Kaugummizeit

noirbert

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Das mit der Zeit kann schon seltsam sein. Oft vergeht sie wie im Flug und dann gibt es diese Momente, in denen sie nahezu still zu stehen scheint und alles in Zeitlupe um einen herum abläuft, während man selbst zur gefesselten Marionette mutiert. Man weiß, das gerade etwas Schlimmes passiert, ist aber zum Mitmachen verdammt, wie auf unsichtbaren Schienen, im Schraubstock des Schicksals. In Augenblicken mit akutem Stress wie bei einem Unfall.

Oder wie gerade jetzt.

Vor seinem inneren Auge sieht sich Andreas Eder selbst auf der Baustelle ankommen, heute Morgen um 6:45 Uhr so wie jeden Tag, überpünktlich. Trotzdem er wusste, was ihn erwartete, nämlich sein Chef und sein Schwager, in Personalunion. Oder wie es viele Angestellten unverblümt, aber nur hinter vorgehaltener Hand sagen würden, das Grauen in Person.

Ewald Grünkern war zweifellos ein gewiefter Geschäftsmann. Mit allen Wassern gewaschen, skrupellos und aalglatt. Und für so ziemlich jeden, mit dem er zu tun hatte eine schwierige bis fürchterliche Angelegenheit. Furcht empfanden wohl auch einige Angestellte allein durch seine Erscheinung. Er war ein Kerl wie ein Baum, knapp 2 Meter groß und etwa halb so breit. Und er ließ seine Angestellten wissen, das ER der Chef war. Auch Andreas wurde täglich mindestens einmal zurecht gestutzt, und das obwohl er sich förmlich ein Bein ausriss. Nichts konnte er dem Chef recht machen und am meisten wurmte es den, dass seine wunderschöne und kluge Schwester Marie diesem, in seinen Augen jämmerlichen Mann das Jawort gegeben hatte. Und er hatte weiß Gott versucht es zu verhindern. Aber gegen seine Schwester kam er nicht an. Sie war wohl der einzige Mensch auf der Welt, der ihm wirklich etwas bedeutete. Er konnte ihr auch den Wunsch nicht abschlagen, Andreas in der Firma zu beschäftigen, nachdem dessen früherer Arbeitgeber pleite gegangen war. Dafür ließ er ihn regelmäßig wissen, was Ewald vom Mann seiner Schwester hielt. Das fing schon damit an, dass der große Chef erst um 9 Uhr zur Arbeit kam, gemütlich nach dem Frühstück eben. Die Arbeit hatte er ja an seine Untergebenen delegiert, er überprüfte eigentlich nur noch. Sehr genau. Immer.

Dann machte das innere Auge von Andreas einen Zeitsprung zum gestrigen Vormittag. Er sah seinem Arzt und guten Freund Erwin tief in die Augen, nachdem er ihm die Untersuchungsergebnisse vorgelegt, und eine Prognose abgegeben hatte. Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Dann erinnerte Andreas seinen Freund daran, dass er gerade sein Arzt war und sich an einen Schwur zu halten hatte.

Jetzt hörte Andreas Ewald vor der Baustelle des Bürogebäudes, das die Firma gerade errichtete, ankommen. Er bremste hörbar. War ja ein Firmenwagen. Und schließlich musste der Pöbel wissen, dass die einzig wichtige Person eingetroffen ist.

Er ging zielstrebig auf den Bürocontainer zu und verschwand darin. Jetzt war der Kaffee dran, zu Hause musste man ihn schließlich selbst bezahlen auf der Baustelle ging es auf die Firma. Der Ablauf war irgendwie immer gleich. Erst machte er sich einen Capuccino - Einlauf, danach holte er seine Zigaretten raus, steckte sich eine an und lief mit seiner Entourage über die neu errichteten Gewerke, um sie zu inspizieren. Auch wenn er eigentlich gar keine Ahnung hatte, was jeder wusste. Aber niemand traute sich, etwas zu sagen, die Zeiten waren nicht die Besten, jeder war auf seinen Arbeitsplatz angewiesen. So hatte sich auch Andreas an die Fersen seines Schwagers geheftet und trottete mit festem Blick hinterher, gab über alles Auskunft, was der große Chef wissen wollte und wartete ab, bis alle ihre gesammelten Informationen angebracht hatten.Er blickte über die Brüstung zur Einfahrt der Baustelle, in der der Kombi seiner Frau Claire auftauchte. Die Entourage war bereits auf dem Rückweg über die fertig betonierte Treppe nach unten, als Andreas seinen Schwager zurück ins oberste begehbare Stockwerk rief. „Kannst du bitte nochmal kurz herkommen, ich muss dir am Schornstein etwas zeigen". „Hättest du mir das nicht vor 5 Minuten sagen können, als ich oben war?“ Ewalds Stimme klang schon im Normalfall wie die Ansage eines amerikanischen Gefängniswärters, der eine Schlägerei zwischen schweren Jungs beenden will und gerade keine Schusswaffe zur Hand hatte. Jetzt, da er gezwungen war eine Treppe zwischen 2 Stockwerken erneut zu bezwingen, schwang bereits Donnerhall mit. Niemand hatte Lust, in der Nähe zu sein wenn sich ein Unwetter entlädt, deshalb gingen alle flugs zurück an ihre jeweiligen Arbeitsplätze. Endlich hat sich Ewald über die Treppe nach oben gewalzt. Er ging auf seinen Schwager zu, der direkt an der Brüstung stand.

„Ich dachte du hast gesagt am Schornstein ist etwas?“

Andreas drehte sich mit dem Rücken zum Abgrund und schrie seinen Schwager an: „Nein! Bitte tu das nicht!

Irritiert blickte Ewald seinen Schwager an. Er war keinen Widerspruch gewöhnt. Zudem hatte er keine Ahnung warum Andreas gerade rotzfrech grinste, um dann erneut und noch lauter zu schreien: Hilfe! Nein! Bitte nicht!“

Dann ließ er sich rückwärts über Kante fallen. Jetzt begann die Zeit zu gefrieren. Andreas sah seinen Schwager auf ihn zu zu laufen und reflexartig beide Hände auszustrecken , um ihn auf den Rohbau zurück ziehen zu können, doch es war zu spät, er hatte den Point of no Return überschritten. Ewald sah nur immer mehr erstaunt, dass Andreas immer noch zu grinsen schien, gleichzeitig aber laut schrie. Dann verstummte der Schrei plötzlich, als der Hinterkopf von Andreas auf dem Betonfundament zerschellte und das Grinsen und damit den einzigen Beweis für seinen perfekten Plan für immer verschwand.

Ewald blickte fassungslos nach unten und sah seinen toten Schwager auf der Betondecke unten am Boden liegen. Dann sah er in die Augen seiner Schwester. Sie waren kalt und abweisend geworden. Ewald verstand langsam, dass sein Schwager sich mit einem Schlag für alle Gemeinheiten, die er ihm angetan hatte gerächt hatte…
 
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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo noirbert,

das ist eine gelungene Geschichte mit überraschender Pointe!

Ich habe die überflüssigen Leerstellen entfernt.

Es wäre gut, wenn du die Zahlen ausschreiben könntest. Das verbessert die Qualität des Textes.

Gruß DS
 



 
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