Jörn

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Johnson

Mitglied
Jörn war jemand,
über den man nichts wusste,
außer dass er im Kinderheim
lebte und sich
gerne Zigaretten schnorrte.

Einmal versammelten
wir uns an einer Kuhwiese und
Jörn war der Erste,
der den Zaun berührte.
Er fiel um und wir ließen
ihn einfach liegen.
Eine Kuh kam angelaufen
und pisste neben ihn.

Nach zwei Minuten
stand er auf und fragte,
ob ihm jemand eine Zigarette überlassen könnte.

Der Stromschlag hatte
ihm die Haare am Hinterkopf versengt.
Das sahen wir erst, als er
auf sein schrottiges Fahrrad stieg.

Nur einmal bekam ich sein Zimmer zu Gesicht: Ein Bett, ein kleiner Schrank,
ein Fernseher
ohne Gehäuse
und die Toilette mitten im Raum.

Im Schrank zeigte er mir die
Autogrammkarte einer Pornodarstellerin.
Die habe er vor zwei Jahren
auf einer Messe bekommen.

"Es ist wie im Knast hier," sagte er.

Auf morgen freut er sich,
denn dann gibt es im
Heim Nudeln mit brauner Soße. Sein Lieblingsgericht...

Dann betätigte er die
Spülung der Toilette, obwohl er sie nicht benutzt hatte, und schaute
aus dem Fenster auf ein Dutzend Müllcontainer.
 
Zuletzt bearbeitet:

sufnus

Mitglied
Hey Johnson!

Eigentlich find ichs sehr gelungen. Aber die Schilderung des Heimzimmers mit der Toilette mitten im Raum ist mir ein bisschen zu dick aufgetragen; natürlich weiß ich grundsätzlich nicht, wovon ich rede und in einem Heim wird's nicht gerade toll sein (Untertreibung). Aber ein Klo, das mitten im Raum aufgestellt ist und ein Fernseher ohne Gehäuse klingen mir etwas unrealistisch und der Text hat die Übertreibung eigentlich nicht nötig.

Es ist eh die Frage, ob es den Zimmerbesuch überhaupt braucht. Dass sich Jörn auf Nudeln mit brauner Soße freut, ist ein sehr gutes Bild, finde ich, aber das könnte er auch ohne Zimmerbesuch erzählen und eigentlich find ich als Abschlussbild die versengten Haare am Hinterkopf am stärksten. Auch da gilt, dass ich mich mit Elektrozäunen nicht auskenne, aber doch gewisse Zweifel habe, ob der Strom ausreicht, um Haare zu versengen - das müsste ja ein regelrechter Lichtbogen sein, der da entstanden wäre. Schwer vorstellbar. In diesem Fall finde ich aber, dass das unter "künstlerischer Freiheit" läuft. Frag mich einer, warum mich der "magische Realismus" an der Stelle nicht stört.
LG!
S.
 

Johnson

Mitglied
Hi Sufnus,

danke fürs lesen.

da hast du recht mit. Die Szene im Heim ist eher unwirklich und die Stelle mit den Haaren am stärksten.

nennt man das Ganze nicht Naturalismus….?

grüsse
Johnso
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Für mich ist das keine Lyrik, eher Kurzprosa:

Jörn war jemand über den man nichts wusste, außer dass er im Kinderheim
lebte und sich gerne Zigaretten schnorrte.

Einmal versammelten wir uns an einer Kuhwiese und Jörn war der Erste,
der den Zaun berührte. Er fiel um und wir ließen ihn einfach liegen.
Eine Kuh kam angelaufen und pisste neben ihn.
Nach zwei Minuten stand er auf und fragte,
ob ihm jemand eine Zigarette überlassen könnte.
Der Stromschlag hatte ihm die Haare am Hinterkopf versengt.
Das sahen wir erst, als er auf sein schrottiges Fahrrad stieg.

Nur einmal bekam ich sein Zimmer zu Gesicht: Ein Bett, ein kleiner Schrank,
ein Fernseher ohne Gehäuse und die Toilette mitten im Raum.
Im Schrank zeigte er mir die Autogrammkarte einer Pornodarstellerin.
Die habe er vor zwei Jahren auf einer Messe bekommen.

"Es ist wie im Knast hier," sagte er.

Auf morgen freut er sich, denn dann gibt es im Heim Nudeln mit brauner Soße.
Sein Lieblingsgericht.
Dann betätigte er die Spülung der Toilette, obwohl er sie nicht benutzt hatte,
und schauteaus dem Fenster auf ein Dutzend Müllcontainer.
 

sufnus

Mitglied
nennt man das Ganze nicht Naturalismus….?
Hey Johnson,
ich bin gar nicht so sehr an (allen Aspekten der) Literaturtheorie interessiert, wie es wohl oft den Anschein hat und daher gerade was literarische Strömungslehre angeht (die diversen -ismen und -iken), nicht so wirklich beschlagen. Ob man Dein Gedicht gut begründbar als "naturalistisch" einstufen könnte und ob das ein Kompliment wäre, da bin ich nicht so sicher. Du hast ja Dich ja hier in Tateinheit mit Oliver häufig auf Bukowski bezogen und ich finde der Vergleich passt nicht schlecht. Ich würde, wenn man unbedingt kategorisieren will, bei Dir eine Art Post-Gonzo-Style postulieren. Also: Gonzo im verkaterten Zustand des abgeklungenen Rauschs. ;)

... und Ottos Gedanken finde ich sehr nachvollziehbar und auch instruktiv - ich würde dennoch vorsichtig widersprechen. Aber das mache ich ein andermal, wenn ich mehr Zeit habe.

LG!

S.
 
Hi Johnso,
ich find es als Versuch einer ungereimten Kurzballade ganz gelungen, insofern würde ich da Otto auch nicht unbedingt recht geben. Aber man kann es sicherlich auch unter Kurzprosa einordnen. Sei´s drum, die Grenzen sind da sicherlich auch fließend.
Inhaltlich spricht es mich schon an, der Ton passt zum Inhalt und gibt wahrscheinlich genau das wieder was beabsichtigt war, bedient natürlich auch ein wenig ein Klischee. Die Hinweise von Sufnus würde ich teilen, physikalisch ist das mit den Haaren kaum möglich, ein paar Rötungen auf der Haut schon. Und das Becken mitten im Raum ist zumindes für Deutsche Verhältnisse eher ungewöhnlich. Aber das würde ich nicht unbedingt bemängeln, soll es doch ein bestimmtes Bild erzeugen und das hat es getan.
Beste Grüße
StM
 

sufnus

Mitglied
Hey!

… hier noch meine (naja... ) Gedanken, wie man Kurzprosa (ggf. "in poetischer Sprache") und Lyrik unterscheiden könnte.

Meines Erachtens ist der wichtigste Unterschied, dass bei der Lyrik der "Sänger" mit dem geschilderten Inhalt (wenn es überhaupt einen gibt) mindestens auf Augenhöhe agiert, während sich bei der Prosa der Inhalt vor die Erzählstimme schiebt.

Das ist, nach meiner kühnen Ansicht, auch der Grund, warum Lyrik immer verhältnismäßig kurz ist bzw. warum ein Text ab einer bestimmten Länge zusehends ins "epische" kippt: Irgendwann schiebt sich der Inhalt einfach aufgrund seiner schieren Menge vor den Sänger.

Kurzer Seitenblick zur Veranschaulichung: Die "Divina Commedia" ist in ihrem ganzen Ton und in ihren Zeitbetrachtungen durch die Augen des Autors sicherlich ein höchst subjektiv getöntes Werk (immerhin tritt der Autor ja auch selbst als Protagonist auf!). Dennoch wird m. E. der Leser am Ende vom Wimmelbild der besungenen Personen und Umstände so sehr "eingesaugt", dass die Ich-Passagen nach einiger Zeit beinahe wie Einsprengsel wirken, die als Inseln im Strom der Haupthandlung liegen. Somit ist es also kein Gedicht (im Sinne eines zur Lyrik gehörenden Textes) sondern ein episches Werk.

Will ich damit jetzt sagen, dass ein Gedicht unbedingt ein explizites "Ich" haben muss (in Johnsons Text sogar in Fettdruck)? Nein, dass nun gerade nicht. Es ging mir nicht um das Konstrukt eines "Ichs", das in einem Text auftritt, sondern um die hinter dem Text stehende, relativ Autoren-nahe, "Stimme".
Die kann sich durchaus auch in einem Text abbilden, der in der dritten Person geschrieben ist. Und dies wiederum geschieht typischer- aber nicht notwendigerweise beim Gedicht durch die formale "Durchgestaltung" des Textes, wobei ein klassisches Zeichen hierfür so etwas banales wie der Zeilenumbruch ist.

Häufig hört man den Einwand (ich glaube, den habe ich auch schon gebraucht), dass ein Zeilenumbruch aus einem Text noch keine Lyrik macht. Das trifft schon zu, vor allem, wenn dieser unmotiviert wirkt. Im Fall von Johnsons Text ist aber die Neigung zur "Zeilenhaftigkeit" aufgrund der Satzstruktur in den Text hineingeschrieben. Das zeigt sich schön, an Ottos Versuch, den Text in einen Prosatext umzuwandeln: Meines Erachtens hat sich Johnsons Text auf eine schwer fassliche Weise gegen die Prosaisierung gesträubt und Otto hat daher zwar eine größere Zeilenlänge realisiert, aber eben doch Umbrüche gesetzt und keinen reinen, "prosaischen" Fließtext produziert.

Vor allem die Kuhwiesenszene (die ja nicht zufällig auch inhaltlich die stärkste Szene darstellt) will m. E. unbedingt in einer Zeilenform dastehen. Ob relativ kurzzeilig wie bei Johnson oder etwas langzeiliger wie bei Otto, das sei dahingestellt. Und selbst wenn man es zwangsweise als reinen Fließtext schreiben würde, ergäbe sich im mündlichen Vortrag automatisch eine Art "Zeilensound". Und dieses Element, welches vom "Sänger" in den reinen Textinhalt eingebracht wurde (natürlich in einem ganz unbewussten Vorgang), macht die spezifische "Stimme" des Textes aus und steht gleichberechtigt neben der reinen Erzählung. Weil dabei diese Zeilen-mäßige Gliederung wirklich den Sound des Textes beeinflusst, ist das auch mehr als nur eine formale Spielerei. Durch diese spezifische Textgestaltung (die wohlgemerkt über die Zeilenumbrüche hinausgeht und auch das Sprachliche betrifft) sehen wir Jörn nicht mit unseren Augen, sondern mit denen der Erzählstimme und das ist für mich das Lyrik-definierende, sozusagen "unobjektive" Lyrik-Element.

LG!

S.
 



 
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