Methode Muffels

Als Ralf und Rolf Muffels noch gemeinsam im Laufstall saßen, war bereits deutlich zu erkennen: Diese Zwillinge unterscheidet mehr als nur ein Vokal im Vornamen.
Ralf war meist mit pedantischer Ruhe damit beschäftigt, seine Bauklötze sorgfältig nach Farbe und Größe zu sortieren. Rolf nutzte die von seinem Bruder säuberlich gestapelten Holzklötze als Wurfgeschosse. Mit erstaunlicher Kraft und Treffsicherheit, raubte Rolf seiner Mutter langsam aber sicher den letzten Nerv - und sorgte immer öfter für blaue Flecke.
Ralf beschäftigte sich gern allein und war sich selbst zumeist genug Gesellschaft. Rolf forderte Aufmerksamkeit. Ohne Rücksicht auf Verluste.



Heute – ein halbes Jahrhundert später – hat sich daran nicht viel geändert. Rolf wirkt mit seinen nun 51 Jahren ein wenig wie ein Berufsjugendlicher. Seine Kleiderwahl könnte in den meisten Fällen eher als Verkleidung interpretiert werden. Er führt eine – angeblich – florierende Werbeagentur in, natürlich, Berlin. Dafür, dass er seinen Aussagen nach Gründer einer der angesagtesten Agenturen der Digitalszene sei, ist er in letzter Zeit allerdings auffällig oft zu Besuch auf dem brüderlichen Sofa in der alten Heimat der Zwillingsbrüder. Genaugenommen hat er sich seit dem letzten Besuch vor einem halben Jahr eigentlich gar nicht mehr vom erwähnten Sitzmöbel weg bewegt, fiel es Ralf nun auf.
Denn Ralf war gut darin, Dinge zu beobachten und sich seinen Teil zu denken. Ihn hat es nie in die Großstadt getrieben. Er mochte es ruhig. Nach seinem Studium der Geschichte hat es ihn zurück aufs Dorf gezogen. Da kam es ihm gelegen, dass im kleinen Rathaus seines Geburtsortes ein Archiv mit Dokumenten zur Geschichte der Region eingerichtet wurde. Seit nun schon mehr als 25 Jahren war eben dieses nun sein Arbeitsplatz.

Ralf und Rolf hatten einige Jahre nur losen Kontakt. Der Kinderwunsch ihrer Eltern hatte sich für die damalige Zeit recht spät erfüllt. So waren die Zwillinge erst in ihren frühen Dreißigern, als ihre Eltern leider recht kurz nacheinander starben. Für die Zwillinge eine schwere Zeit. Klar, sie hatten ihren Eltern oft, die, ihrer Ansicht nach doch sehr einfallslose, Namenswahl – “Ralf und Rolf, wie albern is’ das denn?!” – vorgehalten, dennoch, beide hingen sehr an ihren Eltern. In den Jahren nach dem Tod der Eltern trafen die Brüder sich gelegentlich. Aber immer weniger. Irgendwann waren es nur noch Telefonate zu Weihnachten und dem gemeinsamen Geburtstag.

Ralf hatte sich keine große Mühe gegeben, die Beziehung zu seinem Bruder zu verbessern. Die extrovertierte, laute Art seines Zwillings brachte ihn seit frühester Kindheit schnell an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Ralf mochte es, wenn alles in geordneten Bahnen verlief. Vor allem mochte er es, wenn er den Weg der Bahnen vorhersehen konnte. Richtungswechsel waren seine Sache nicht.

Als Rolf vor etwas mehr als einem Jahr plötzlich anrief und kurzfristig einen Heimatbesuch ankündigte, wurde Ralf von einem regelrechten Gefühlschaos überwältigt: Überraschung, Skepsis, Angst, Nervosität, Freude. Rolf war schließlich sein nächster Verwandter. Es folgten ein paar Wochenendbesuche, die eigentlich überraschend unterhaltsam waren. Auch wenn Rolf es gelegentlich mit den Geschichten über seine Erfolge im fernen Berlin auf die Spitze trieb.
Nun saß er also bei Ralf auf der Couch. Weiße Sneaker, enge Jeans, die bis über die buntbesockten Knöchel hochgekrempelt waren, ein wild gemusterter Kapuzenpullover, der über dem Bauch ziemlich spannte und ein Basecap. Ralf musste bei dem Anblick an einen aus dem Ruder gelaufenen Kindergeburtstag denken, bei dem ein Zauberer das Geburtstagskind versehentlich in einen älteren Herrn mit leichtem Übergewicht verwandelt hat. Nur die Brille mit riesigen Gläsern und Goldrand, die auf Rolfs Nasenspitze balancierte, passte nicht ganz in dieses Bild.

Rolf hackte sichtlich nervös auf sein MacBook ein. Der Computer rauschte in einer Lautstärke, die an ein startendes Flugzeug erinnerte. Das Gerät war offenbar schon etwas in die Jahre gekommen. Ralf stand in der Tür zum Wohnzimmer und beobachtete seinen Bruder. In den letzten Wochen war Rolf immer ruhiger geworden. Seit zwei Tagen saß er fast ununterbrochen vor dem Bildschirm. Wenn er überhaupt noch Laute von sich gab, war es ein leises Fluchen. Ein ungewöhnliches Verhalten für seinen Bruder, fand Ralf. Sehr ungewöhnlich. Normalerweise war bei Rolf immer alles “easy”, “fly” oder gerne auch “lit”.

“Alles okay, Rolf?”

“Ja, ja!” Rolf hatte die Augen nicht vom Bildschirm gehoben. “Muss nur mal kurz telefonieren.” Er sprang auf und ging schnellen Schrittes in den Garten, versäumte es aber nicht, die Tür sorgsam hinter sich zu schließen. Ralf beobachtete seinen Bruder, wie er im Garten auf und ab lief und angestrengt in sein Smartphone sprach. Sehr, sehr ungewöhnlich.

Eine Stunde später stellte Ralf gerade eine Lasagne auf den Küchentisch, als Rolf die Küche betrat. “Na, alles easy?” Selbst für Rolfs Verhältnisse klang die Frage unter diesen Umständen albern. “Äh, ja...bei mir schon”, antwortete Ralf irritiert. Rolf nahm einen Teller aus dem Küchenschrank, platzierte ihn neben der Auflaufform, nahm seinem Bruder den Pfannenwender aus der Hand und scheffelte sich ungefähr drei Viertel der Lasagne auf den Teller. Das Telefonat hatte sein Befinden offensichtlich erheblich verbessert. Ein Umstand, der Ralf zu einer vorsichtigen - aber bestimmten - Nachfrage animierte: “Du sag mal, hast du eigentlich schon irgendeine Idee, wenn auch nur ganz grob, wann du mal wieder nach Berlin fahren willst? Nicht, dass ich dich loswerden will...ich frag’ nur.”

Rolf sackte zusammen. “Ich glaube, ich muss dir ein paar Sachen erzählen”, er flüsterte fast. Das Sprechen schien ihn Überwindung zu kosten. Von seiner kurzzeitigen guten Laune war keine Spur mehr.

“Ich kann nicht mehr nach Berlin. Zumindest erstmal nicht.”

“Was ist los?” Ralf war nun wirklich besorgt.

“Ich habe Schulden. Und es suchen Leute nach mir.”

“Äh...bitte?!” Ralf gab sich überrascht - aber etwas in diese Richtung hatte er fast erwartet.

“Das ist ‘ne längere Geschichte.”



Rolf dekonstruierte seine Berliner Erfolgsgeschichte in knappen Worten. In den letzten Jahren hatte er sich mit verschiedenen Jobs über Wasser gehalten und nebenbei in Kneipen und Cafés Kontakt zu jungen Menschen aus der Startup-Szene gesucht. Dank Eloquenz und seinem extravaganten Auftritt hatte er in diesen Kreisen nach einer Weile ein gewisses Standing. Da Rolf – zumindest seiner Meinung nach – immer zu Größerem berufen war, kam dann bald die Idee einer eigenen Werbeagentur auf.

Durch seinen mühsam, mit Milchkaffee, Bier und langen Nächten, erarbeiteten Ruf gelang es ihm sogar bei verschiedenen Initiativen einige Fördergelder abzugreifen. Nach der Gründung von MuffelsAd© konnte er so ein paar Leute einstellen, die wirklich Ahnung hatten. In der tatsächlichen Arbeit wurde dann jedoch schnell klar: Rolfs eloquente und extrovertierte Art war nichts weiter als Blendwerk. Was dazu führte, dass Rolf ziemlich schnell sein einziger Angestellter war. Die vorher bereits eher spärlichen Einnahmen versiegten bald völlig. Rolfs Vermieter und das Finanzamt wollten aber weiterhin Geld von ihm. Noch immer von seinen Fähigkeiten überzeugt, wandte Rolf sich aber nicht an offizielle Stellen für Rat oder Hilfe. Sondern suchte nach anderen Geldquellen – und wurde fündig.

Seine neue Geldquelle hatte allerdings enge Kontakte zur organisierten Kriminalität in der Hauptstadt. Nun wurden Rolfs Schulden fällig. Plus Zinsen. Und er konnte nicht zahlen. Nach zwei handfesten Warnungen und einer verwüsteten Wohnung machten die Handlanger seines Geldgebers unmissverständlich klar, dass es beim nächsten Treffen keine Warnungen mehr geben werde. Wenn kein Geld fließt. Rolf entschloss sich zur Flucht.



“Wie viel?” fragte Ralf.

“50.000.”

“Scheiße.”

“Ich habe in den letzten Wochen versucht, ein bisschen Geld mit Bitcoins zu machen...der Kurs ist in den letzten Tagen aber ziemlich abgerauscht”, Rolf klang als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

Darum sitzt er also ständig nervös am Laptop, dachte Ralf.

“Oh man...Rolf! Was für eine totale Scheiße! Wieso sagst du denn nichts?” Ralf wurde laut.

“Warum soll ich dich denn da mit reinziehen? Das ist doch mein Problem.”

“Was heißt denn mit reinziehen? Du kannst doch deine Sorgen mit mir teilen! Und was war das für ein Telefonat? Deiner Laune nach schienen das doch gute Nachrichten zu sein.”

“Das war ein Freund aus Berlin. Der hat über ein paar Kontakte herausgefunden, dass die Typen, die mich suchen, wohl keine Ahnung haben, wo ich bin.”

“Na ganz toll. Das ist doch nur eine Frage der Zeit, Mensch!” Ralf musste seine Wut zügeln und atmete tief durch.

Rolf antwortete mit einem Schulterzucken.

“Ich muss das erstmal sacken lassen...ich gehe in’s Bett. Wir sprechen morgen nochmal! Gute Nacht.” Ralf ging aus der Küche und ließ seinen Bruder am Küchentisch sitzen. Rolf kam das ganz gelegen, für ihn war die ganze Situation unangenehm genug. Er hatte keine große Lust, nun auch noch mit seinem Zwilling zu diskutieren.

Rolf wurde von einem festen Griff an seine Schulter geweckt. Er war kurz nach seinem Bruder schlafen gegangen. Nun stand Ralf vor seinem Bett im dunklen Gästezimmer und flüsterte: “Es ist jemand im Haus.”

“Was? Wer?” rief Rolf.

“Leise, Mensch. Ich kümmere mich. Schließ die Tür hinter mir ab. Wenn ich in fünf Minuten nicht wieder an der Tür bin, ruf die Polizei.”

“Was? Aber…” Rolf war zwar sofort wach, verstand aber überhaupt nichts. Sein Bruder war bereits aus der Tür. Rolf schloss ab und suchte im dunklen Zimmer nach seinem Smartphone. Dann hörte ein paar dumpfe Geräusche und etwas wie ein Stöhnen oder Ächzen. Kurz darauf klang es, als würde jemand zwei schwere Sporttaschen aus großer Höhe zu Boden werfen. Dann Stille. Rolf hielt den Atem an.

“Okay! Komm runter.” Ralfs Stimme.



Ralf Muffels hatte neben seiner Arbeit im Stadtarchiv und dem Interesse an Geschichte eine weitere große Leidenschaft. Von dieser wusste allerdings kaum jemand. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar waren, war ihm dieses Hobby unangenehm. Vielleicht weil sie in keinem größeren Kontrast zu den Tätigkeiten stehen konnte, für die er bekannt war.

Mixed Martial Arts, kurz MMA, ist ein Vollkontakt-Kampfsport. Hier werden Schlag- und Tritttechniken mit Bodenkampftechniken verbunden. Für Beobachter wirkt dieser Sport besonders brutal, da es durchaus vorkommt, dass der Gegner auch noch am Boden liegend geschlagen und getreten wird.

Als Ralf Anfang der 1990er Jahre zum Studium in die Stadt zog, war sein Mitbewohner Stefan einer der ersten, der diesen Sport auf professionellem Niveau betrieb. Da Ralf neu in der Stadt war und niemanden kannte, freundete er sich schnell mit Stefan an. Nach anfänglichem Zögern begleitete er seinen Mitbewohner zu einer Trainingseinheit. Und war fasziniert. Der Sport war roh und brutal und eine vollkommen neue Welt für Ralf. Gleichzeitig staunte er, wie entspannt und ausgeglichen die Sportler vor und nach dem Training wirkten. Nach einem Probetraining war er schließlich wirklich überzeugt.

Als Ralf nach dem Studium zurück in seinen Heimatort zog, fand er ein paar Orte weiter einen kleinen MMA-Club. Seit über zwei Jahrzehnten war er nun dort Mitglied, fuhr mindestens ein- bis zweimal pro Woche zum Training und prügelte sich. Fair und sportlich natürlich. Wettkämpfe vermied er, darum ging es ihm nicht. Neben seiner doch recht ereignislosen Arbeit, waren die Trainingsstunden für ihn ein absolut ausreichender Adrenalin-Lieferant.



Rolf öffnete vorsichtig seine Zimmertür und lugte durch einen schmalen Spalt. Aus dem Erdgeschoss schien Licht herauf. Er ging hinaus und schaute vom Treppenabsatz in den unteren Flur. Zwei Männer lagen bewusstlos auf dem Bauch. Ihre Hände und Füße waren auf dem Rücken mit Verlängerungskabeln zusammengebunden. Rolf erkannte die beiden sofort. Sie hatten ihn bereits in seiner Berliner Wohnung besucht. Hinter dem außer Gefecht gesetzten Schlägerkommando stand Ralf. Er grinste.
 



 
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