Limonade

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"Du willst also wissen, ob mir einmal wirklich etwas so richtig Angst gemacht hat?..." erwiderte Opa auf meine vorsichtig gestellte Frage und machte dann eine bedeutungsvolle Pause.
Ich saß, ich weiß es noch als wäre es erst gestern gewesen, mit ihm vor seinem Werkzeugschuppen, seinem "Refugium", wie er es immer nannte, auf der selbstgeschreinerten Bauernbank und dachte, ich wäre bereit für die Wahrheit. Und irgendwie brauchte ich sie auch in dem Moment.

Immerhin hatten der Steiner Gerd und Fingerbrecher-Kalle, wie er von uns allen ehrfürchtig hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, aus der 3A mich heute auf dem Heimweg von der Schule gleich an der Ecke des Kiosks abgefangen und in die finstere Einfahrt dahinter gezerrt, um mich in die Mangel zu nehmen. Kalle hatte mich im Schwitzkasten gehalten und Gerd mit dem blau lasierten Miniatur-Taschenveitl vom letzten Kirtag vor meinem Gesicht herumgefuchtelt und gedroht, mich abzustechen "wie die Sau vom Huber-Bauern", wenn ich ihnen nicht freiwillig die Sticker jener Stars der Champions League aushändigen würde, die äußerst rar und daher heiß begehrt waren. Diese hatten sich bis da hin in meinem Besitz befunden und mich damit zu jemand "Besonderem" gemacht. Tatsächlich hatte der Gerd natürlich nicht "aushändigen" gesagt. Er sagte "Her mit den Stickern, du Hossenschisser! Sonst blutest du wie die Sau vom Huber-Bauern letzten Freitag...".

Ich gab ihnen die Sticker und klammerte mich an die Hoffnung, dass sie wenigstens nicht entdecken würden, dass ich meine Hosen eingenässt hatte vor lauter Bildern in meinem Kopf vom Blut, das aus klaftertiefen Wunden nur so aus mir schoss. Die Tasche vor den Schritt gepresst schlich ich mich danach, als sie mit ihrer Beute längst das Weite gesucht hatten, auf Umwegen nach Haus. Irgendwie gelang es mir, die Hose unbemerkt in die Schmutzwäsche zu schummeln und mich umzuziehen, ohne dabei entdeckt zu werden. Mein Essen verdrückte ich still und appetitlos. Ich fühlte mich dabei immer noch wie ein Schwein, das doch nur für die anstehende Schlachtung gemästet wird.

Und nachdem drei große Runden auf dem Fahrrad um den Hof und eine neue Angelrute für den Fischteich zu schnitzen mich nicht beruhigen hatten können, war ich zu Opa in den hinteren Teil des weitläufigen Gartens aufgebrochen, um etwas über die Angst zu erfahren. Die, die mich grade von innen auffraß und nicht mehr fortgehen wollte.

"Du willst es also wirklich wissen?" sah Opa mir forschend ins Gesicht. Ich nickte nur stumm und er sah wohl in meinem Ausdruck, dass es hier um mehr ging als eine bloße Kinderfrage aus Langeweile. Jedenfalls fragte er nicht weiter nach und öffnete mir, nur zum Zeichen, dass dies wohl eine längere Geschichte werden würde, eine Limonadenflasche aus seinem Vorrat und schob sie mir wortlos herüber.

Und nachdem er sich mit in sich gekehrtem Blick mit Daumen und Zeigefinger lange und bedächtig über sein weißstoppelbärtiges Kinn gefahren war, begann er schließlich mit den Worten: "Der andere hatte noch viel mehr Angst als ich."

Er vergewisserte sich mit einem kurzen Seitenblick auf mich, ob er damit bei mir den richtigen Nerv getroffen hatte. Ich bin mir sicher, mir war anzusehen, dass ich nach dieser Einleitung hellwach geworden war. Also fuhr er mit für ihn ungewöhnlich leiser Stimme fort.

"Aber Angst hatten wir beide. Er und ich. Und zwar eine Scheißangst. Das kannst du mir glauben. So ist das nun mal, wenn du weißt, dass du gleich etwas ganz Schreckliches tun musst, bevor es der andere mit dir tut...". Opa seufzte, wie ich ihn noch nie seufzen gehört hatte und nahm einen Schluck von seiner Limonade. Ich rückte ein wenig näher. Grade so nahe, dass er es als leichtes Anschmiegen an seine linke Seite empfinden konnte. Wenn er wollte.

"Da im Graben lagen meine Kameraden. Totgeschossen. Dreckverschmiert und so voller Erde und ...anderem Schmutz, dass man nicht mehr auseinanderhalten konnte, ob Feind, ob Freund. Und dann stand er auf einmal vor mir. ...Oder ich vor ihm. Wie auch immer.... Beide hatten wir unsere Gewehre im Anschlag. Ich meines mit dem Befehl auf alles zu schießen, was irgendwie nach Feind aussah...." Opas Hände zitterten, als er nun die Brille abnahm und sie umständlich zu putzen begann, obwohl sie für mich doch eigentlich ganz sauber aussah.

Die Luft im Schuppen bewegte sich kein bisschen. Die Hitze draußen, die ich sonst so herrlich einhüllend und belebend fand, wirkte nun drückend. Sogar die Grillen im Gras zirpten eine andere, eine seltsam beunruhigende Melodie, wollte mir scheinen. Es klang wie kurz vor einem Sommergewitter. Nur anders irgendwie. Ich merkte erst, dass ich Opas Hand mit meiner umfasst hatte, als er seine andere auf die meine legte. Wir tauschten einen langen Blick, bevor er weiterredete.

"Ich hatte aber weit mehr Angst davor, auf den anderen zu schießen, als von ihm erschossen zu werden in dem Moment." fuhr er fort. "Und seinen Blick werde ich nie vergessen... der hat richtig wehgetan. Tief drinnen. Das war die Angst, mein Junge, die ich da gesehen habe. Meine eigene Angst. Die nackte Angst, die dich so sehr erstarren lassen kann, dass es schon weh tut und du keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen kannst. So, dass du dir nur noch wünschst, dass es vorbei ist. Egal, wie..." Opas Kehle entrang sich ein zitternder, gequälter Seufzer, den ich noch heute höre, als säße mein Großvater direkt neben mir. Ich weiß noch, wie mich damals die Erkenntnis erschütterte, dass diese Angst noch immer tief in ihm stecken musste, wohl nie ganz weggegangen war und dass ich mit meiner Frage es gewesen war, der sie geweckt hatte. Ich drückte seine Hand ganz fest und beobachtete ihn stumm und mit einem dicken Frosch im Hals.

Er musste wohl die aufsteigenden Tränen in meinen Augen gesehen haben, denn er räusperte sich abrupt und drehte sich dann entschlossen zu mir.
"Er ...und ich. Wir leben noch. Wenn er nicht inzwischen eines friedvolleren, natürlicheren Todes gestorben ist, selbstverständlich." Damit tätschelte er mir beruhigend meine Hand, die inzwischen dort, wo meine Finger sich verkrallt hatten, die seine ganz weiß hatte werden lassen.

"Weißt du, Junge" fuhr er mit großer Ernsthaftigkeit fort; "nicht der eigene Schmerz oder das eigene Sterben sind, was wir zu fürchten brauchen. Das habe ich damals gelernt und für diese Lektion bin ich heute noch dankbar. Wir sollten fürchten, mit einer Schuld zu leben, die viel zu schwer wiegt, um sie tragen zu können. Ich wäre damals lieber selbst gestorben, als diesen jungen Kerl zu töten. Ich bin heute noch froh, dass wir beide rechtzeitig erkannten, dass der jeweils andere die Hosen mindestens genau so voll hatte wie man selbst. Das hat uns letztlich das Leben gerettet".

Opa lachte bei diesen Worten. Es war ein kleines und ernstes Lachen. Aber eines, das meine angespannten Schultern wieder weich werden ließ. "Erinner mich dran - dann les ich dir irgendwann mal ein paar unserer Briefe aus der Zeit nach dem Krieg vor", meinte er, stand auf und stellte die leeren Limonadenflaschen zurück in die Getränkekiste zu den anderen.

Die Limonadenmarke gibt es noch heute.
Mit neuem, zeitgemäßem Etikett natürlich. Und schlankeren, platzsparenden Flaschen. Doch der Geschmack ist noch immer derselbe wie damals - heilend.









._2010_Überarbeitung 2024
 
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petrasmiles

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"Weißt du, Junge" fuhr er mit großer Ernsthaftigkeit fort; "nicht der eigene Schmerz oder das eigene Sterben sind, was wir zu fürchten brauchen. Das habe ich damals gelernt und für diese Lektion bin ich heute noch dankbar. Wir sollten fürchten, mit einer Schuld zu leben, die viel zu schwer wiegt, um sie tragen zu können. Ich wäre damals lieber selbst gestorben, als diesen jungen Kerl zu töten. Ich bin heute noch froh, dass wir beide rechtzeitig erkannten, dass der jeweils andere die Hosen mindestens genau so voll hatte wie man selbst. Das hat uns letztlich das Leben gerettet".
Ganz wunderbar, liebe Claudia!
Vielleicht sind es manchmal die Momente des Innehaltens, des Nicht-Tuns, die unser Leben auszeichnen und in die richtige Bahn lenkt.
Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße - und gute Nacht!
Petra
 

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Herzlichen Dank dafür, liebe Petra,

für die feine Rückmeldung und für die schöne Bewertung! Darüber hab ich mich riesig gefreut!

Du hast vielleicht gesehen, dass es ein älterer, (geringstfügig) überarbeiteter Text ist. Der wurde seinerzeit andernorts heftigst verrissen und ich dachte mir, vielleicht bekomme ich hier und Jahre später mit genügend Abstand die Antwort darauf, weshalb. Dann lag er hier jetzt ein kurzes Weilchen, um unkommentiert nach unten durchzurutschen - da dachte ich mir: okay, wenigstens kein Verriss, aber offensichtlich ein Text, der Lesern nur ihre kostbare Zeit stiehlt und nicht mehr "kann". Manchmal hat man ja so Text-"Kinder", die man selbst eigentlich für gelungen empfindet, aber das offensichtlich mit einer - wodurch auch immer - verschleierten Wahrnehmung...

Daher freue ich mich umso mehr über deine schöne Rückmeldung und die zielsicherer Dingfest-Machung der Kernaussage. ;)

Danke und liebe Grüße!
Claudia
 

petrasmiles

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Liebe Claudia,

das freut mich um so mehr als ich nun die Vorgeschichte kenne.
Es kommt halt immer auf die Kritiküsse an - was die Verreißer*innen bewogen hat, erschließt sich mir nicht.

Ich bin nun doppelt froh, dass ich meine Herangehensweise habe, indem ich brav die Rubrik 'Das Neueste' nach meinem vierwöchigen (! ich kann es noch gar fassen) Urlaub abarbeite; auf die Weise findet man auch gute Sachen aus Rubriken, die man nicht gezielt aufsuchen würde.
Es ist die Fülle, die mich an der Leselupe erfreut, und die vielen verschiedenen Herangehensweisen an die doch eher beschränkten Themen (im Sinne von Stoffen).

Liebe Grüße - und einen schönen Sonntag noch!
Petra
 

Bo-ehd

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Wer kann so eine Geschichte verreißen? Manchmal fragt man sich wirklich ...
Gute Story, wunderbar warm erzählt. Eine Freude zu lesen.
Bruß Bo-ehd
 

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Ich bin nun doppelt froh, dass ich meine Herangehensweise habe, indem ich brav die Rubrik 'Das Neueste' nach meinem vierwöchigen (! ich kann es noch gar fassen) Urlaub abarbeite; auf die Weise findet man auch gute Sachen aus Rubriken, die man nicht gezielt aufsuchen würde.
Es ist die Fülle, die mich an der Leselupe erfreut, und die vielen verschiedenen Herangehensweisen an die doch eher beschränkten Themen (im Sinne von Stoffen).
Da bin ich ganz bei dir, liebe Petra!

Ich versuche auch - allerdings nicht ganz so gezielt wie du - immer möglichst weit nach hinten zu "stöbern". Ev. muss ich meine Methode da aber noch etwas verfeinern ;)

Liebe Grüße und ich hoffe, du hast deinen Urlaub so richtig genossen!!!!

Claudia
 



 
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