Galgen. Lied. - Sonett

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Walther

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Galgen. Lied.

Die Welt verbrennt, wenn sie sich nicht ertränkt:
Zumindest die, von der wir gerne schreiben,
Wenn wir mit Denken uns die Zeit vertreiben,
Ein Tun, mit dem dieselbe uns beschenkt

Hat; und dies Denken ist durch nichts beschränkt!
Die Gier ist’s nicht, dass wir so blöde bleiben.
Die Lust ist’s nicht. Sie will uns nicht zerreiben.
Der Neid ist es, der uns im Herzen kränkt.

Wir sind es selbst: Nur wir sind abgelenkt,
Weil wir im Spiegel nur das Ego sehen.
Die falsche Flagge wird von uns geschwenkt,

Die Wahrheit in der Lüge gleich ertränkt,
Wenn Wünsche so bloß in Erfüllung gehen:
Wir sind der Henker, der sich selber henkt.
 

mondnein

Mitglied
Das ist ein Spitzenstück, Walther,

zunächst ist es ja immer gefährlich, mit so allgemeinen Begriffen wie "Welt", "Zeit", Denken" und "Tun" zu arbeiten, wo schon die Philosophen, deren ermüdend-aufdringliche Hauptthemen das sind, nicht gelesen, nachgedacht, verstanden oder wenigstens ein bißchen persifliert werden. Aber das ist Dir hier schön gelungen, schon mit dem Paradoxon zu Beginn: Weltenbrand und Sintflut, zu groß und allgemein, hier nun kein Werk eines Racheengels, sondern "sie" in albernem Selbstmitleid oder im ironischen Mitleid eines Betrachters tut "sich" das selber an.
Und die Reflexion der Täterin auf ihr eigenes Sich-sowas-Antun geht schon mit der zweiten Verszeile ins Private, Persönliche des Autors, das fängt die Großspurigkeit sanft ab. Es fliegt nicht aus der Kurve.
Schöne Vergleichs-Untersuchung, mit der es in den Parallelen des zweiten Quartetts ins Konkrete übergeht. Auch das ist (sonst) gefährlich: Tugend- und Laster-Kataloge mit dem Ziel eines endgültigen Wertes, sei er "das Gute" oder "das Böse" an und für sich. Das geht (auch sonst) nur mit Selbstbezüglichkeit des lyrischen Ichs gut.
Schön auch, wie die letzte Klausel diese Selbstreferenz in ein Paradoxon faßt, vergleichbar dem der ersten Zeile, aber nicht so übergroß wie "Welt" und "Zeit" oben, sondern direkt beim reflektierten Ich. Und im gleichen Reim ausklingend.

Ein Meisterstück, in meiner (nicht unbedingt maßgeblichen) Sicht, das sage ich als mit 'Welt" und "Zeit" leicht übersättigter Fachphilosoph, siehe: http://12koerbe.de/hansz/1900lieb.htm#1824.

grusz, hansz
 
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Walther

Mitglied
Das ist ein Spitzenstück, Walther,

zunächst ist es ja immer gefährlich, mit so allgemeinen Begriffen wie "Welt", "Zeit", Denken" und "Tun" zu arbeiten, wo schon die Philosophen, deren ermüdend-aufdringliche Hauptthemen das sind, nicht gelesen, nachgedacht, verstanden oder wenigstens ein bißchen persifliert werden. Aber das ist Dir hier schön gelungen, schon mit dem Paradoxon zu Beginn: Weltenbrand und Sintflut, zu groß und allgemein, hier nun kein Werk eines Racheengels, sondern "sie" in albernem Selbstmitleid oder im ironischen Mitleid eines Betrachters tut "sich" das selber an.
Und die Reflexion der Täterin auf ihr eigenes Sich-sowas-Antun geht schon mit der zweiten Verszeile ins Private, Persönliche des Autors, das fängt die Großspurigkeit sanft ab. Es fliegt nicht aus der Kurve.
Schöne Vergleichs-Untersuchung, mit der es in den Parallelen des zweiten Quartetts ins Konkrete übergeht. Auch das ist (sonst) gefährlich: Tugend- und Laster-Kataloge mit dem Ziel eines endgültigen Wertes, sei er "das Gute" oder "das Böse" an und für sich. Das geht (auch sonst) nur mit Selbstbezüglichkeit des lyrischen Ichs gut.
Schön auch, wie die letzte Klausel diese Selbstreferenz in ein Paradoxon faßt, vergleichbar dem der ersten Zeile, aber nicht so übergroß wie "Welt" und "Zeit" oben, sondern direkt beim reflektierten Ich. Und im gleichen Reim ausklingend.

Ein Meisterstück, in meiner (nicht unbedingt maßgeblichen) Sicht, das sage ich als mit 'Welt" und "Zeit" leicht übersättigter Fachphilosoph, siehe: http://12koerbe.de/hansz/1900lieb.htm#1824.

grusz, hansz
lb Hansz,
an andere stelle wurde vom politischen gedicht gesprochen. dies ist eines.
es ist erlaubt, so etwas nicht gut und nicht gelungen zu finden. in der tat sind politische gedichte ein gefährliches pflaster, weil sie doppelt um zustimmung wirken: künstlerisch und vom politischen standpunkt hat.
danke fürs lesen, analysieren und deine klugen anmerkungen. es freut immer, wenn man als poet einen leser be- oder sogar anrührt.
lg W.
 



 
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