Meine Ich-Schüssel

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petrasmiles

Mitglied
Wann bin ich eigentlich ich? Oder wer ist das, der gerade denkt und fühlt? Ich bin traurig, aber nicht unangenehm.
Schön auch nicht, flirrt da ein Widerspruch an der Schalenkante entlang.

War das jetzt ein Gedanke oder ein Impuls? Sind Impulse auch ich? Oder bin ich ein Orchester?

Das ist alles gerade ganz schön wirr und schwappelig. Da fliegen Bilderfetzen von dem Film gestern durch eine Ansammlung von Gefühlen im Bauch
und der Lärm löst Fluchtreflexe aus, die aber in dem Konzert gerade untergehen.
Was war jetzt noch einmal wichtig? Ach ja, Kaffee. Da muss jetzt die Sorge um den Weltfrieden ein bisschen zur Seite treten.
 

Scal

Mitglied
ich ... wann ... wer ...
Jemand, der in sich vollziehende Ereignisse,
auf irgendeine Weise - so oder so und immer soeben -
involviert ist.

Derlei Fragen beschäftigen mich auch. Sein und Situation.

LG
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Scal,

danke für Deine 'Komplizenschaft' - und Dir und fee für die Sternchen.

In jungen Jahren ging ich immer davon aus, dass alle so sein müssten, und dies erlebten: Dieser (nicht nur) morgendliche Wirrwar und das Ringen um die Position (immer nur als Momentaufnahme), und bis heute frage ich mich, ob es Leute gibt, die immer Ordnung im Kopf haben ... geht ja eigentlich gar nicht, wenn man involviert (!) ist.

Liebe Grüße
Petra
 

Scal

Mitglied
... immer Ordnung im Kopf .... ja, geht gar nicht ....ist unmöglich.
Wir leben immer in Konstellationen (Zusammensternungen).
Aber es gibt eine innerliche Instanz, die zwischen Chaos und Kosmos zu unterscheiden weiß.
Denken, Fühlen und Vertrauen.
 

petrasmiles

Mitglied
... danke, das ist eine großartige Erklärung!
Bleibt die Frage, warum man(che) den Eindruck zu erwecken suchen, bei ihnen sei es so ... aber das ist ein anderes Thema!
 

rubber sole

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Hallo Petra,

die Frage ist, gibt es überhaupt das einheitliches Ich, ausgelebt als individuelles Gesamtkunstwerk? Ich meine nicht. Es sind wohl mehrere Ichs, die uns antreiben und mit unterschiedlich stark ausgeprägter Egozentrik steuern – damit kann man lernen umzugehen.


Gruß von rubber sole
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo rubber sole,

ich tendiere auch eher in die Richtung, aber parallel findet ja auch eine Art Verarbeitungsprozess statt. Die multiplen Ichs sind ja nicht autonom, sondern allenfalls Aspekte eines Erlebens oder Seins etc. Daher sehe ich das Ich eher als eine Identität (oder Entität?) an, die mit den Gedanken, Gefühlen und Impulsen klarkommen muss.
Was ich nicht teile, ist eine steuernde Egozentrik, denn das hieße ja, dass wir ein eher undurchlässiges Konstrukt sind, das nur von innen gesteuert wird. Das denke ich ganz und gar nicht. Ich halte die Menschen - aus welchen Gründen auch immer - für unterschiedlich durchlässig.

Liebe Grüße
Petra
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Petra,

der Begriff Egozentrik ist, auch im reinen Sinne des Wortes, überwiegend negativ besetzt. Für die Entwicklung einer wahrzunehmenden Individualität ist ein gewisses Maß an Egozentrik jedoch notwendig, denn: ohne Ich kein Du und folglich auch kein Wir.

Gruß von rubber sole
 
Das sind mir ja verstörende Gedankengänge, liebe Petra. Als Jüngerer hatte ich sie oft, heute nicht mehr. Der alte Mensch ist damit vertraut, sich als etwas aus geschichtet Heterogenem aufgebaut zu betrachten. Vielleicht ist das Ich nur ein theoretisches Konstrukt? Oder sollen wir die Kraft, die den ganzen Laden zusammenhält, das Tohuwabohu halbwegs bändigt, als die Instanz verstehen, der die Bezeichnung Ich am ehesten zukommt? Und wenn dahinter nichts weiter als eine biologisch begründete Rationalität steckt = konditionierter Überlebenswille, wie er zur allgemeinen Grundausstattung gehört? Ich denke, man kann sich selbst auch als eine fortlaufende Ereigniskette betrachten, und mir scheint, mein Ich kommt dann am reinsten zur Geltung, wenn es diese Kette von Ereignissen, Wirkungen, Konflikten und Zusammenstößen recht frei von Theorien, Wertungen und Interessen rein passiv oder kontemplativ vor sich und getrennt von sich wahrnimmt, als ein Objekt für das eigene Bewusstsein? Womit wir bei der Frage landen, was es denn eigentlich mit diesem Bewusstsein auf sich hat: woher, wohin? Und jetzt kann man leicht ins Religöse abdriften und hält lieber inne ...

Dein Bild von der Schüssel ließ mich eine von mir sehr bewunderte Stelle bei Musil nachschlagen. Sie ist zu lang, um hier zitiert zu werden. Wer den großen Roman zu Hause hat, findet sie im 1. Teil, Kapitel 8 ("Kakanien"), zum Ende hin. Musil verwendet hier das Bild von einer Mulde, in die sich alles Mögliche ergießt. (Eine Schüssel ist auch eine Mulde.) Musil zählt die vielen Charaktere = Identitäten auf und schreibt: " ... er vereingt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andere Mulde zu füllen ..." Eine desillusionierende, aber auch erleichternde Betrachtungsweise.

Schönen Abend
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Guten Abend,lieber Arno,

und danke für Deinen Besuch.
Da hast Du im ersten Absatz sehr treffend ausgeführt, welche Faktoren alle berücksichtigt werden müssten und mit hineinspielen - in dieses Ich-Konstrukt.

Das Bewusstsein würde ich auch gerne unberücksichtigt lassen - dem kommt man ohne Fachwissen nicht bei, und akademisch wollte ich hier nicht werden - eher diese unvermuteten Ich-Erfahrungen streifen, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man (gerade) besonders durchlässig ist - oder auch 'bei sich' in eine Art unbewusstem, absichtslosen Hinterfragungsmodus, kaum artikulierbare Blitze von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen.

Bei der Mulde bin ich nicht bei Musil. Ich sehe da nichts verrinnen, im Gegenteil bleibt alles drin, setzt sich vielleicht ab am Rand der Schüssel, aber immer mal wieder löst sich durch einen Geruch oder ein Bild so ein Bröckchen und drängt sich in den Vordergrund der Betrachtung. Aber ohne Kenntnis des Romans (Der Mann ohne Eigenschaften?) - möchte ich das nicht weiter ausführen, weil ich den Kontext nicht kenne.

Für mich fühlt es sich so an, als sei dieses Ich von Anfang das gleiche gewesen wie ich es heute spüre und die Erfahrungen, Lernprozesse, Ereignisketten, beeinflussten die Artikulation von Vorgängen, aber nicht 'das Wesen' - vielleicht, weil ich immer schon viel reflektiert habe. Meine Fehler waren dem Reifestand geschuldet wie auch der erfolgreiche Umgang mit mir selbst.
Ich habe es auch von anderen Menschen gehört, dass sie noch das gleiche Kind und junger Mensch sind, wie heute als 'Erwachsener'.

Aber bevor ich jetzt über 'das Wesen' weiter spekuliere, mir geht es eigentlich darum, einerseits diese Entscheidungsprozesse, wer ich bin - zugegeben aus weiter Ferne - zu betrachten, wer ich bin in Abgrenzung dazu, wer ich sein will oder soll. Und andererseits daraus schließen, dass mein Ich Folge eines Entscheidungsprozesses ist, sogar multipler. Im Rahmen meines Ichs entscheide ich, wer ich bin: Wie ich gesehen werde möchte, was ich mir erlaube und verbiete, was ich akzeptiere und was nicht - und auch, was ich ausblende - und da sind wir noch nicht beim Du.

Ich denke, diese Reise ist und bleibt spannend.

Liebe Grüße
Petra
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Petra,

interessante Fragen wirfst du da auf ...

Und bis heute frage ich mich, ob es Leute gibt, die immer Ordnung im Kopf haben ... geht ja eigentlich gar nicht, wenn man involviert (!) ist.
Ich frage mich, ob es erstrebenswert ist, Ordnung im Kopf zu haben. Klar, der Begriff Ordnung ist positiv besetzt, und wer "immer" Ordnung im Kopf hat, kann ein ordentliches Leben führen. Aber auch mehr? Ich halte es da eher mit dem ollen Nietzsche: "Du musst noch Chaos in dir haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."
 

petrasmiles

Mitglied
Off topic - ich stolpere gerade über Deine Signatur ... ich habe eben die Biographie über Chandler zu Ende gelesen und muss sagen: Da hast Du Dir den Kernssatz rausgepickt!
Aber zu Nietzsche ... das nenn' ich mal ambitioniert! Glücklicherweise gibt es zwischen den Extremen noch jede Menge, wo man sich einordnen kann. Einen Stern zu gebähren - und dann noch einen tanzenden, boah! Aber ich denke, dass man bei den Geburtswehen schon mal ganz gerne verschnaufen würde in einem befriedeten Chaos - nur, dass man zu dem Zeitpunkt wohl keine Wahl mehr hat ...
Danke für Deinen Kommentar!

Liebe Grüße
Petra
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Petra,

wie schön, dass du - wie ich - seine Biografie gelesen hast. Ich bin durch Chandler zum Lesen gekommen. Ich war schon immer ein Filmfreak, und als ich The Long Goodbye gesehen hatte, musste ich an die Quelle. (Hammett ist allerdings mein Favorit.) Chandlers Marlowe bot mir in meinen 20ern jedoch die größte Identifikation: Ein Mann, der ausschließlich seinen eigenen Prinzipien folgt, loyal ist, und dafür bereit ist, alle sich daraus ergebenden Unannehmlichkeiten stoisch hinzunehmen: Er wohnt in einem 1-Zimmerapartment, trinkt, spielt Schach gegen sich selbst, lässt sich für einen Freund einsperren … Heroisch. (Okay, das fast schon Asexuelle, hab ich geflissentlich ausgeblendet.) Dieses Verhalten war angemessen in den 30er Jahren (The Big Sleep), reaktionär in den 50ern (The Long Goodby), karikaturistisch in den 70ern (The Long Goodby - Filmversion).

Um den Bogen zu meiner Signatur zu spannen: Chandler’s Verhältnis zu Frauen war genauso ambivalent wie sein Verhältnis zu Hollywood. Problem: Er wusste nicht, wovon er schreibt. Die Szenen mit der Nymphomanin in The Big Sleep sind exemplarisch dafür. Besser gesagt, wie sich Chandler eine Nymphomanin vorgestellt hat - aberwitzig. Und: nicht nur, dass er - seinen Prinzipien folgend - nicht mit ihr schläft, nein, er muss sogar das Laken zerreißen, auf dem sie nackt lag. Ja, wir haben verstanden: Marlowe ist weder käuflich noch interessiert.

Hollywood war zum Scheitern verurteilt. Er hatte keine Ahnung von Film, und die 9-5-Schreibwerkstatt passte nun wirklich nicht zu seinem, sagen wir, Lifestyle - da gibt es tolle Anekdoten. Er durfte dann Dialoge schreiben oder überarbeiten; Hellmuth Karaseks Billy Wilder Biografie ist dahingehend aufschlussreich.

Hach, sorry, Petra, ist etwas lang geworden. Aber Schriftsteller in Hollywood ist so mit mein Lieblingsthema, da kann ich nicht anders.

LG,
Vitelli
 

Agnete

Mitglied
ich denke, liebe Petra, dass wir sehr vielschichtig sind und uns im Laufe von Geschehnissen, auch Weltgeschehen, immer im Wandel befinden. Hinterfragen, auch sich selost, ist ja nichts Falsches, auch, wenn man meint, man würde sich schon kennen :) lG von Agnete
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Vitelli,

ich habe den Vedacht, für Chandler ist das Wort (oder der Zustand) ambivalent erfunden worden :D
Selten so jemanden 'erlebt', bei dem Licht und Schatten so nahe beieinander lagen.
Bei Gelegenheit were ich mir mal die Wilder-Biographie anschauen, danke für den Tipp!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
ich denke, liebe Petra, dass wir sehr vielschichtig sind und uns im Laufe von Geschehnissen, auch Weltgeschehen, immer im Wandel befinden. Hinterfragen, auch sich selost, ist ja nichts Falsches, auch, wenn man meint, man würde sich schon kennen :) lG von Agnete
Da hast Du vollkommen recht. Neulich dachte ich, ich könne mir dabei zusehen, wie ich mich verändre, oder war das doch nur eine Augenblickssache?
Eine spannende Reise!

Liebe Grüße
Petra
 



 
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