Neue Messe

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lietzensee

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Neue Messe​

Er war aufgestanden, sobald er die Durchsage gehört hatte: Neue Messe. Die zwei Minuten, welche die S-Bahn noch bis zur Station brauchte, stand er vor dem Ausgang und hielt seinen Daumen über dem Türknopf. Fabrikhallen und verlassene Parkplätze wischten hinter dem Fenster vorbei. Das neue Hemd juckte auf seiner Haut.
Niemand sonst stieg an der Station aus. Er blickte unsicher, bis der abfahrende Zug die Sicht auf ein Schild freigab: NEUE MESSE. Hier war er richtig. Über dem Schild saß eine Krähe und blickte ihn an. Zwei schwarze Augen glänzten. Federn flirrten im Luftwirbel des abfahrenden Zuges. Das Tier hatte sich von der riesigen Maschine nicht aufschrecken lassen.
"Ich nehme immer den Bus M32. Würdest du mit der neuen Messe als Treffpunkt klarkommen?", hatte das Mädchen ihm in der App geschrieben. Dahinter hatte sie zwei Fragezeichen und einen erschrockenen Smiley gesetzt. Er war ganz neu in der Stadt. Auf der Webseite des Nahverkehrs hatte er schließlich entdeckt, dass die neue Messe für ihn mit zwei Umstiegen erreichbar war. Bei diesem Gedanken grinste er. Ja, er kam mit der neuen Messe klar. Er war hier. Dann zog er sein Handy heraus. Noch einmal prüfte er seinen Scheitel in der Kamera. Danach blickte er sich um, ob sie schon irgendwo zu sehen war. Aber die Station war verlassen. Er war etwas zu früh erschienen.
Müll übersäte den Bahnsteig. Das löchrige Glasdach starrte vor Dreck. Doch darunter konnte man noch ein Mosaik erahnen, das Merkur als den Gott des Handels zeigte. Den Helm und die Schuhe zierten unförmig große Flügel. Er überlegte. Die Station schien in einer Art Kerbe zwischen der Autobahn und der hoch aufragenden Ruine des Messegebäudes zu liegen. Dann musste die Bushaltestelle an der Messe sein. Metallisches Kratzen hinter seinem Rücken ließ ihn umfahren. Auf dem Schild saßen nun zwei Krähen. Zwei Paar Augen fixierten ihn. "Krah", riefen sie und warfen die schwarzen Köpfe in den Nacken. "Krah", kam eine kehlige Antwort, aber er konnte nicht ausmachen, woher. Unter dem löchrigen Glasdach schien das Echo aus allen Richtungen gleichzeitig zu hallen.
Er blickte auf die Uhr. Sicher würde er es noch schaffen, dem Mädchen entgegenzulaufen. An der Bushaltestelle könnte er auf sie warten. In seinem schicken Hemd würde er lässig winken und zeigen, dass er mit allen Stationen in dieser Stadt klarkam. Er musste nur den Ausgang finden. Eilig lief er den Bahnsteig hinab. Er hörte ein Flattern hinter sich, doch als er sich umdrehte, sah er nur den leeren Bahnsteig. Über ihm flatterte es dann sanfter. Er hob den Kopf und blickte in die dummen Augen einer Taube. Vorsichtig, dachte er und lief einen kleinen Bogen. Taubenschiss auf dem Hemd war das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte.
Er fand keinen Ausgang. Zwar sah er Markierungen und Pfeile, doch waren deren Aufschriften abgefetzt oder von Graffiti übersprüht. Ganz am Ende des Bahnsteigs entdeckte er schließlich ein Treppenhaus. Schräg darüber war eine Tafel befestigt. Darauf stand groß und schräg gesprüht: "Weltmeister!!!". Er fluchte, weil seine eiligen Schritte ihm den Schweiß in das Hemd trieben. Vor einem geschlossenen Kiosk sah er eine tote Taube. Von ihrem Kopf war nur ein blutiger Stumpf geblieben und kleine, zerbrochene Eier verklebten das Pflaster daneben. Noch einmal sah er auf die Uhr. Nun hatte er nicht mehr viel Zeit.
War das Treppenhaus der Ausgang? Im Dunkel darin konnte er hinabführende Stufen erahnen. Wieder hörte er etwas flattern. Auf einer Stange über dem Treppenhaus landete eine weitere Krähe. Oder war es eines der Tiere, die ihn zuvor beobachtet hatten? Der Vogel pickte mit seinem wulstigen Schnabel auf ein Schild. Die Symbole darauf waren halb abgekratzt. Aber nun erkannte er einen Pfeil, der das Treppenhaus hinab wies. Er beschleunigte seine Schritte. Das Treppenhaus war schmal. Viel schmaler, als es von weitem gewirkt hatte. Ein merkwürdiger Geruch stieg ihm in die Nase. Er schwitzte. Konnte das wirklich der Weg zu den Bussen sein? Als er sich umdrehte, erschrak er, weil auf dem Müllkübel hinter ihm drei Krähen saßen.
Merkwürdig große Tiere, sie traten ungelenk von einem Bein auf das Andere und ihre Krallen kratzten auf Metall. "Krah", rief eine der Krähen. "Krah", fielen die zwei anderen Tiere ein. Ihre Stimmen klangen fordernd. An den aufgerissenen Schnäbeln waren Widerhäkchen zu erkennen.
Er wich zurück auf den Absatz des Treppenhauses. "Krah!", der Laut kam nun von allen Seiten - und aus vielen Kehlen. Adrenalin machte seine Knie weich.
Wieder hörte er metallisches Klirren, doch war der Klang lauter und schwerer als die Krähenfüße. Es kam aus Richtung der Autobahn. Auf einer rostigen Treppe rannte eine Frau hinab. Sie trug ein rotes Sommerkleid. Ihre gekämmten Haare flatterten im Wind und die Hacken ihrer Schuhe ließen das Metall der Treppe vibrieren. Sie sprang über eine rostige Kette. Mit einem Tritt stieß sie eine der Krähen vom Pflaster und wandte sich in einer Drehung den anderen Beiden zu. Die Tiere staksten in Richtung der Bahnsteigkante zurück. Drohend schwang sie ihre Handtasche, bis die Krähen schließlich ihre schwarzen Schwingen ausbreiteten. Sie flatterten in Richtung der Messe davon. Die Frau keuchte.
Lange brauchte er, bis er hervorbrachte: "Bist du Anna?"
"Bist du wahnsinnig?", erwiderte sie mit bösem Blick. Sie zeigte das Treppenhaus hinab. "Du hattest doch geschrieben, dass du mit der neuen Messe klarkommst."
 

petrasmiles

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Wow! Was für eine Schreibe und was für ein Plot!
Ich bin beeindruckt von der Sogwirkung, die Dein Text erzeugt - und dieser subtile Horror, der am Rande durch Alltäglichkeiten aufblitzt. das erscheint mir doch als große Kunst - ob ich zu diesem Urteil berufen bin, oder nicht.
Ich frage mich oft, wie man es schafft, über einen gruseligen Ort und einen nicht besonders sympathischen Protagonisten solch einen bannenden Text zu schreiben. Dir ist es auf jeden Fall gelungen!

Liebe Grüße
Petra
 

rubber sole

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So beeindruckt man Leser. Originelle Geschichte. Gekonnt erzählt. Durchgehend. Bis zum Schluss. Ich bin begeistert!

Gruß von rubber sole
 



 
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