Moshe jubelt nicht

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RoToll

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Liebe Judith,

hiermit lasse ich Dir, wie wir es besprochen haben, die Lebensgeschichte meines guten Freundes Moshe Stern in Kurzform zukommen. Ein bisschen geht es hier natürlich auch um mich. Ich bin nicht der beste Literat, aber ich hoffe doch sehr, dass Du mit dieser Geschichte in Deinem Projekt etwas anfangen kannst.



Wenn Du Fragen hast, kannst Du mich jederzeit anrufen oder Du klingelst einfach an der Türe.



Viele Grüße bitte auch an Hainer und natürlich an den Nachwuchs!



Rainhard




Moshe jubelt nicht

Ich lernte Moshe Daniel Stern, das ist mir noch genau im Sinne, am 07. Juni 1939 im Konzentrationslager Dachau kennen. Es war ein Mittwoch gewesen. Mich hatten die Nationalsozialisten hierher verschleppt, weil meine politische Anschauung eine Gefahr für ihr Weltbild bedeutete. Ja, und damit hatten sie nicht Unrecht. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den Faschismus und dessen Anhänger für alle Zeiten aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben verbannt. Damit hielt ich nicht hinter dem Berg und deshalb saß ich wieder einmal im Lager ein. Moshe hingegen vertrat keine Sichtweise, die dem Nationalsozialismus irgendwie hätte gefährlich werden können. Er war ein unpolitischer Mensch in Reinkultur. Politik interessierte ihn nicht. Seine große Leidenschaft als Ingenieur war die Technik. Nein, Moshe war nur wegen einer Sache inhaftiert. Er war Jude. Jude ist in meinen Augen ein mehr religiöser Begriff. Und Moshe war auch nicht religiös, weil er die Antworten auf die Fragen dieser Welt in der Wissenschaft und nicht in einem Gotteshaus suchte. Mit dem Judentum hatte er strenggenommen weniger zu tun als ich, der sich mit den Schriften von Theodor Herzl befasst hatte. Moshe war kein Zionist, denn auch das interessierte ihn nicht. Trotzdem hatten sie ihn gedemütigt, geprügelt und eingebuchtet. Denn in ihren Augen war er als Jude eine große Gefahr für das Reich.

Moshe und ich freundeten uns an. Gemeinsam ertrugen wir den Lageralltag aus harter Arbeit, willkürlichen Schlägen und ständiger Angst, der jeweils heutige Tag könne der letzte sein. Wir lebten ohne irgendwelche Rechte und waren Menschen ausgeliefert, die unsere Leben, wann immer es ihnen gerade passte, jederzeit beenden konnten. Dann wurde Moshe gen Norden gebracht. Ein Offizier der SS-Totenkopfverbände, welche dieses Lager betrieben, teilte ihm mit, dass heute sein Glückstag sei. Er verfüge über Fähigkeiten, die anderorts nun gebraucht würden. Eine sehr spezielle Tätigkeit warte auf ihn.

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich Moshe niemals wiedersehen täte. Selbige Ansicht vertrat auch er. Auf die Aussagen eines Sturmbannführers durfte kein Häftling etwas geben. Mit der speziellen Tätigkeit konnte alles und nichts gemeint sein; tatsächliche Arbeit oder Ermordung. Das schreckliche Ungewisse voller Hoffnungslosigkeit lag vor meinem guten Freund. Doch Pläne für die Zukunft machte man in unserer Situation ohnehin nicht.

Irgendwie gelang es mir, ich weiß bis heute nicht genau, wie ich es fertiggebracht habe, meine Odyssee durch diverse Konzentrationslager auf Reichsgebiet zu überleben. Im Frühjahr 1945 befreiten mich die Amerikaner. An Moshe hatte ich über all die Zeit sehr häufig gedacht und mich stets gefragt, was wohl aus ihm geworden sei. Ich war mir sehr sicher, vor allem als dann immer mehr an meine Ohren drang, was die Nazis mit den Juden angestellt hatten, dass Moshe Daniel Stern in irgendeinem Vernichtungslager im Osten gestorben wäre.

In einem Lazarett erholte ich mich, der ich nur noch aus Haut und Knochen bestand. Danach machte ich mich auf, hinein in diese Welt der unmittelbaren Nachkriegszeit, um mich irgendwie durchs Leben zu schlagen. Zu Fuß zog ich durch ein geschlagenes Land, das zu großen Teilen unter gewaltigen Trümmerbergen lag. Ich ging lange, für viele Tage, aber endlich erreichte ich meine Heimat Ostwestfalen. In einem Bauernhof fand ich ein kleines Zimmer und durfte es bewohnen unter der Bedingung, dass ich hier und dort ein wenig in dem landwirtschaftlichen Betrieb aushalf. Manchmal, wenn ich des nachts die Zimmertür hinter mir schloss, weinte ich leise und heimlich wegen all der guten Menschen, die ich in den Lagern hatte sterben sehen. Doch vor allem weinte ich um Moshe.

Aber 1949 erhielt ich einen Brief vom Vermisstendienst des Roten Kreuzes. Ein Moshe Daniel Stern hatte nach mir suchen lassen. Er hatte diese Hölle ebenso wie ich überlebt. Das konnte man kaum in Worte fassen. So gerieten wir wieder miteinander in Kontakt.

Auch Moshe war in seine Heimat, die in Nürnberg lag, zurückgekehrt. Wir schrieben einander viele Briefe und trafen uns bei sich bietenden Gelegenheiten. Später, als das Telefon immer mehr Einzug in die gemeine Welt hielt, kommunizierten wir auch über Fernsprecher. Es waren stets, in welcher Form auch immer, tiefergehende Dialoge, in deren Verlauf wir wahrlich über Gott und die Welt philosophierten. Jedoch trafen wir wohl eine Art stillschweigende Übereinkunft; niemals redeten oder schrieben wir über die Zeit in den Lagern. Falls überhaupt diese Thematik berührt wurde, geschah es nur ganz, ganz am Rande, eher beiläufig.

Die Zeit verstrich und mit jedem sich verabschiedenden Jahr tat sie das irgendwie gefühlt immer rascher. Ein erster Mensch aus der Sowjetunion flog hinauf ins All und die Amerikaner fasten den ehrgeizigen Plan, bald einen Fuß auf unseren Trabanten zu setzen. Den Wettlauf ins All verfolgte ich voller Interesse und Leidenschaft. Dieses war ein Thema, welches wirklich begeistern konnte.

Dann brachen am 16. Juli 1969 drei Astronauten auf und am 20. Juli tat der erste Mensch Schritte auf dem Mond. Dieses Ereignis bewegte die Welt wahrlich. Überall rund um den Globus jubelten Exemplare unsere Spezies, sprachen sich Wildfremde an, um über diesen Meilenstein unserer kollektiven Geschichte zu diskutieren. Eine niemals zuvor gekannte Euphorie ergriff uns allesamt.

Doch Moshe jubelte nicht. Wir telefonierten am Tag nach der Landung und mein alter Freund und Leidensgenosse war sehr bedrückt und sprach nicht viel. Ein paar Tage später erhielt ich seinen Brief. Moshe berichtete über die Hölle von Peenemünde, wohin die Schutzstaffel ihn von Dachau gebracht hatte. Er berichtete vom Bau der Raketenwaffe V2, an er als Ingenieur unter härtesten Bedingungen mitwirken musste. Er berichtete von tausenden von Zwangsarbeitern, welche er dort oben an der Küste im Rahmen des Raketenbauprogramms hatte sterben sehen. Er berichtete von dem Projektleiter, den SS-Offizier Wernher Magnus Maximilian Freiherr von Braun, der die Arbeiter unerbittlich antrieb und dem es nicht im Ansatz interessierte, wie viele Menschen dabei starben. Er berichtete, wie eben dieser Wernher von Braun nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten ging, problemlos die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangte und Vater des US-Raketenprogramms wurde. Ohne sein Tun hätte Neil Armstrong niemals Spuren auf dem Mond hinterlassen. Ja, es stand außer Zweifel fest, dass Werner von Braun auch der Vater der Mondlandung war. Und deshalb gehörte Moshe zu den Menschen, die nicht jubelten.

Ein knappes halbes Jahr später, am 12. Februar 1970, beendete mein guter alter Freund sein Leben, indem er von einer Brücke vor einen fahrenden Zug sprang. Die letzten Worte in seinem letzten Brief, den ich erhielt, lauteten:

- Die Täter zeigen keine Reue. Sie leben beinahe das Leben eines Königs. An nichts fehlt es ihnen. Sie werden bejubelt und beklatscht und niemand zweifelt an ihren falschen Lächeln. Niemand von ihnen muss sich der Verantwortung stellen. Und die Opfer, ja die Opfer, mein guter Freund, die empfinden es als einen Luxus, wenn sie einmal mehr als drei Stunden Schlaf in der Nacht finden. Sie haben überlebt, natürlich, aber den Erinnerungen können sie nicht entkommen. Es ist dieses Faktum, mein lieber Rainhard, was mich an dieser Welt zweifeln lässt! –



Anmerkung; im Jahre 1988 (und weit darüber hinaus) tragen in unserem freien, demokratischen Deutschland etliche Schulen, Straßen und Plätze den Namen Wernher von Braun. Die aktuelle Geschichtsforschung geht davon aus, dass etwa zwölftausend Zwangsarbeiter unter von Brauns Tun ihr Leben verloren.



Bielefeld-Brackwede im März 1988, Rainhard Gustav Schramm
 



 
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