Trocken bleiben

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lietzensee

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Trocken bleiben​

Warum steht die Erinnerung mir gerade jetzt wieder vor Augen? Vielleicht liegt es an meiner Trägheit oder vielleicht ist es das Surren der modernen Klimaanlage. Vor dem Bürofenster sehe ich dunkle Wolken. Da draußen ist die Luft jetzt schwül. Ein Gewitter naht und ich erinnere mich an einen Tag vor zwanzig Jahren.
Auch damals schien die Sommerhitze zum Schneiden dick. Aber ich war dünn. Jeden Tag fuhr ich mit dem Rad zur Uni. Was ich wohl an jenem Tag im Hauptgebäude zu tun hatte? Ein Besuch in der Bibliothek, ein Gang zum Kopierer oder ein billiges Mensa-Essen? Jedenfalls trat ich allein aus der großen Flügeltür. Das Hauptgebäude lag im Tal der Oder. Mein Wohnheim aber stand auf den Hängen der westlichen Vorstadt. Ob es wohl noch immer steht? Ob zehn junge Männer sich darin eine dreckige Küche teilen?
Ich weiß noch genau, wie unheimlich mir der Himmel schien, als ich ins Freie trat. Ich fuhr damals ein Diamant-Rad, keine Gangschaltung, kaputter Sattel, silberner Lack. Am Radständer würgte ich den Schlüssel in mein altes Schloss und blickte auf die schwarzen Wolkentürme über mir. Sie jagten aus Westen heran. Ich zögerte. Ein paar Mal überlegte ich, wie lang der Weg zum Wohnheim war und wie nah diese Wolken schienen.
Hatte ich denn keine Alternativen? War die Bibliothek zu? Die leere Mensa zu ungastlich? Alle Freunde im Zentrum-Wohnheim mit mir verstritten? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich losfuhr.
Die Hauptstraße am Gagarin-Kino war verlassen. Keine Autos, keine Fußgänger, so sehe ich sie jedenfalls in der Erinnerung. Selbst der hohe Turm im Zentrum wirkte klein unter den sich ballenden Wolken. Ich trat in die Pedalen. Unbedingt wollte ich trocken nachhause. Durch die ehemalige Altstadt war der Weg noch eben. Dann kam die Ampel am Anstieg zum Bahnhof. Ich fluchte über ihr rotes Licht. Eine Frau sah mich erschrocken an und bei grün fuhr ich, so schnell ich konnte den Berg hinauf, vorbei am Sprachenzentrum vor dem alten Exerzierplatz. Immer wieder prüfte ich beim Treten den brüchigen Asphalt auf Spuren erster Tropfen.
Eine Straßenbahn klingelte. Unwirklich schwamm sie durch die stickige Luft, wie ein Fisch im Aquarium. Ich raste über die Kreuzung, vorbei am Abstellgleis mit den rostigen Dampfloks. Fuhr ich die ganze Strecke wirklich so schnell, wie es mir jetzt scheint? Ich muss damals sehr fit gewesen sein. Aber ich wollte nicht in den Regen kommen, das weiß ich noch genau. Ich musste schneller sein, als der Regen. Der Regen schien mir als persönliche Herausforderung. "Kleistpark", "Kanststraße", ich jagte an Straßenbahnhalten vorbei, deren Namen ich noch immer mit Dönerbuden und Discount-Supermärkten verbinde. Der letzte, steile Anstieg, mein Atem wurde schneller und die schwere Luft brannte in der Lunge. An einer Ampel hob ich den Kopf zum Himmel. Dort sah ich Schwarz. Aber das Wohnheim war nah, als der der erste Blitz aufflammte. Direkt darauf rollte Donner durch die Straßen.
Endlich erreichte ich die Kuppe des Hügels. Meine Lunge brannte bei jedem Atemzug und ich sah schon die Kasernendächer. Immer dicker wurde die Luft. Ich trat in die Pedalen. Die letzte Ampel schaltete auf Gelb und ich trat so kräftig ich noch konnte. Dann sah ich die roten Balkone des Wohnheims. Ich glaube, nie wieder war ihre Farbe mir so intensiv erschienen. Ein Donnerschlag. Ein Hund bellte. Ohne zu bremsen, riss ich den Lenker zum Parkplatz herum und vor mir schlugen die ersten Tropfen aufs Pflaster. Nun ging es los. Ich raste über den leeren Parkplatz, sprang vom Rad und rettete mich unter das Vordach meines Eingangs. Es war buchstäblich im letzten Augenblick. Auf das Vordach hämmerten nun Regen. Blitze durchschnitten den Himmel. Es ist dieser Moment, an den ich mich vor allem erinnere. Genauer, ist es nicht der äußere Moment, sondern das innere Gefühl. Ich glaubte, es trocken geschafft zu haben. Keuchend stützte ich mich auf mein Rad. Dann merkte ich, wie völlig durchgeschwitzt meine Kleider waren. Der Schweiß lief in Strömen von meiner Stirn und der Regen schoss aus kaputten Dachrinnen.
 
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petrasmiles

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Gefällt mir sehr gut, Lietzensee - auch die unverhoffte Pointe.
Vielleicht im ersten Teil ein bisschen oft 'ich weiß noch' oder ich 'weiß nicht' oder 'nicht mehr'. Das erscheint beim Schreiben vielleicht unlogisch, es nicht zu schreiben, aber als Leser, wenn ich einmal die Geschichte verortet habe, halte sie für verzichtbar.
Gerne mit Dir geradelt - und ganz trocken geblieben :D

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

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Hallo Petra,
vielen Dank für deinen Hinweis und die gute Einschätzung! Es soll schon die die Stoßrichtung der Geschichte sein, was man bei solchen Erinnerungen wirklich noch weiß und was nicht. Es ging mir sozusagen um den Vorgang des Erinnerns.
Ich denke aber, ich weiß was du meinst. Zu häufige Wiederholung von Floskeln wie "Ich weiß noch" kann beim Lesen nerven. Beim Schreiben und Überarbeiten verliert man irgendwann das Gefühl, wann das zu viel des Guten ist. Da hilft dann Rückmeldung aus der Leselupe wirklich weiter.
Ich hab den Text jetzt noch mal überarbeitet und es wird sich nun etwas sparsamer erinnert.

Viele Grüße
lietzensee
 

Matula

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Man würde zu gern wissen, um welche innere Wette es ging und wofür das Nasswerden stand ... schön erzählt, finde ich.

Herzliche Grüße,
Matula
PS "Balkone des Wohnheims"
 

lietzensee

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Hallo Matula,
vielen Dank für deine Antwort und die positive Bewertung. Danke auch für den Typo. Dem Jugendlichen ging es tatsächlich um seine körperliche Trockenheit. Als junger Mann sieht man sowas schnell als Herausforderung. Erst mit Abstand und in der Erinnerung soll das Erlebnis noch eine andere Ebene gewinnen.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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