Im Wartezimmer

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Matula

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"Ist das nicht eine fantastische Aufnahme!" sagte der Mann und hielt mir eine Zeitschrift unter die Nase.

Das Bild zeigte eine Leopardin, die einen kleinen toten Schimpansen im Maul trug. Sie war aus der Seitenansicht zu sehen, möglicherweise auf dem Weg zu ihren Jungen. Ich rückte ein wenig ab, weil ich den Mann mit der Zeitschrift nicht kannte. Wir saßen nur im Wartezimmer desselben Zahnarztes.

"Was gefällt Ihnen an dem Bild?"

"Ja, denken Sie an den Photographen! Er muss ziemlich nahe gewesen sein. Zu solchen Aufnahmen gehört schon Mut."

"Ich sehe keinen Photographen."

Nun rückte er ein wenig ab.

"Natürlich nicht! Er ist ja hinter der Kamera. Wahrscheinlich eine CANON EOS R sieben mit einem CANON RF achthundert Millimeter Objektiv. Könnte aber auch ...".

"Was gefällt Ihnen an dem Bild?"

"Ja, was soll ich sagen? Die Wildheit und Geschmeidigkeit der Leopardin."

"Sie bewegt sich nicht. Woher wissen Sie, dass sie wild und geschmeidig ist?"

"Leoparden sind wild und geschmeidig! Alle! Sind ja die perfekten Jäger, können bis sechzig Stundenkilometer laufen. Da kommen wir Zweibeiner nicht mit."

"Sind Sie schon einer Leopardin begegnet?"

Er lachte.

"Nein, natürlich nicht, das heißt, vielleicht als Kind im Tiergarten, aber ich erinnere mich nicht mehr."

"Woher wissen Sie, dass alle Leoparden wild und geschmeidig sind?"

"Ja, weil man solche Sachen eben weiß, wenn man sich ein bisschen für die Natur interessiert. Und für Raubkatzen interessiert sich eigentlich jeder."

"Warum interessiert sich jeder für Raubkatzen?"

"Sie stellen vielleicht Fragen! Ja, weil man den Raubkatzen einfach gern zuschaut. Sie sind elegant, muskulös und ...".

"... wild und geschmeidig?"

"Genau, und langsam kommt mir vor, dass Sie sich über mich lustig machen. Sie hätten auch gleich sagen können, dass Ihnen das Foto nicht gefällt."

"Warum sollte mir das Foto nicht gefallen?"

"Keine Ahnung," ein feines Grinsen huschte über sein Gesicht, "... vielleicht wegen dem Affen?"

"Schimpansen."

"Ja, Schimpansen ... nicht schön, aber so ist die Natur: brutal und grausam. Wenn man allerdings länger darüber nachdenkt, kommt man drauf, dass alles sehr weise eingerichtet ist. Es könnte eigentlich gar nicht besser sein."

"Für den Schimpansen?"

"Na für den natürlich nicht, der ist ja die Beute!"

"Wie lange haben Sie darüber nachgedacht?"

"Was gibt's da viel nachzudenken?! Die Affen - oder, wenn Sie so wollen, die Schimpansen - würden überhand nehmen, wenn es keine Raubkatzen gäbe. Wir hätten den 'Planet der Affen', verstehen Sie?"

"Statt einem Planeten von Raubkatzen?"

"Um die Raubkatzen kümmern wir uns. Ist ja logisch, weil es sonst zu viele von ihnen gäbe. Wir stehen an der Spitze der Nahrungskette."

"Eine Kette mit Spitze?"

"Pyramide, wollte ich sagen, Nahrungspyramide. Sie legen wohl gern jedes Wort auf die Goldwaage."

"Essen Sie denn Raubkatzen?"

"Die Frage ist mir zu blöd! Die werde ich jetzt nicht beantworten. Mit Ihnen kann man kein Gespräch führen. Dabei wollte ich Ihnen nur erklären, dass die Natur viel schlauer ist als wir. Der Herrgott hat schon alles wohlbedacht."

"Glauben Sie, dass kleine Schimpansen in den Himmel kommen?"

"Sie sind ja nicht bei Trost!"

"Meinen Sie, wegen der Unterschiede in der DNA?"

Die Sprechstundenhilfe rettete ihn, indem sie seinen Namen aufrief. Er sprang auf und warf die Zeitschrift auf den Tisch. Da ließ ich von ihm ab und er flüchtete ins Ordinationszimmer.
 

petrasmiles

Mitglied
Deine Protagonistin ist ganz schön streng mit dem 'armen Tropf' :D ich denke, der Mensch an sich sabbelt ständig halbgares Zeug in Alltagssituationen. Da hat er natürlich keine Chance, wenn ihm jemand gegenüber sitzt, der den Denkapparat eingeschaltet hat. Aber man könnte sich immer noch aus der Situation retten, wenn man zugestehen würde, dass man da jetzt nicht genauer drüber nachgedacht hätte ... 'vergessen Sie's' kann man sagen. Aber nicht jeder.
Ganz wunderbar geschrieben!

Liebe Grüße
Petra
 

Matula

Mitglied
Vielen Dank für Deinen freundlichen Kommentar, Petra ! Allerdings geht es mit gar nicht so sehr um das Duo "Der Gescheite und der Dumme" à la Farkas und Waldbrunn, sondern um die penetrante Häufigkeit, mit der neuerdings tierische Jagdszenen im TV gezeigt werden. Ich frage mich, ob die Dokumentarfilmer ernsthaft glauben, die Zuschauer könnten sich nicht vorstellen, wie eine Antilope an einem Wasserloch von einem Krokodil gerissen wird, oder wie ein Rudel Hyänen ein Zebra zur Strecke bringt. Ich frage mich, was die unterschwellige Botschaft solcher Szenen sein soll. Seht her, wie ungerührt ich bin und alles, alles mit anschauen und filmen kann ? Und übermorgen schon mache ich mit dem Handy Aufnahmen von einem Unfallort und verstelle den Einsatzkräften den Weg zu den Schwerverletzten ?

Herzliche Grüße,
Matula
 

petrasmiles

Mitglied
Schade, das fand ich besonders gelungen.
Was die Jagdszenen anbelangt, so sehe ich das einerseits mit vielen Fragezeichen versehen, und andererseits sehe ich Naturdarstellungen in einem anderen Zusammenhang.
Ich habe früher oft und regelmäßig Natur- und Reisedokus geschaut und nehme sie auch immer noch auf. Darum weiß ich, dass da ungemein viele Wiederholungen unterwegs sind.
Und ich habe den 'brutalen Realismus' der Naturfilmer immer in Ergänzung zu den süßlichen und unrealistischen 'Disney' Formaten gesehen. Hierbei, finde ich, muss man sich immer fragen - was stört mich jetzt eigentlich, dass sie das zeigen, oder dass es so ist?
Aber wenn es so ist, und da sind wir uns ja sicher einig, dann kann man es m.E. nicht anders darstellen. Ich 'filtere' das für mich so, dass ich mir die Qualität anschaue. Es gibt schon unheimlich viele Filme zu den 'beliebtesten Schauplätzen' und schon oft hatte ich den Eindruck, dass vorhandene Bilder einem 'neuen' Film zugeordnet wurden; es liegt also auch daran, welchen Sender mit welchem Qualitätsanspruch man wählt. Im Laufe der Zeit bekommt man ein Gefühl dafür, ob es sich um einen Produzenten handelt, der mit solchen Bildern möglichst viel Geld mit wenig Aufwand verdienen will, oder ob es sich um Produzenten mit Anspruch handelt. Eine pädagogische Leitfunktion des ÖRR gibt es schon lange nicht mehr. Selbst bei ARTE gibt es mittlerweile durch Kooperationen Schrott - wenn auch nicht oft.

So, wie Du es aufnimmst - und das ist ja Deine Wahrnehmung, die ich nicht in Abrede stellen will - führt eine direkte Linie von der Brutalisierung der Naturaufnahmen zur Brutalisierung der Gesellschaft. Diesen Zusammenhang sehe ich nicht.
Aber das wäre mal ein Anlass, länger darüber nachzudenken.

Ein schönes Wochenende Dir und liebe Grüße
Petra
 

Matula

Mitglied
... und nächste Woche wird ein Obdachloser in Brand gesteckt und man schaut, ob man einen kleinen Film daraus machen kann ...

Nein, an eine direkte Linie von brutalen Tierfilmen zu empathielosem Verhalten gegenüber Menschen glaube ich nicht, eher, dass beide Phänomene eine gemeinsame Wurzel haben. Und wo die liegt, beschäftigt mich.

Auch Dir ein schönes Wochenende und beste Grüße,
Matula
 



 
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