Sie tippte in ihr Tablet und öffnete auf der Bildfläche vor sich ein Fenster, mit dem sie den kleinen grauen Fleck stufenweise vergrößerte, bis sie deutlich seine Form erkannte. »Das ist aber ..., jemand in einem Raumanzug?« Sie betrachtete ihn eine Weile und bemerkte dann erst, dass er regungslos umhertrieb.
Als sie begriff, was sie dort sah, schlug ihr ruhiges Herz in Panik über.
»Nein, nein, nein, das darf nicht sein.« War er bewusstlos? Hatte er Sauerstoffmangel? Konnte sie überhaupt noch helfen? Verzweifelt tippte sie mehrfach auf den Kommunikationskanal ihres Tablets, als ginge der Verbindungsaufbau dadurch schneller. Was dauerte denn da so.
»Hier spricht die Brücke«, meldete sich nach einigen Sekunden der Bordoffizier.
»Der ... der machts nicht mehr lang.« Sie schrie ungewollt in den Com, ihre Stimme bebte und überschlug sich dabei.
»Was?«
»D-D-Da ... da ist«, sie sendete der Brücke ihren Videofeed. »Der überlebt nicht mehr lange!«
Für einen Moment durchbrach das Interferenzrauschen die unerträgliche Stille, das ein plötzliches Warnsignal ablöste. »Rettungsteam benachrichtigen und für externen Einsatz vorbereiten«, drang es aus der offenen Leitung. »Person in Not entdeckt.«
Sie steckte ihr Tablet in die Ladestation und schwang sich in einer fließenden Bewegung zurück auf ihren Sitz. Dann schnappte sie nach ihrem frei schwebenden Helm und setzte ihn sich auf, der klickend einrastete. Sie glitt zuerst in den einen und dann in den anderen Handschuh, deren Enden sich in einer schraubenförmigen Drehung automatisch mit ihrem Raumanzug verbunden. Über eine Magnethalterung an der Rückenlehne wurde ihre Sitzposition gesichert. Die Kleinutensilien, wie auch das Buch, pickte sie aus der Luft und verstaute sie in ihrer Brusttasche.
Im Hintergrund hörte sie die Einsatzbesprechung zwischen der Brücke und der medizinischen Versorgungsstation.
»Wie ist die aktuelle Lage des in Not geratenen?«
»Wahrscheinlich kritisch.«
»Gibt es Anzeichen einer Kollision mit Wrackteilen oder Ähnlichem?«
»Unbekannt.«
Das musste alles sehr viel schneller gehen. Unter diesen Umständen wäre das Einsatzteam nicht rechtzeitig vor Ort. Zu beiden Seiten fuhren Bedienhebel aus ihrem Sitz nach oben, die sie mit den Händen ergriff. Vor ihr öffneten sich einzelne Fenster, in denen komplexe Berechnungen durchliefen, um dann nacheinander in einem Halbkreis ein Nutzerinterface zu bilden. Als die Ladesequenz beendet war und die Bordsysteme erwachten, erschien auf der virtuellen Bildkuppel ein Fadenkreuz.
»Wer voranschreitet ... zweifach«, murmelte sie mehr zu sich selbst, in Erinnerung an die Worte ihrer Mutter.
»Wie bitte?«
»I-I-Ich rette ihn!«
Ihren Entschluss hatte sie bereits gefasst. Auch wenn sie am ganzen Körper zitterte und ihr Herz aus der Brust zu springen drohte. Sie deaktivierte die Verankerung.
»Hey! Was soll das werden?!«, schlug ihr die strenge Stimme des Bordoffiziers aus dem Com entgegen. »Wir kümmern uns um den Rettungseinsatz!«
Ein lautes Zischen erfüllte die Frachthalle. Eine Gruppe von Lagerarbeitern, die Kisten auf den Schwebetransporter verluden, während andere dabei waren das Netzelement einer Steuerungskonsole zu wechseln, sahen allesamt überrascht hinauf. Einem der Deckshelfer entglitt vor Schreck sein Werkzeug aus der Hand, das in den schwerelosen Raum davontrieb.
Die massiven Stahlträger hoben sich nur langsam von den breiten Schultern ihrer mobilen Einheit, als sich einer der Träger verkantete.
»Will die damit wirklich starten?«, hörte sie den Bordoffizier seinen Kollegen skeptisch fragen.
Mit einem Vorwärtsschub, welcher die Steuerdüsen an den hydraulischen Armen und Beinen ihrer Maschine aufheulen ließ, hätte sie beinahe die gesamte Tragstütze aus der Fassung gerissen. Doch sie schaffte sich noch zu lösen und der Stahlträger donnerte rücklings gegen die Wand.
»Verflucht nochmal ... Pilotin der mobilen Einheit!«
»T-T-Tu ... Tut mir leid.«
Geradewegs steuerte sie auf den Ausgang zu, der die Frachthalle von der Schleuse trennte, und überflog die Besatzung, die wie aufgeschrecktes Getier in alle Richtungen auseinanderstoben.
Er erkannte, dass es keinen Sinn hatte, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Der Com verstummte flüchtig, dann meldete er sich resigniert zurück. »Wir öffnen die Außenluke. Halte dich so lange im Zaum.«
Als der Frachtbereich hinter ihr geschlossen war und der Druckausgleich hergestellt, setzten sich mechanische Bolzen in Gang.
Sie landete auf den schlanken Beinen, die stromlinienförmig in einen breiten Oberkörper übergingen, auf dem sich nahtlos der stählerne Schädel gliederte.
Die Schleuse entriegelte sich. Durch den sich öffnenden Spalt fielen erste Sonnenstrahlen auf den silbernen Brustpanzer ihrer mobilen Einheit. Woraufhin sich zu beiden Seiten riesige Metalltore aufschoben.
»Kontaktiere uns, wenn du die Person gefunden hast, damit wir umgehend Hilfe schicken können.«
»Mach ich.«
Sie schritt an den Rand der Außenluke und zündete den rückseitigen Ionenantrieb, der in einem hellen Leuchten aufglühte.
Dann beugte sie sich nach vorne und schoss blitzartig in die eisige Schwärze des Alls davon.
Kapitel 1 - Verrat
Die Raumakademie in all seinen Farben strahlte stolz sein Licht hinaus in die Galaxie. In seiner Pracht und Vielfalt entfaltete es sich als ein Ort voller unendlicher Möglichkeiten und bot für all jene nicht nur ein Zuhause, eine Heimat, sondern auch eine bessere Zukunft.
Es gab eine Zeit, da hatte sie daran geglaubt. Inzwischen empfand sie nichts als Verachtung. Denn ebenso war es wie ein schwarzer Schlund, der sie langsam von innen heraus verschlang.
Emilia betrachtete durch das Visier ihres Raumanzuges die weit entfernten Sterne und zählte die einzelnen Lichtpunkte, wie sie es als Kind getan hatte. Wenn die erdrückende Last der Gedanken ihr die Luft zum Atmen raubte. Einsam trieb sie in der endlosen Leere und wartete auf ihre Abholung. Bis auf den gelegentlichen Signalton ihres Ortungssystems war die selbstauferlegte Stille wie ein schützender Mantel und doch bohrte sich ein Stachel tief in ihr Herz. Wenn es die richtige Entscheidung gewesen war, alles hinter sich zu lassen, warum schmerzte es dann so sehr? Weil ... weil sie schwach war. Weil sie den Schmerz verdiente.
»Ich bin deine Eskapaden leid. Du wirst dieser Heirat einwilligen. Ich spreche hier nicht mehr in der Rolle deines Vaters.« Sein graubraun meliertes Haar war nach hinten gekämmt, der Bart glattrasiert. »Das ist ein Befehl, anderweitig wirst du so lange unter Hausarrest gestellt, bis du zur Besinnung kommst.« Er schloss die Akte auf der leuchtenden Bildfläche, die in den steinernen Tisch eingelassen war. Das kohlegraue Gestein in Form eines Quaders belagerte nahezu den halben Raum.
Wenn Emilia an den verwöhnten Bengel dachte und an sein gehässiges Grinsen, wie er sie mit seinen schmierigen Händen betatschte, kam ihr der Ekel hoch. War sie für ihn wirklich nur Handelsware, die er nach Belieben eintauschen konnte?
»Und sie Kadettin Ranger«, sein Blick verfinsterte sich, »werden für ihr Vergehen von der Akademie suspendiert. Was darüber hinaus mit ihnen geschieht, wird dann ein Gericht entscheiden.«
»Ich ... aber, meine Eltern werden ...«
»Ihrerseits gibt es hierzu nichts zu sagen.«
Die Kadettin unterdrückte ein Schluchzen, hob die Hand zu ihrer Brust, vergriff sich in den blauen Stoff der Uniform und ließ sie wieder fallen.
»Sie haben in dem Wissen, dass ihre Annäherungsversuche zu ihrer Vorgesetzten, einen klaren Regelverstoß darstellen, weiterhin den Kontakt unternommen.« Er sah drohend zu seiner Tochter. »Obwohl persönliche Liebschaften innerhalb des Militärpersonals nicht geduldet werden.«
Das war falsch.
Nicht sie war es.
Das war lediglich eine bescheuerte Richtlinie, an die sich kaum einer hielt.
Sie war furchtbar naiv zu glauben, er würde bei ihr eine Ausnahme machen.
Sie zu akzeptieren, wie sie war.
Ihr gesamtes Wesen widerstrebte sich der Vorstellung, die Frau dieses reichen Jünglings zu werden. Wenn sie zumindest den Rauswurf abwenden konnte, wäre sie bereit diesen Weg zu beschreiten. Aber war sie das wirklich? Hatte sie je eine Wahl. Zumal sie nicht mehr anzubieten hatte, als sich freiwillig seinen Befehlen zu beugen. Vielleicht würde er darüber hinwegsehen.
Sie zögerte und fasste sich dann, hielt jedoch ihren Blick gesenkt.
»Wenn ... wenn sie auf der Schule bleiben darf, werde ich alles tun, was du verlangst.«
»Schweig!«
Sie erschrak.
Genauso gut hätte er ihr mit dem Handrücken eine verpassen können.
Was vermutlich erträglicher wäre.
»Damit du endlich begreifst, entferne ich jeglichen Fremdkörper, der dich von deinen Verpflichtungen ablenkt.«
Wie ein Schmiedehammer, der Funken aus dem Amboss schlug, pochten die Worte unter Emilias Schädeldecke. Wenn es eine Schuldige gab, dann war sie es. Aber es waren weniger die Worte, die den Stachel bildeten, viel mehr dieser kalte Ausdruck in seinem Gesicht. Eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Abscheu. Die er der Kadettin entgegenwarf und sie davon abhielt noch einmal in ihre grünen Augen zu blicken. Wie sie es das erste Mal tat und sich darin verlor. Stattdessen starrte sie auf ihre enge Jeans hinunter, auf ihre Stöckelschuhe, auf den Boden, auf irgendwas. Nur bloß nicht zu ihr. Um zu sehen, dass sie das Leben dieses Mädchens zerstörte.
Die Kadettin taumelte zur Seite, ihre Schultern berührten sich. Sie hörte ihre aufgeregte Atmung, erahnte ihre Wärme und ihren Duft. Sie rief sich ihr Lächeln in Erinnerung und die vielen kleinen Details, die auf ihrer sonst grauen Leinwand bunte Farbtupfer hinterließen. Es wäre so leicht sie zu umarmen, den Kopf in ihre Halsbeuge legen, nochmals ihre weichen Lippen spüren und ihr sagen, dass alles gut wird.
Als sie den Mut aufbrachte aufzuschauen, führten die Wachen sie bereits aus dem Büro. Die Kadettin hielt vor dem Türrahmen inne und drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Tränen liefen ihr die geröteten Wangen entlang, an denen blonde Haarsträhnen klebten. Einer der Wachen packte sie am Oberarm. »Nicht stehen bleiben!«
Der Schmerz in ihren grünen Augen schlug ihr als Peitschenhieb entgegen und verursachte dort, wo er sie traf, blutige Striemen. Für eine Sekunde setzte ihr Herzschlag aus. Sie hatte sich ihr wie eine zarte Nachtblüte geöffnet. Verborgen vor den Blicken anderer. Sie hingegen zertrat sie achtlos mit Füßen.
Zu groß war die Scham und die Pein, ihren Anblick noch länger zu ertragen. Sie schaute erneut zu Boden, schloss die Augen, um nicht selbst schluchzend auf Knien zusammenzubrechen. Sie durfte ihm keine Blöße geben. Ihre Unterlippe bebte. Irgendwo in ihren Untiefen keimte leise der Wunsch nach Erlösung. Ein Flüstern, das um Einlass bat. Wäre sie ihr doch nie begegnet. Warum konnte sie nicht einfach verschwinden. Als daraus ein innerer Schrei erwuchs, der in Selbsthass übergriff und in einem Feuersturm sämtliche Empfindungen ausbrannte. Übrig blieb der Geschmack von bitterer Asche.
Dann folgte Stille.
Dazwischen Schritte, die sich entfernten.
Sie hörte das mechanische Zischen der Scharniere, die Tür fiel klackend ins Schloss.
Als sie ihre Augen öffnete, war sie allein. Allein mit ihm, den sie ihren Vater nannte.
Wenn er ihr jemals etwas bedeutet hatte, dann erinnerte sie sich nicht mehr daran.
»Hast du etwa erwartet, dass ich deine Spielchen ignorieren werde.«
Nein.
Das war kein Spiel.
Wenngleich ein Funken Wahrheit darin ihr den Magen verdrehte.
Sie blinzelte ihre Tränen weg, riss herum und starrte ihn an.
Mit angewinkelten Ellenbogen saß er hinter seinem steinernen Bürotisch und betrachtete sie eindringlich. Ein unbekanntes Gefühl öffnete sich ihr, von dem sie nicht ahnte, es überhaupt zu besitzen. Einer ihrer Hände ballte sie zur Faust, die sie hinter ihrem Rücken verschränkt hielt. Er sollte denselben Schmerz spüren, den sie empfand. »Und du ..., Mutter hat uns deinetwegen verlassen, sie hat das Leben mit dir nicht mehr ertragen!«
Noch während sie ihm das entgegenspuckte, wand sich der Stachel gegen sie.
Warum hatte sie dann ihre Tochter im Stich gelassen? Wollte sie auf diese Frage wirklich eine Antwort finden.
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er fuhr aus seinem Sessel nach oben.
Sie zuckte zusammen, wich einen Schritt zurück und rechnete fest mit einer weiteren harten Maßregelung. Es schien auch danach. Einen Moment lang sagte keiner der beiden etwas. Dann nahmen seine stahlblauen Augen den gefühlskalten und distanzierten Ausdruck ein, den sie zugleich verabscheute und fürchtete.
»Du wirst dich heute mit dem Vorstand von Infinity Enterprises treffen, um die Fusion zu besprechen.« Er stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. »Später am Abend triffst du den Geschäftsführer und seinen Sohn zum Essen. Gemeinsam werdet ihr die Einzelheiten zu euer Hochzeit klären.« In seiner rauen Stimme schwang eine unterschwellige Bedrohlichkeit, die keinen Widerspruch duldete.
Der eben leichte Anflug von Entschlossenheit zerstreute sich.
Plötzlich war sie das kleine Mädchen, das sich hilfesuchend in den schützenden Armen ihrer Mutter wiederfand.
Nur war sie nicht mehr da.
Sie käme nie mehr zurück.
Sie war allein.
Als Emilia die Tür zu ihrem Apartment aufschloss, schlug ihr eine Welle abgestandener Luft entgegen. Sie seufzte. Die Filteranlage vergaß sie einzuschalten. »Luftreinigung an.« Es geschah nichts. Natürlich, die Sprachsteuerung war defekt und sie kam noch nicht dazu, das dem Haustechniker zu melden.
Sie trat herein, die Deckenbeleuchtung aktivierte sich. Die zähe Verhandlung mit dem Vorstand zerrte noch immer an ihrer physischen Verfassung. Das warme Licht spendete ihr etwas Kraft. Die Tür verriegelte sie und folgte dem Flur zum Wohnzimmer.
Ihre Stöckelschuhe klackerten durch die spärliche Inneneinrichtung und hallten an den kahlen Wänden wieder. Irgendwie fühlte es sich fremd an, nach so langer Zeit zurückzukehren. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit ... seit ihre Mutter von einem Tag auf den Nächsten spurlos verschwand. Genau. Ungefähr ein Jahr war das her. Ironischerweise kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Sämtliche Vermisstenanzeigen blieben unbeantwortet, die Suchaktionen erfolglos.
Inzwischen kursierten an der Schule etliche Gerüchte über ihren Verbleib, die man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Oder man warf ihr unverhohlen ins Gesicht, dass ihre Mutter sich ihrer überdrüssig war. Sie ignorierte all diese Stiche, denn sie wusste, er war der Grund dafür. Er trieb sie mit seinem kontrollsüchtigen Verhalten in die Verzweiflung. Nur die nagende Ungewissheit hindert sie ihren Glauben aufzugeben und die schlichte, ja fast schon banale Tatsache zu akzeptieren, dass ihre Mutter sie für immer verlassen hatte. Vielleicht aber käme sie für ihre Tochter zurück. Doch allein den hoffenden Gedanken laut auszusprechen, könnte das schwach lodernde Kerzenlicht erlöschen, das sie sich sinnbildlich auf die Fensterbank stellte.
Sie streifte sich die Handtasche von der Schulter, legte diese auf das Ecksofa. Dann steuerte sie ihren trägen Körper zur anderen Seite des Raumes, wo sich die säulenartige Kontrolleinheit aus dem Boden erhob und tippte auf das dunkle Display. Unzählige Kirschblüten begrüßten sie, die im Winde davonflogen. Farbige Symbole ploppten auf, aus denen sie den passenden Modus wählte. Ein leises Summen setzte ein. Kleine Klappen an der Decke öffneten sich, durch die frische Luft hineinströmte und nach und nach den muffigen Geruch verdrängte. Ihren Kopf legte sie in den Nacken, atmete tief ein und schob den erdrückenden Gedanken beiseite. Den Geschäftsführer und seinen Spross heute noch treffen zu müssen. Hochzeitsplanung. Völlig absurd. Wie sollte das auch ablaufen? Es wollte einfach nicht in ihre Realität passen. Parallelwelten, die sich überschnitten und sie war darin gefangen. Ein Stechen durchzuckte ihre Schläfe. Grüne Augen blitzten vor ihrem Inneren auf. Sie musste die Kadettin ganz schnell vergessen, wenn sie das hier überstehen wollte.
Im Schlafzimmer angekommen, zog sie die Schuhe aus, befreite ihre wundgeriebenen Füße. Sie warf sich bäuchlings auf das Bett und vergrub ihr Gesicht in das weiche Kissen. Die Schwere der letzten Stunden entlud sich darin in einem Atemstoß. Die Versuchung war groß, der Müdigkeit nachzugeben. Ihre Hände glitten unter die kühle Seide. Der hauchdünne Stoff zerfloss zwischen ihren Fingern. Darunter erspürte sie etwas Raues. Erst raschelte es und knisterte dann, als sie es in der Hand zerdrückte.
Wie Papier.
Ein Zettel?
Sie zog das zerknüllte Etwas hervor. Wie zur Hölle kam der hierher? Es sah aus, als wäre es in der Mitte gefaltet. Eine Ecke war nach hinten geknickt und gab eine handschriftliche Notiz preis. Wer schrieb überhaupt noch auf Papier? Ächzend wälzte sie sich auf den Rücken und setzte sich in den Schneidersitz. Den Zettel faltete sie auf, bog die Ecke zurecht und legte ihn sich auf den Oberschenkel. Mit der Handfläche strich sie zuerst die Falten glatt, dann nahm sie das Schreiben in beide Hände. Die Schrift verlief in geschwungenen Linien, ungleichmäßige Flecken verwischten manche Stellen. Es fiel ihr schwer, die verknoteten Buchstaben auseinanderzuhalten. Aber als sie die wiederkehrenden Schriftformen in den ersten Zeilen erkannte, begann sie langsam zu lesen.
Es gab einst ein kleines Mädchen, das den Zwängen familiärer Verpflichtungen unterlag. Ihre Welt war ein eng geschnürtes Korsett aus Traditionen und Erwartungen, in dem kein Raum für persönliche Träume und Wünsche bestand. Tagein, tagaus wurde sie von den Verpflichtungen erdrückt und schlussendlich in eine Verlobung gedrängt, die nicht von Liebe, sondern vom gesellschaftlichen Druck geprägt war.
Die Jahre vergingen. Das Mädchen wuchs zu einer jungen Frau heran, die sich ihrem Schicksal fügte. Sie heiratete den Mann, der ihr bestimmt war. Dieser vermochte jedoch keine eigenen Kinder zu bekommen. Was ihr nur zugutekam. So machte sie sich langsam vertraut mit ihrer Arbeit und flüchtete sich immer weiter hinein. Eine Tätigkeit, die sie bisweilen an entfernte Orte brachte.
Während eines langen Aufenthalts im Außensektor fand sie erstmalig im Leben echtes Glück. Sie verliebte sich in einen seriösen Geschäftsmann. Dann wurde sie unverhofft schwanger. Sie wollte es unbedingt behalten und gebar eine Tochter. Letztendlich obsiegte die Angst vor den Konsequenzen, die sie zwang, ihr Kind zurückzulassen.
Statt ihrem Herzen zu folgen, kehrte sie zu ihrem Ehemann heim. Zu ihrer Überraschung erwartet sie bei ihrer Ankunft bereits ein kleines Mädchen. In Ermangelung seiner Fähigkeit und der Notwendigkeit eine Nachfolge zu bestimmen, ließ ihr Ehemann das Kind anhand künstlicher Genstränge in einer Brutkammer zeugen. Wie es damals üblich war, wenn keine reguläre Erbfolge bestand. Um je nach Geschlecht gezielt eine Heirat mit einem namenhaften Haus einzugehen.
Weitere Jahre verstrichen, gezeichnet von einem inneren Kampf und unterdrückten Schuldgefühlen. Ihr Herz blutete tagtäglich für das Kind, dass sie alleine gelassen hatte. Während sie versuchte, ihre Rolle als Mutter für das Kind zu erfüllen, das nicht ihres war. Ohne zu wissen, wie es ihrer leiblichen Tochter erging.
Schlussendlich wurde die Schuld unerträglich, die Stimme in ihrem Kopf lauter, die Depression erstickend. Wie so oft, wenn man eine Entscheidung trifft, entscheidet man sich auch gegen etwas. So entschied sie sich ihre leibliche Tochter ausfindig zu machen. Aber dafür musste sie ihr nicht leibliches Kind aufgeben. In der Hoffnung, endlich Frieden zu finden.
Frieden, den ich dir auch wünsche, mein Kind. Auch wenn du mich dafür hassen wirst, bleibst du stets in meinem Herzen. Es tut mir leid, dir nicht die Mutter gewesen zu sein, die du dir erhofft hast. Aber ich kann nicht einfach so verschwinden, ohne ein letztes Mal Abschied zu nehmen. Auch wenn nur in Form dieses Briefes.
Bitte was?
Ihre Daumenkuppen liefen weis an. Der Zettel zitterte in ihren Händen und knickte an den Druckstellen ein. Ihr erster Impuls war in schallendes Gelächter zu verfallen, das ihr aber im Hals stecken blieb. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, ihr pochendes Herz fing an zu rasen. Erst dann bemerkte sie, dass ihr Atem stockte.
Das konnte nur ein perfider Scherz sein.
Wer auch immer sich das ausgedacht hatte.
Denn wenn das stimmte, dann ... dann war ..., sie wollte das nicht nochmal lesen.
Starrte aber weiter gebannt auf die Zeilen.
Dann war ihr Leben eine einzige Lüge!
Die Frau, ihre Mutter, war ihr plötzlich eine Fremde. Die, die sie liebevoll umsorgte, als sie tagelang mit hohem Fieber im Bett lag. Sie in eine wärmende Umarmung schloss, als sie sich das Knie aufstieß, auf die Wunde pustete und ihr damit den größten Schmerz nahm.
Die, die sie tröstete, wenn sie traurig war und stets die richtigen Worte fand, wenn alles um sie herum ins Schleudern geriet. All das sollte nicht echt gewesen sein?
Lügen.
Alles Lügen!
Das konnte einfach nicht wahr sein. Hass züngelte in Flammen auf, griff auf das Mädchen über, das ihren Platz einnahm, erfasste ihren Vater, dem sie ihr wertloses Leben verdankte. Sie versuchte sich dagegen zu wehren und doch stieg ein brennendes Verlangen aus der hintersten Ecke ihres Verstandes an die Oberfläche. Sie erschrak vor sich selbst. Das bedeutete, sie war auch nicht seine Tochter.
Aber was war sie dann.
Eine Laborzüchtung?
Irgendein obskures Experiment.
War sie überhaupt ein Mensch.
Diese Vorstellung riss sie in den bodenlosen Abgrund.
Gefolgt von dem schmerzvollen Gefühl des Verrates, das sich in ihre Haut brannte, als hätte jemand sie in ein Meer aus Batteriesäure eine Klippe hinuntergestoßen. Nicht irgendjemand, sondern sie, die Frau, die sie ihr ganzes Leben belogen hatte. Aber wer sagte, dass das nicht auch gelogen war. Oder wollte sie das glauben, um ihren Schmerz zu rechtfertigen.
Mit einem Mal verstand sie, was diese dunklen Flecken bedeuteten. Es waren Tränen, wie ihre, die nun in schweren Tropfen darauf fielen und die das Papier gierig aufsog. Sie hatte beim Verfassen des Briefes geweint, das hieße, sie war ihr doch nicht so unwichtig. Wieso hatte sie sich ihr dann nicht anvertraut? Sie schluchzte bitterlich. Weil sie ihr nur eine Last war und egoistisch, nicht zu erkennen, was in ihr vorging.
Fortsetzung folgt.
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