Unter Spionen

Matula

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Seit Herr Pokorny seine Freundin mit Herrn Tian Zhou im Kaffeehaus sitzen gesehen hatte, war es um seinen Seelenfrieden schlecht bestellt. Nicht, weil er meinte, seine Claudia sei auf erotischen Abwegen, sondern, weil es keinen ersichtlichen Grund gab, weshalb sie den Betreiber des Restaurant "Feuerdrachen" privaterweise treffen sollte. In seinem Lokal trug der Mann ein T-Shirt und eine Schürze, wenn er aus der Küche kam, um zu hören, ob es den Gästen geschmeckt hatte. War das der Fall, schien er überglücklich, verbeugte sich ein ums andere Mal, lachte ausgelassen und sprudelte unverständliche Dankesbezeugungen hervor. Im Kaffeehaus trug er einen dunkelblauen Anzug mit Krawatte, lehnte lässig in einem Fauteuil , nippte an seiner Tasse und hörte Claudia zu, die ihm etwas zu beschreiben schien.

Bis zum Wochenende beruhigte sich Herr Pokorny mit dem Gedanken, dass es wahrscheinlich um eine geschäftliche Besprechung ging, die aus irgendeinem Grund ins Kaffeehaus verlegt worden war. Vermutlich wollte Claudia ein Buffet für eine Firmenfeier bestellen. Sie war verrückt nach chinesischem Essen. Am Wochenende aber erwähnte sie das Treffen mit keinem Wort und wusste auch nichts von einer Betriebsfeier. In Herrn Pokorny erwachte der Häscher-Instinkt. Unter keinen Umstände hätte er sie direkt auf die merkwürdige Zusammenkunft angesprochen. Geheimnisse waren da, um - nicht gelüftet, sondern - mit Gewalt entblößt zu werden.

Herr Pokorny hatte ein Netzwerk von alten Freunden, die er zwar nicht regelmäßig traf, aber immer anrufen konnte, wenn er ein Anliegen hatte. Zu diesem Netzwerk gehörte Herr Schimanski, ein Steuerprüfer am Finanzamt, der sich hauptsächlich mit Gastgewerbebetrieben beschäftigte. Er kannte alle ihre Finten, von der großen Geldwäsche bis zu den kleinen Betrügereien bei der Tageslosung. Chinesische Restaurants prüfte er besonders gern. So genügte ein Wink von Herrn Pokorny, die Vermutung, im "Feuerdrachen" gäbe es eine Speisekarte für die Gäste und eine fürs Finanzamt, und Herr Schimanski war vor Ort. Er verständigte auch einen befreundeten Kollegen, der die Zahl der Beschäftigten und die Einhaltung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften prüfen sollte. Um Schwarzarbeiter zu erwischen, wurde ein Abendtermin für den Kontrollbesuch festgelegt. Herr Pokorny blieb im Hintergrund, um mit der Aktion nicht in Verbindung gebracht zu werden. Er saß mit Claudia an einem Tisch in der Nähe der Küche und flüsterte "Oh, oh, das schaut nach einer Razzia aus." Sie blickte erschrocken von ihren gebratenen Wan Tan auf und wollte wissen, ob man den "Feuerdrachen" nun zusperren werde. - "Nur, wenn Herr Zhou etwas zu verbergen hat," erwiderte Herr Pokorny mit einem feinen Lächeln.

Nach einer knappen Stunde - alle Tische waren inzwischen besetzt - erschien Herr Zhou mit Herrn Chen, dem Kellner, und bat die Gäste um Geduld. Leider sei eine Küchengehilfin ganz plötzlich erkrankt. Wie Herr Pokorny später erfuhr, handelte es sich um Herrn Zhous Mutter, die ohne Entgelt für ihren Sohn arbeitete und ihre Aufenthaltsdokumente nicht bei sich hatte. Die einzige Verhaltenswidrigkeit, denn leider ergab auch die Betriebsprüfung, wie sich nach einigen Tagen herausstellte, keine Auffälligkeiten. Einkauf und Umsatz standen in Einklang, die Buchhaltung war in ordentlichem Zustand, die Kassa nicht manipuliert und eine zweite Speisekarte konnte nicht gefunden werden. Zu prüfen blieb, wie Herr Zhou zu einer Eigentumswohnung im Botschaftsviertel gekommen war.

Der nächste, der ihm auf den Zahn fühlen sollte, war Herr Michalek, der in der Fremdenpolizeibehörde arbeitete. Er sollte für Herrn Pokorny feststellen, ob es in der Vita des Herrn Tian Zhou irgendwelche Auffälligkeiten oder Vorstrafen gab. Das war zwar datenschutzrechtlich höchst bedenklich und hieß in der Fachsprache "Amtsmissbrauch", aber Herr Pokorny wurde so eindringlich, ja fast flehentlich, dass sich Freund Michalek breitschlagen ließ.

Sein Misstrauen war gewachsen, seit er Claudia eines Tages um die Mittagszeit in der Nähe des "Feuerdrachen" begegnete. Sie behauptete, ihre Büropause für einen längeren Spaziergang genutzt zu haben, jetzt aber dringend zurückkehren zu müssen. Dabei war sie nervös und unfreundlich und lehnte seine Begleitung entschieden ab, während er sie gern noch ein Stück weit begleitet hätte. Zum einen, um zu sehen, wohin sie ging, zum anderen, weil sie ganz lieblich nach Frühlingsblumen duftete. Herr Pokorny zog erstmals in Betracht, dass Claudia und Herrn Zhou mehr als eine kulinarische Beziehung verband. Objektiv betrachtete war der Mann nicht unattraktiv, wenn er nicht gerade den Küchen-Clown spielte: groß, schlank, gepflegt, volle Kopfbehaarung, ein einnehmendes Lächeln. - Der Gedanke war absurd, aber beharrlich.

"Dieser Zhou ist sauber," sagte Herr Michalek im Brustton der Überzeugung, "einer der wenigen. Keine Drogen, keine Mädchen, kein Schmuggel. Ist vor sechzehn Jahren als Student eingereist; Studium an den Nagel gehängt, aber immer gearbeitet; seit fünf Jahren gehört ihm das 'Feuerdrachen' und eine Blumenhandlung am Stadtrand; zur selben Zeit die Mutter nachgeholt; ledig; unauffälliger Lebenswandel, nur eine Vorliebe fürs Schnellfahren." Herr Michalek las die Angaben von einem Notizzettel ab, den er danach rasch in seiner Hosentasche verschwinden ließ. - "Ich weiß ja nicht, was du erwartet hast, aber falls du in seinem Lokal verkehrst, gibt es keine Bedenken." Herr Pokorny seufzte und bedankte sich.

Nach einigen Wochen wurde er ruhiger, auch weil die Beziehung zu Claudia besser zu werden schien. Der merkwürdige Vorfall in der Mittagspause war vergessen. Dann aber fiel ihm auf, dass sie feine schwarze Ränder unter den Fingernägeln hatte. Da er diese Entdeckung machte, als sie eng an seinen Rücken geschmiegt, seine Brusthaare kraulte, wollte er einen besseren Zeitpunkt abwarten, um sie nach dieser untypischen Nachlässigkeit zu fragen. - Er vergaß es, aber er vergaß es nicht ganz.

Ein längerer Spaziergang führte ihn nach Büroschluss an den Stadtrand und in die Gegend, in der Herr Zhou seinen Blumenladen hatte. Es war ein hübsches Geschäft, das von allem etwas bieten wollte und den Platz vor den Auslagen für verschiedene saisonale Blühpflanzen nutzte. Herr Pokorny schnappte sich ein Fuchsien-Töpfchen und trat ein. Zum beiderseitigen Entsetzen stand Claudia hinter dem Ladentisch. Man konnte sehen, wie gern sie zwischen Rosen und Tulpen verschwunden wäre.

"Das musst du mir aber jetzt erklären!" fauchte Herr Pokorny. Sie hatte vor Schreck fast ihre Stimme verloren, konnte aber immerhin gestehen, dass sie im Reisebüro gekündigt und zusammen mit einer befreundeten Blumenbinderin das Geschäft gepachtet hatte. "Ich wollte es dir erzählen, sobald es richtig gut läuft, weil ich dachte, dass du wahrscheinlich nicht einverstanden bist. - Obwohl es im Grunde genommen allein meine Sache ist." - "Natürlich ist es allein deine Sache," erwiderte Herr Pokorny, "und die von Herrn Zhou, nicht wahr?!" Er musste sehen, wie Claudia heftig errötete. - "Das ist ja nicht zu fassen! Du hast dich tatsächlich mit diesem Schlitzauge eingelassen! Nicht nur hinterhältig, sondern auch eine Schlampe! Ich fasse es nicht!" schrie er. Da ging die Tür auf und eine Kundin trat ein. Herr Pokorny knallte die Fuchsie auf den Ladentisch und zischte: "Wir sprechen uns noch!" - Aber es wurde nicht mehr gesprochen. Noch auf dem Heimweg kam eine Nachricht von ihr. "Adieu, C."

Einige Jahre später, Herr Pokorny hatte längst eine neue Freundin, die zwar nicht so hübsch wie Claudia, aber immun gegen chinesisches Essen war, sandte ihm Freund Schimanski einen Link, der zu einem informellen Bericht über eine skurrile Spionageaffäre führte.

Der Fahrradbote Yussuf A. hatte den Auftrag, zwei Portionen Baozi auf Pak Choi an die Blumenhandlung "Blütenzauber" zu liefern. Da er schon wiederholt zu dieser Adresse gerufen worden war, achtete er nicht auf den Weg und kam an einem neu angelegten Fußgängerübergang zu Sturz, wobei er für kurze Zeit das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Rettungswagen, wo sich der Zivildiener Alfons W. mit der Bemerkung, er habe "mega Hunger", gerade an den Teigtaschen gütlich tat. Bei der zweiten Portion biss er auf einen harten Plastikgegenstand, der sich bei genauer Betrachtung als Mikro USB-Stick entpuppte. Yussuf A. bat, ihn dem Absender der Mahlzeiten, dem Restaurant "Feuerdrachen" zurückzuerstatten. Aber Alfons W. war auch mega neugierig und musste mega enttäuscht feststellen, dass auf dem Stick nur Daten in chinesischen Schriftzeichen gespeichert waren. Sein Vater, Oberstleutnant Anton W., nahm ihm die Beute ab und ließ die Texte ins Deutsche übersetzen. Es zeigte sich, dass sie verschiedene Informationen über chinesische Staatsangehörige enthielten, die als Wissenschaftler, Techniker oder als Unternehmer im Inland tätig waren. Die Informationen stammten aus Polizeiakten, waren aber mit Zusätzen versehen, die den Schluss zuließen, dass der Verfasser direkten Kontakt zu den beschriebenen Personen hatte.
Der Betreiber des Restaurant "Feuerdrachen", Herr Tian Z., gab zu, die Texte geschrieben zu haben, wobei ihm Gespräche mit seinen Gästen, vor allem aber die Aufzeichnungen der Fremdenpolizei als Grundlage dienten. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, wurden die Datenträger nicht direkt, sondern über die Blumenhandlung "Blütenzauber" zusammen mit dem monatlichen Blumenschmuck an die chinesische Botschaft geliefert. Herr Tian Z. und Frau Claudia B., die für die Lieferungen verantwortlich war, wurden auf freiem Fuß angezeigt. Wer die Polizeiakten zu den betroffenen chinesischen Staatsbürgern weitergegeben hat, ist noch Gegenstand polizeilicher und behördeninterner Ermittlungen.

Herr Pokorny ahnte, um wen es sich handelte und er schämte sich ein bisschen.
 



 
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