Nachgeholfen

Bo-ehd

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„Wir sind verdammt nochmal pleite“, sagte Detlef Buchhammer mit feuchten Augen. „Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als Insolvenz anzumelden.“
„Steht es wirklich so schlecht um unseren Laden? Er existiert in der vierten Generation, wir sind eine Institution hier vor Ort! Wer weit und breit Gartengeräte kaufen will, kommt an uns nicht vorbei. Was ist wirklich los, Bruder?“
„Rolf, wach auf, Mann! Die Kunden schauen sich die Sachen bei uns an und bestellen sie dann im Internet, wo sie günstiger sind. Wir haben die Zeit verschlafen, und das fällt uns jetzt auf die Füße. Unsere Umsätze stürzen kontinuierlich ab.“
„Deshalb muss man doch nicht gleich in die Pleite rutschen. Haben wir finanziell keine Möglichkeiten mehr?“
„Nein, haben wir nicht. Das Haus ist beliehen, die Kredite sind am Limit. Es ist alles ausgequetscht. Wenn am Ende des Monats die Zinsen fällig werden und wir uns einen kleinen Lohn zum Überleben auszahlen wollen, sperrt uns die Bank die Tür vor der Nase zu.“
„Wie hoch sind die Verbindlichkeiten?“, wollte Rolf wissen.
Detlef schwieg und schüttelte kaum sichtbar den Kopf.
„Nun sag schon, du bist hier der Buchhalter.“
„Wenn du es genau wissen willst! Mit allem Drum und Dran 820 000 Euro, die nur durch den Warenbestand gedeckt sind. Und der zählt bei Banken kaum etwas.“
„Grundgütiger! Das ist total an mir vorbeigegangen. Ich war bei 500 000, und die wären durch die Immobilie einigermaßen abgesichert“, bekannte Rolf. „Und was machen wir jetzt?“
„Wenn ich das wüsste! Auf jeden Fall müssen wir ein paar Sachen aus dem Haus schaffen und bei unserer Schwester deponieren, und da wir eine Einzelfirma sind, gehört der Rest alles Privaten zur Insolvenzmasse. Die Gläubiger werden auch noch ein paar Brosamen abhaben wollen.“ Detlef vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Rolf öffnete die Hausbar, entnahm eine Flasche Gin und schenkte zwei Wassergläser voll ein. Dann kam er mit einer Blitzidee. „Wir haben doch noch diese komische Lebensversicherung, die Vater für uns abgeschlossen hat. Können wir die nicht flüssig machen?“
Detlef schüttelte den Kopf. „Daran habe ich auch schon gedacht. Aber flüssig machen? Nein, das geht nicht. Wenn einer von uns beiden stirbt, zahlt die Versicherung an den anderen. Das sind die Bedingungen. Das hilft uns nicht weiter.“

*

Rolf preschte mit Witz und Ironie vor. „Insolvenzverschleppung und Einstellung jeglicher Zahlungen an das Finanzamt, und schon sitzen wir im Gefängnis. Drei Mahlzeiten täglich, ein gut beheiztes Zimmer und Personal, das aufpasst, dass einem nichts passiert. Wär das nicht was?“
„Nein, für mich wär das nichts. Ständig durch die Gitter schauen? Da häng ich mich lieber auf.“ Detlef stand die Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.
Rolf schwenkte ein. „So ein Konkurs ist wie ein Stigma. Wir können hier nicht einmal dicht machen und künftig einer Arbeit nachgehen. Wer stellt einen, der seinen Betrieb an die Wand gefahren hat, denn im Alter von fünfzig Jahren ein? Beschissenere Aussichten gibts ja wohl nicht.“
„Das klingt sehr realistisch, was du da sagst. Um ehrlich zu sein, habe ich schon daran gedacht, mich … na, du weißt schon.“
„Du willst dich umbringen? Hast du sie nicht mehr alle?“ Rolf gab sich empört.
„Ein Seil um den Hals gelegt, und dann ist alles in wenigen Minuten erledigt“, ließ Detlef wissen.
„Witzbold! Da leidest du wirklich etwas zu viel. Da ist es schon komfortabler, sich ein paar Tabletten einzuwerfen, einen guten Whiskey dazu zu trinken und seelenruhig einzuschlafen.“ Rolf unterbrach sich einen Moment, dann fuhr er fort. „Meinst du das wirklich ernst?“
„Ja. Eigentlich bin ich fest entschlossen, Rolf.“
„Wenn ein Mann etwas tun möchte, soll er es tun und sich von niemandem aufhalten lassen.“
Ganz so einfach sah Detlef die Sache allerdings nicht. „Wenn der eine sich umbringt, profitiert der andere davon,“ wandte er sogleich ein.
„Das ist richtig. Der eine bekommt die Versicherungssumme, der andere ein Begräbnis. Hört sich nicht sehr gerecht an. Aber wenn es ausreicht, dass einer von uns stirbt, warum sollte sich der andere ebenfalls umbringen? Du hast ja damit angefangen, und so wie du klingst, gehe ich davon aus, dass du das auch machen willst.“
„Ich meine, du könntest es ja auch tun, und ich würde die 200 000 bekommen.“ Detlef sah die Sache immer realistischer. „Es gibt ja auch einen Grund, warum du es tun könntest.“
„Und der wäre?“
„Du bist älter als ich. Dein Leben ist zwei Jahre weniger wert als meines. Verstehst du, was ich meine?“ Detlef wollte plötzlich nicht, dass sich die Dinge so eindeutig gegen ihn entwickelten.
„Wir wollen doch in dieser Situation nicht Erbsen zählen, oder?“
„Ich hätte eine faire Lösung anzubieten. Lass uns würfeln. Was meinst du, Rolf?“
„Wie krank ist das denn! Wir können doch nicht um unser Leben würfeln. Was ist mit dir los, Bruder?“
„Es wäre die gerechteste Lösung. Der Gewinner hat die Chance, sein Leben neu zu gestalten. Das hört sich doch gut an, oder?“
Rolf spürte, wie etwas mit seinem Magen geschah. Sollte er sich wirklich darauf einlassen? Andererseits konnte er vor seinem Bruder nicht kneifen. „Auf denn, dann würfeln wir. Wer am ehesten dreimal die Sechs würfelt, hat gewonnen. Ist das o.k. für dich?“
„Rolf, wir versündigen uns. Aber ja, so können wir spielen.“
So begannen sie zu würfeln, und die Partie hatte schnell etwas Gespenstisches. Dieser Einsatz ließ die härteste Pokerrunde wie einen Kindergeburtstag aussehen. Die Spannung stieg, beide hatten Schweißperlen auf der Stirn und Todesangst in den Augen. Ihre Stimmen verblassten zu einem seichten Krächzen, je häufiger die Würfel geworfen wurden. Als Detlef zwei Sechser auf seinem Konto hatte, brach Rolf vehement ab.
„Das hätte unser Vater nie gewollt, dass wir unser Leben am Spieltisch aufs Spiel setzen. Lass uns in Gottes Namen damit aufhören“, flehte er.

*

So verging ein weiterer Tag, und die Verzweiflung wuchs stündlich. Detlef, der sensible Verwaltungstyp, der am liebsten an seinen von Papieren übersäten Schreibtisch seine Arbeit verrichtete, hatte jegliche Hoffnung verloren.
„Wir kommen da nicht mehr raus“, resümierte er mit zittriger Stimme. „Ich werde deinem Rat folgen und mir eine Überdosis Tabletten einwerfen, dann bin ich alle Sorgen los.“
„Kommt gar nicht infrage“, widersprach plötzlich Rolf vehement und zeigte sich als Kämpfer. „Mit 51 macht man so etwas nicht“, hielt er, der robuste Praktiker und Macher des Betriebs, dagegen. Doch insgeheim hielt er den Gedanken für das Beste, was ihm passieren könnte. Mit den 200 000 Euro aus der Versicherung könnte er sich auf und davon machen und ein neues Leben beginnen. Augenblicklich entschloss er sich, sich mit Kommentaren und Antworten zurückzuhalten, um seinen Bruder ja nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Er schenkte einen Hochprozentigen nach dem anderen ein und überlegte, wie er ihn in seinem Beschluss sogar noch bestärken könnte?
„Detlef, ich bin genauso verzweifelt wie du. Stell dir vor, wie uns die Leute angaffen und über uns herziehen, wenn wir hier in diesem Nest eine Pleite hinlegen. Jeder bekommt das mit“, gab Rolf wiederholt zu bedenken.
„Und vergiss nicht, was wir abkriegen, wenn wir zu einem Schoppen ins Wirtshaus gehen. Vielleicht lassen sie uns nicht einmal einen Deckel machen, weil sie Angst haben, dass wir anschreiben lassen. Du glaubst gar nicht, wie ich mich jetzt schon schäme. Ich glaube, es ist wirklich das Beste, wenn ich die Augen für immer zumache.“
„So darfst du nicht reden.“ Rolf hielt zum Schein dagegen.
„Natürlich darf ich so reden! Ich werde es heute Abend tun.“ Seine Worte klangen nach Trotz und Entschlossenheit.
„Wenn du gehst, Detlef, dann gehe ich hinterher. Ich sehe auch keinen anderen Ausweg“, log er.
Sie schwiegen ein paar Minuten, weil jeder die Situation noch einmal in Gedanken durchging. Detlef beschäftigte die drohende Schmach so sehr, dass er in seiner deprimierenden Stimmung versuchte, sich mit seinen Fingern in die Tischplatte zu krallen. Dann entspannte er sich für einen Moment und ließ den letzten Widerstand auflodern. „Rolf, warum gehst du eigentlich nicht als Erster? Dann bekäme ich die 200 000 Euro.“
„Wir nehmen uns beide das Leben und machen Schluss, da ist es doch egal, wer zuerst geht.“ Und als Detlef keine Reaktion darauf zeigte, hängte er nach einer kurzen Pause an: „Ja, Detty, wir können es ja gleichzeitig tun.“
Rolf war augenblicklich besorgt, dass ihm seine Felle den Bach hinunterschwimmen könnten. „Wir gehen gemeinsam“, wiederholte er sich. „Aber Tabletten nehme ich nicht. Darauf muss ich nur kotzen. Das tue ich mir in der letzten Stunde meines Lebens nicht an. Ich werde mich erschießen.“

*

Detlef war beruhigt. Sie setzten sich in ihre schweren Ledersessel vor dem Kamin und erlebten in ihrem Halbrausch den Horror der letzten Minuten vor dem Freitod. Obwohl der Schnaps ihnen die Kehle zu zerbeißen drohte, leerten sie gemeinsam eine Flasche, und bevor der Alkohol vollends wirkte, schüttete sich Detlef die Wochenration seiner Herztabletten in die hohle Hand, fügte noch ein Dutzend Schlaftabletten hinzu und stopfte sich das tödliche Gemisch in den Mund. Dann spülte er mit einem großen Schluck Wasser nach. Er legte sich eine Decke über die Beine und versuchte einzuschlafen, aber offensichtlich war die Aufregung zu groß.

„Jetzt du!“, lallte er nach wenigen Minuten und schaute seinen Bruder an. „Rolf, mach, nun lass mich nicht allein!“
„Wir gehen gemeinsam, ich habe es dir zugesichert, Detty.“ Er kramte einen alten Revolver aus einer Schublade und kehrte in den Sessel zurück. Dann blieb er nachdenklich sitzen, ohne sich zu bewegen. Er wartete, dass bei seinem Bruder die Schlaftabletten wirkten, aber sie taten es nicht. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Detlef ihn an.
„Was is?“ brachte er schwer verständlich hervor. „Soll ich das Zeug wieder rauskotzen?“
„Nein, Bruder, ich tue es jetzt.“ Er hielt sich den Lauf an die Schläfe und schaute zu Detlef, dem anzusehen war, wie sehr er auf den Knall wartete.
Es machte klick, aber es knallte nicht. Gespielt verdutzt klappte Rolf die Trommel vom Gehäuse und schaute in die Kammern. „Die ist ja gar nicht geladen. Lass mich die Schachtel mit den Patronen suchen. Er stand auf und durchwühlte wahllos die Schubladen des mächtigen Wohnzimmerschrankes. Das tat er ohne Eile und in der Hoffnung, dass sein Bruder derweil einschlafen würde. Der blieb aber so wach, dass er um ein Haar aufgestanden wäre.
„Soll ich dir suchen helfen?“ lallte er.
„Nein, ich schau gleich mal im Keller nach.“ Warum nur dauerte das so lange mit den Schlaftabletten?, fragte er sich zum wiederholten Male.
Detlef hatte immer noch die Augen offen. Da sah Rolf den Moment gekommen, an Beschleunigung zu denken. Wer weiß, wann das Zeug wirkt, murmelte er in sich hinein. Dabei kam ihm der Gedanke, in für Detlef durchaus angenehmer Weise nachzuhelfen.
„Ich gehe jetzt im Keller suchen. Irgendwo muss ich die Scheißdinger hingelegt haben. Oder hast du sie vielleicht verlegt und weißt es nicht mehr?“ er schaute Detlef an und wartete, um Zeit zu schinden. Dann tat er so, als würde er sich in den Keller begeben. „Warte, ich bin gleich zurück.“ Doch er betrat die Kellertreppe nicht, sondern schlich sich in die Küche und drehte den Gashahn auf. Dann schnappte er sich sein Jackett von der Garderobe, öffnete die Tür zum Keller, ließ sie ins Schloss fallen, blieb noch eine Minute im Flur stehen, bis er deutlich den Geruch von Gas feststellen konnte, und tippelte lautlos zur Haustür.
Zwanzig Minuten später betrat er die Vereinsklause vom FC Brocksassen, mischte sich sofort unter die stimmungsgeladenen Fans und begnügte sich mit drei Weinschorlen über den gesamten Abend. Er hatte sich vorgenommen, auf keinen Fall betrunken nach Hause zu kommen. Als der Wirt um halb eins das erste Signal zum Zapfenstreich gab, begab er sich an die Theke und bat ihn, ein Taxi zu rufen. Das erschien auch Minuten später und brachte Rolf nach Hause.
„Macht acht Euro fünfzig“, sagte der Taxifahrer, als sie angekommen waren.
„Ich hab kein Geld mehr einstecken“, erwiderte Rolf. „Ich hole welches. Kleinen Moment.“
„Beeilen Sie sich, ich hab noch eine Fahrt“, rief der Taximann ihm hinterher.
„Ja, ja!“ krächzte Rolf ärgerlich und öffnete die Haustür. Aus gutem Grund ließ er das Licht aus und öffnete an der Vorderfront des Hauses ein Fenster nach dem anderen im Dunkeln. Dann war er nicht mehr zu sehen. Da wurde es dem Taxifahrer zu bunt. Er ging zur Haustür und wollte Sturm klingeln, aber als sein Finger den Klingelknopf betätigte, erschütterte eine riesige Explosion das Gebäude.

*

Tragische Geschichten enden bisweilen auf kuriose Weise. Als Rolf aus Detlefs Sicht aus dem Keller nicht mehr zurückkehrte und er den Geruch von Gas wahrnahm, schleppte er sich auf allen Vieren zur Terrassentür, drückte den Rollkugelverschluss mit seinem Körpergewicht auf und erreichte die Treppe, die in den Garten führte. Da müssen ihn die letzten Kräfte verlassen haben: Er rutsche kopfüber die sieben Stufen hinunter, malträtierte seinen Magen dabei so sehr, dass er, endlich unten angekommen, sich erbrechen musste. Die Feuerwehr fand ihn, den Kopf in einer Lache aus verflüssigten Medikamenten, einer Mahlzeit und einer undefinierbaren schäumenden Ansammlung von Alkohol, Magensäften und Blut, das von einem auf der Treppe ausgeschlagenen Zahn stammte.
 



 
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