Der Ermittler

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Bo-ehd

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Kommissar Henning beugte sich nach vorn, um die Namen auf dem Klingelschild entziffern zu können. Ohne Punkt und Komma versammelten sich auf der beschreibbaren Fläche Hilde Grams, Gertrud Fleischhauer, Maria Höttges und Valentina Birk. Ein Haus wie eine Villa, und dann drängen sich vier Mietparteien auf ein winziges Klingelschild, kam es ihm. Er schüttelte ungläubig den Kopf, als er den Knopf drückte.
Fast zur gleichen Zeit wurde die schwere Haustür geöffnet, als ob dahinter jemand auf ein Zeichen gewartet hätte.
„Sie müssen Kommissar Henning sein! Kommen Sie bitte herein“, sagte eine ältere Dame mit einer lieblichen Stimme. Er wurde ins Wohnzimmer geführt und durfte an einem großen Tisch Platz nehmen, der zum Kaffee gedeckt war. Während sich die Damen ihm vorstellten, wurde ihm Kaffee eingeschenkt.
„Wir finden es toll, dass Sie unsere Einladung angenommen haben, Herr Kommissar. Man kriegt ja kaum noch seine Nachbarschaft zu Gesicht in diesen Zeiten, auch wenn man in der unmittelbaren Nähe wohnt. Jeder hat mit sich zu tun, keiner kennt den anderen“, erklärte Hilde Grams allwissend. „es ist wie in einem Hochhaus in der Stadt.“
„Wir machen das mit der Einladung bei allen, die hierher in diese schöne Gegend ziehen“, ergänzte Gertrud Fleischhauer. „Es ist so angenehm, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat, wenn man auf der Straße gegrüßt wird.“
Henning nickte zustimmend, und weil alle einen Kommentar von ihm erwarteten, bestätigte er ihre Einstellung. „Das finde ich sehr vernünftig, meine Damen. Da bin ich ganz bei Ihnen.“
„Sind Sie ein richtiger Kommissar von der Kriminalpolizei?“, rückte Maria Höttges endlich mit der Sprache heraus. „So wie im Film?“, hängte sie mit piepsiger Stimme noch hinten an und konnte ihre Neugier nicht verbergen.
„Ja, ich bin Kriminalbeamter. Aber nicht so wie im Fernsehen.“ Fast hätte er sich zu näheren Erläuterungen hinreißen lassen, er hielt sich aber im letzten Augenblick zurück und lächelte unentschlossen und fast ein bisschen verlegen in die Runde.
„Aber Sie ermitteln doch, Herr Kommissar?“, ergriff nun Valentina Birk das Wort, und von dieser Sekunde an prasselte ein Feuerwerk an Fragen auf den Kommissar ein.
Ermitteln! Ach, das muss toll sein. Im Fernsehen sind das alles so coole Typen.“
„Gertrud, wie redest du denn? Coole Typen – so ein Ausdruck ist ja Milieu, oder, Herr Kommissar?“
„Ich weiß schon, was Sie meinen. Ja, im Film ...“
„Erzählen Sie doch mal, wie Sie ermitteln. Ich finde das so spannend, einen richtigen Kommissar hier am Tisch zu haben.“
„Machen Sie das auch so mit Fingerabdrücken und DNA? Sind Sie beim Landeskriminalamt?“
Henning musste grinsen. „Nein, meine Damen, ich bin bei der örtlichen Behörde, und Fingerabdrücke überlassen wir dem Erkennungsdienst oder der KT.“
„Ja, davon habe ich schon mal gehört. KDO – was heißt das eigentlich?“
„Das ist die Kriminaltechnische Untersuchung, kurz KTU. Die Laborarbeit sozusagen“, versuchte sich Henning an einer schnellen Erklärung.
Hilde begann leicht auszuflippen. „Oh, Herr Kommissar, das ist so aufregend. Ich bin auch schon ganz aufgeregt. Erzählen Sie uns doch ein bisschen von Ihrer Arbeit. Bitte … ich bitte Sie wirklich darum, wir können's kaum erwarten. Stimmt's, Hilde?“
„Ich kann Ihnen aus verschiedenen Gründen nichts darüber erzählen. Sie wissen doch: Datenschutz. Und dann dürfen wir nichts sagen, wenn es ein schwebendes Verfahren betrifft, das verstehen Sie doch.“
„Gewiss, aber da gibt es doch ältere Fälle. Haben Sie schon einmal einen Mörder gefangen?“
„Ja, ist noch gar nicht so lange her.“
„Oh bitte, bitte erzählen Sie uns von dem Fall. Hat er jemanden erschossen?“
„Ja, hat er. Aber die Sache ist noch bei Gericht anhängig, deshalb darf ich nichts sagen. Bitte haben Sie Verständnis.“ Hennings Kaffee war inzwischen kalt, und von dem Kuchen hatte er vor lauter Fragenbeantworten auch keinen Bissen nehmen können.
„Manchmal sehen die Leichen ja wirklich nicht schön aus. Ist das nicht gruselig? Wachen Sie nachts manchmal davon auf?“
„Hilde! Bitte! Keine Fragen, die das Privatleben betreffen, nicht wahr, Herr Kommissar? An was für einem Fall arbeiten Sie im Augenblick? Dürfen Sie darüber sprechen?“
„Es hat letzte Woche einen bewaffneten Raubüberfall gegeben. Sie haben sicher in der Zeitung darüber gelesen. Dabei ist eine Polizistin verletzt worden. Im Augenblick läuft noch eine Ringfahndung, aber mehr darf ich darüber nicht sagen.“
„Oh, ist das schade! Jetzt, wo es interessant wird. Ringfahndung – das ist toll. So kriegen Sie ihn bestimmt. Sind es die Araber aus dem Nordviertel gewesen? Wie ermitteln Sie denn, Herr Kommissar? Stellen Sie auch so Fragen im Verhörraum?“
In diesem Moment klingelte sein Telefon. Seine Dienststelle war am anderen Ende der Leitung, und Henning nahm die Gelegenheit wahr, das vermeintlich ungewollte Ende der Ausfragestunde auf die Kollegen zu schieben. „Der Dienst ruft, ich habe Bereitschaft und muss sofort ins Präsidium. Tut mir leid, meine Damen, dass ich abbrechen muss. Es war sehr angenehm bei Ihnen, aber die Pflicht ruft.“ Henning stand auf, ließ sich seinen Mantel geben, gab jeder der alten Damen die Hand und ließ sich zur Tür bringen. Draußen holte er tief Luft, überquerte die Straße und betrat sein Haus, ohne sich umzudrehen.

*

Kaum eine Woche später flatterte Kommissar Henning eine frisch angelegte Akte auf den Tisch, die ihn aufhorchen ließ. Hilde Grams, 78, wohnhaft in der Platanenallee 17, ist, wie die Obduktion ergab, durch Gift zu Tode gekommen. In ihrem Magen wurden Taxane gefunden, also giftige Substanzen aus den Nadeln oder der Frucht der Europäischen Eibe. Die Verabreichung des Giftes durch Dritte sei wahrscheinlich, weshalb weiterführende Ermittlungen erforderlich seien. Es sei erwiesen, dass kleingehackte Eibennadeln – vermutlich mindestens 15g – einem Eintopfgericht beigemischt worden seien.
„Da schau her!“, brummelte Henning vor sich hin. „Mein Plauderclub von gegenüber hat Eibe auf der Speisekarte.“ Wie sehr hatte er gehofft, nie wieder dieses Haus betreten zu müssen, aber in diesem Fall gab es wohl kein Zurück. Er kündigte sein Kommen telefonisch an und wurde genauso empfangen wie bei seinem ersten Besuch.
„Ist das nicht schrecklich, Herr Kommissar“, gab sich Gertrud Fleischhauer mitfühlend. „Wir hatten noch so viel Spaß, nachdem Sie uns besucht hatten. Und jetzt ist sie einfach nicht mehr da. Arme Hilde. Werden Sie jetzt gegen uns ermitteln? Wir haben doch gar nichts getan!“
„Genau das muss ich sicherstellen, dann bin ich auch schon wieder weg. Was könnte sie denn umgebracht haben? Sie schien mir ziemlich robust, als ich sie das letzte Mal gesehen habe.“ Henning gab sich unwissend. Vielleicht ergab es sich, dass sich die verbliebenen drei Damen verplapperten, falls sie denn tatsächlich etwas mit dem Tod zu tun hatten.
„Wir sind aber nicht verdächtig, oder doch? Also: Wir haben nichts zu verbergen. Fragen Sie uns, wenn das zu Ihrer Ermittlungsarbeit gehört“, bemerkte Valentina Birk. „Nehmen Sie uns mit. Müssen wir dann in ein Mikrofon sprechen? Ich war noch nie in einem Polizeipräsidium. Werden wir da hingefahren?“
„Nein, keine Bange, ich ermittle hier nur vor Ort, vorläufig jedenfalls. Ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen: Haben Sie eine Vorstellung, was sie getötet haben könnte?“
Die drei Damen waren plötzlich auffallend still. Als Henning sie ansah, schüttelten sie gleichzeitig den Kopf. „Nein, sie litt hin und wieder unter Herzschmerzen, aber dagegen hatte sie ja ihre Tabletten.“
„Bitte holen Sie sie. Die muss ich mitnehmen.“
„Hat sie sich über etwas aufgeregt? Oder über eine Person geärgert? Hatte sie vielleicht Streit mit jemandem? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, das nicht normal war?“ Henning bekam kein Wort mehr aus den Damen heraus. „Ich werde einen Bericht über die Befragung verfassen und ...“
Ermittlung!, Herr Kommissar. Sie sagten fälschlicherweise 'Befragung', aber es war doch eine Ermittlung, oder? Oh, Herr Kommissar, es ist so spannend, an so einer Ermittlung beteiligt zu sein. Wissen Sie, so ein Kriminalfall ist ganz anders, wenn man ihn so nah erlebt. Im Fernsehen ...“
„Nun ist gut, Maria, der Herr Kommissar ist nicht zur Unterhaltung hier. Das ist sein Job“, funkte Valentina resolut dazwischen. „Wir wollen doch nicht seine polizeilichen Ermittlungen behindern, nicht wahr, Herr Kommissar?“
„Ganz recht. So, nun muss ich noch Ihre Personalien aufnehmen. Haben Sie Ihre Personalausweise zur Hand?“
„Werden Sie noch mal wiederkommen, Herr Kommissar? Handeln Sie eigentlich im Verzug? Es macht mich ganz kirre, mitten in solch aufregenden polizeilichen Vernehmungen zu stecken. Sie kommen doch nochmal, oder?“
„Was ist denn mit der KDO? Kommt die auch noch? Wegen der Fingerabdrücke, meine ich.“
Kommissar Henning beantwortete ihre Fragen nicht mehr, sondern versuchte, doch noch ein paar sachdienliche Hinweise zu bekommen. „So, dann verschwinde ich schon wieder. Meine Arbeit hier ist vorläufig beendet. Ach, da fällt mir gerade ein: Sind Sie vielleicht kurz vor ihrem Tod einmal auswärts essen gewesen?“
„Ich bitte Sie, Herr Kommissar! Sie haben hier drei routinierte Hausfrauen mit jahrzehntelanger Kochpraxis vor sich. Außerdem ist das Essen in einem Restaurant viel zu teuer. Das können wir uns nicht leisten. Deshalb haben wir auch einen eigenen Garten.“
„Ja, ja, ich weiß. Was haben Sie denn so gekocht unmittelbar vor ihrem Tod? Gab es etwas Besonderes?“
„Ich glaube, wir hatten Sommergulasch mit wenig Fleisch und viel Gemüse. Vielleicht war es auch einen Tag davor. Am letzten Freitag jedenfalls hatten wir Bratwurst mit Sauerkraut. Das weiß ich ganz genau, weil wir freitags immer ...“
„Und wer von Ihnen hat das Sommergulasch zubereitet?“
„Das Mittagessen bereiten wir immer gemeinsam zu. Hilde hat dann den Rest abends für sich nochmal aufgewärmt.“
Das war eine wichtige Information, befand Henning. Da musste die Täterin den aufgewärmten Rest mit dem Gift versehen haben. Aber wer von den Dreien kam dafür infrage? Vielleicht sogar das Opfer selbst? Der Fall schien unlösbar.
„Ja, gut, das reicht mir schon. Ich muss jetzt los. Auf Wiedersehen, meine Damen.“
Kommissar Henning blieb vor der Haustür stehen. Drinnen kreischten die drei alten Damen. „Ist das nicht ein toller Ermittler!? Und wie gut er aussieht. Es ist alles wie im Fernsehen!“
„Und ich werde heute Nacht nicht schlafen können. Noch nie habe ich so etwas so hautnah erlebt. Das ist wie ein Film, der in unserem Haus spielt.“
Henning machte noch einen Rundgang durch den Garten. Eine Eibe bekam er nicht zu Gesicht. Das wäre auch zu schön gewesen.
Die Ermittlungen erbrachten keine Erkenntnisse, die einer Aufklärung dienlich gewesen wären. Henning schüttelte mit dem Kopf. Er wusste, wenn es kein Versehen war, wovon auszugehen war, dann blieb die Sache im Dunkeln, denn die Täterin aus diesem schrägen Oldtimer-Trio zu ermitteln, das hielt er für ein Ding der Unmöglichkeit.

*

Der Besuch bei den drei Damen war in Hennings Kopf noch präsent, als der nächste Todesfall gemeldet wurde. Das Opfer hieß Gertrud Fleischhauer. Man fand sie zur Mittagszeit im Gartenhaus. Sie hatte eine Stichverletzung am Hals in Höhe der Hauptschlagader. Da sie wegen ihrer Herzbeschwerden Blutverdünner nahm, ist sie wahrscheinlich verblutet bzw. an ihrem eigenen Blut erstickt. Unklar ist noch, warum sie sich nicht ins Haus geschleppt oder Hilfe gerufen hat. Die beiden anderen Mitbewohnerinnen hielten sich den ganzen Vormittag im Wohnzimmer auf der Vorderseite des Hauses auf und hörten in übermäßiger Lautstärke „La Bohème mit Maria Callas als Mimi in einer Aufzeichnung von 1962“. Im Blut des Opfers konnte ein Alkoholgehalt von 1,8 Promille festgestellt werden. Im Magen fanden sich Reste von ungenießbaren und giftigen Pilzen, die jedoch als Todesursache nicht infrage kamen.
Henning trat jetzt resolut auf. „So, meine beiden übrig gebliebenen Damen, jetzt ist es aber genug. Zwei Tötungsdelikte innerhalb von nicht einmal einem Monat – jetzt wird es so langsam Ernst für Sie. Was haben Sie sich denn dabei gedacht? Glauben Sie wirklich, dass wir auch nur einen Augenblick an Ihre Unschuld geglaubt haben? Jetzt wird der Ton etwas rauer, das verspreche ich Ihnen.“
Maria und Valentina saßen dem Kommissar wie versteinert gegenüber und hielten sich bei der Hand. Der raue Ton, den Henning angekündigt hatte, beeindruckte sie. Jetzt fühlten sie sich richtig wie im Fernsehen.
„Nehmen Sie uns jetzt ins Kreuzverhör, Herr Kommissar?“
„Ich werde Ihnen solche Fragen nicht mehr beantworten.“
„Ich habe ein Alibi. Ich habe im Wohnzimmer gesessen und eine Oper gehört. Valli kann das bezeugen, nicht wahr, Valli?“
„Und Maria kann bezeugen, dass ich bei ihr war. Kommen jetzt die Männer in den weißen Anzügen und suchen nach Spuren?“
Henning überging auch diese Frage.
„Wo ist eigentlich der Päthagoge? In den Filmen ist er mit seinem Koffer immer zuerst am Tatort.“
„Der Pathologe ist in der Gerichtsmedizin. Und dort untersucht er gerade Ihre Mitbewohnerin“, brauste Henning leicht auf, beruhigte sich aber gleich wieder. „Meine Damen, wollen Sie mir nicht erzählen, was hier wirklich abgelaufen ist? Wenn Sie gestehen, die Tat begangen zu haben, wird sich das bei der Strafzumessung positiv für Sie auswirken. Wenn ...“
Maria unterbrach den Kommissar euphorisch: „Straf-zu-messung – ja, das sagen die Kommissare immer im Vernehmungszimmer. Ich erinnere mich ganz genau. Das hört sich ganz ju-ris-tisch an. Aber warum wollen Sie uns denn bestrafen, Herr Kommissar? Wir haben doch gar nichts getan.“
„Das wird sich noch herausstellen. Eine muss ihr den Stich in den Hals verpasst haben, und zwar eine von Ihnen beiden.“
Die beiden Frauen schwiegen ab jetzt wie ein Grab. Maria stand plötzlich auf und servierte das Mittagessen. Die Stimmung war aus unerfindlichen Gründen soweit abgesunken, dass sie ihn nicht einmal fragten, ob er auch etwas möchte.
Henning wusste nicht warum, aber instinktiv beharrte er darauf zu bleiben. Die müssen doch irgend etwas sagen oder tun, was einen Hinweis liefert, folgerte er. Aber das Gegenteil war zunächst der Fall. Die zwei Frauen lieferten nicht einen einzigen Hinweis, mit dem Henning etwas anfangen konnte. Das hatte er angesichts der Geschwätzigkeit dieser Frauen nie erwartet.
Ein paar Minuten später saß er an ihrem Tisch und leistete ihnen beim Essen Gesellschaft. Maria, die Vegetarierin, hatte sich Nudeln mit Brokkoli auf ihren Teller geladen, während Valentina, die gegenüber Henning saß, sich ein Schaschlik in einer deftigen Gewürzsauce gönnte. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, wäre dem Kommissar das Wasser im Munde zusammengelaufen.
Er beobachtete die beiden Damen abwechselnd. Marias langsames Kauen und das gekünstelte, fast zur Zeremonie erhobene Herunterschlucken auch kleinster Bissen fand er nervtötend und langweilig. Deshalb wandte er sich mehr Valentina zu, die so tat, als hätte sie plötzlich gar keinen Hunger. Sie stocherte auffallend lustlos in den Fleischbrocken herum und vermied es, ein paar Stücke von dem Spieß herunterzuschieben, wie das beim Schaschlikessen üblich ist. Aber offenbar übermannte sie dann doch der Hunger, und so begann sie ganz zögerlich, ein Stück Fleisch von dem Spieß zu lösen.
Henning beobachtete sie aufmerksam und unauffällig und wandte sich zur Tarnung nun mehr Maria mit ihren Nudeln zu. Da schob Valentina auch schon den zweiten Brocken herunter und noch einen Zwiebelschnitz. Sie schnitt die Teile klein und schob sie sich eines nach dem anderen in den Mund. Kein Zweifel: Sie hatte Kohldampf, aber irgend etwas hinderte sie daran, zügig zu essen. Dann waren auch schon die nächsten Stücke fällig, und wieder hielt sie inne, als wollte sie das Essen einstellen, konnte sich aber des Hungergefühls nicht erwehren und schob das Stück Leber, den Speck und ein Stück Paprika von dem Spieß. Henning lenkte bewusst ab und fragte Maria: „Sie kochen gemeinsam, und doch eine jede für sich. Ich dachte, Sie machen ein Gericht für alle.“
„Normalerweise tun wir das ja auch. Aber an manchen Tagen will jede etwas anderes. So wie heute.“
Während Henning sich mit Maria unterhielt, beobachtete er Valentina weiter aus den Augenwinkeln. Sie hatte endlich ihre letzten Fleischstücke vom Spieß geschoben, teilte sie und verspeiste eines nach dem anderen. Dann legte sie Messer und Gabel zu dem Metallspieß, auf dem die Fleischstücke gesteckt waren, und stand auf, um ihr Geschirr abzutragen. Doch bevor sie den Teller vom Tisch nehmen konnte, schritt Henning energisch ein.
„Stopp! Stellen Sie den Teller wieder hin.“ Er griff in seine Jackentasche und holte einen Plastikbeutel mit einer Verschlussleiste hervor, öffnete sie, ergriff mit zwei Fingern den Spieß, der mit seiner nur einen halben Zentimeter breiten stilettartigen Klinge in den Resten der Sauce lag, nahm ihn auf und ließ ihn in den Beutel fallen. „Den nehm ich mal mit“, kommentierte er sein Handeln. „Gibt es in der Küche noch mehr davon?“ Als Valentina mit dem Kopf schüttelte, beugte er sich zu ihr und sagte in einem ganz ruhigen, gelassenen Ton: „Das ist ein Corpus delicti. So nennen wir die Tatwaffe, ganz wie im Fernsehen.“
 



 
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