Frau Gabler geht

5,00 Stern(e) 4 Bewertungen

Matula

Mitglied
Eines späten Abends stand Frau Gabler mit einem Koffer vor meiner Tür und begann sofort zu weinen. In dem Haus, in dem sie wohnte, war ein Feuer ausgebrochen. Wegen der starken Rauchentwicklung mussten alle Mieter das Stockwerk räumen und sich für die nächsten Tage eine Bleibe suchen. Da habe sie an mich gedacht, weil sie ja wisse, dass bei mir ein Gästezimmer leer stand. Ich war nicht erbaut, aber in der Not muss man helfen. Später im Bett fiel mir ein, dass Frau Gabler einen Bruder hatte, der auch in der Stadt lebte.

Am Morgen war der Küchentisch für eine Person gedeckt. Es gab getoastetes Brot, Schinken und Marmelade. Sie konnte nicht wissen, dass ich kein Frühstück esse, da sie ja nur zweimal im Monat zum Putzen kam, immer an einem Samstag um zehn Uhr. "Kein Problem," sagte sie, "dann werde ich, wenn Sie erlauben ... Sie können unbesorgt zur Arbeit gehen. Ich muss dann auch weg. Wir sehen und später."

Die Aussicht auf einen gemeinsamen Abend mit Frau Gabler verdarb mir den Tag. Ich wusste nicht, was sie von mir erwartete. Ein langes Gespräch am Küchentisch? Ein paar Stunden vor dem Fernseher? Mehrere Partien "Mensch ärgere Dich nicht"? Ich betrachtete sie jedenfalls als meinen Gast, der über die gemeinsame Zeit in einem angemessenen Rahmen verfügen durfte. Üblicherweise wechselten wir bei ihrem Eintreffen nur ein paar Worte, dann ging ich einkaufen oder machte einen längeren Spaziergang. Meistens war sie schon weg, wenn ich nach Hause kam.

An diesem Abend überraschte sie mich mit Schinkenomeletten und grünem Salat. Als Dessert gab es Apfelkompott. Ich war darauf gefasst, zum Ausgleich die Küche putzen zu müssen, aber auch das hatte sie schon soweit erledigt, dass nur mehr das Geschirr in den Spüler zu räumen war. Danach entschieden wir uns für den Fernseher und wählten eine Quiz-Sendung. Frau Gabler hatte beim Thema "Film und Theater" die Nase vorn, ich bei "Natur und Kosmos". Eine der Fragen - es ging um die Monde in unserem Sonnensystem - interessierte sie besonders, weil sie bisher nur vom Erdenmond gehört hatte.

"Das schaut ja so aus, als ob jeder Planet einen Mond braucht, und jeder Mond einen Planeten," sagte sie nachdenklich.
"Nein, so kann man das nicht sagen, Frau Gabler. Nehmen Sie zum Beispiel den Merkur oder die Venus. Beide haben keinen Mond. Wahrscheinlich gibt es viele Planeten, die keinen Mond haben."
"Ja, das ist wie bei den Menschen," seufzte sie, "manche haben einen Begleiter, andere nicht. Die Wichtigen haben so viele, dass sie die Einzelnen gar nicht alle kennen. Ich finde, dass jeder wenigstens einen Mond haben sollte."
"Sie meinen, einen Trabanten, der immer da ist, immer zugewandt und alle Schläge einsteckt? Sie sind ja eine Träumerin, Frau Gabler!"
Sie lachte und wir gingen zu Bett.

Am nächsten Morgen war kein Frühstück vorbereitet, aber ein Zettel auf dem Küchentisch ließ mich wissen, dass sie für den Abend einen Broccoli-Auflauf zubereiten würde. Ich möge ordentlichen Hunger mitbringen. Sie konnte nicht wissen, dass ich mit meinen Kollegen zu Mittag in der Kantine aß. Ich nahm mir vor, es ihr am Abend zu erzählen, aber dann war ihr Auflauf derart überzeugend, dass ich ihr stattdessen eine Art von Kostgeld gab, berechnet für eine Woche. Nach dem Essen saßen wir wieder vor dem Fernsehgerät, schalteten es aber bald aus, weil Frau Gabler mehr über meinen Beruf wissen wollte. Dabei zeigte sie sich sehr verständig und sagte mir auf den Kopf zu, dass ich für meine Arbeit überqualifiziert sei und deshalb oft Streit mit meinem Chef hätte. Vor dem Einschlafen überlegte ich, ob sie von sich aus auf den Gedanken gekommen war oder meine Darstellung die darauf gebracht hatte.

Sie wollte nun jeden Abend wissen, wie es mir in der Arbeit ergangen war. Ich musste mir die kleinen Erlebnisse des Tages mit ihren unartikulierten Stimmungen vergegenwärtigen und in Worte fassen. Frau Gabler hörte aufmerksam zu, hakte hin und wieder nach und ließ mich durch verschiedene Anmerkungen erkennen, dass sie schon die Namen meiner Kollegen kannte. - Ich fand, dass mir das gut tat. Es war wie ein täglicher Wohnungsputz. Oberflächlich zwar, aber das Gröbste wurde beseitigt.

Wenn ich sie umgekehrt nach ihrem Arbeitstag fragte, wehrte sie ab. Darüber sei nicht viel zu sagen. Da sie immer zu denselben Leuten gehe, reinige sie immer dieselben Gegenstände, sehe die immer selben Teppichmuster und Holzmaserungen, nehme immer die gleichen Putzmittel zur Hand und könne sie allein am Geruch unterscheiden. Leider habe sie sowenig aus ihrem Leben gemacht, aber wirklich unzufrieden sei sie nicht. - Am Samstag putzte sie wie üblich auch meine Wohnung und ich half ihr dabei. Für den Abend hatte sie Kinokarten besorgt.

Es war ein amerikanischer Liebesfilm: turbulent, mit viel Geschrei und falschem Pathos. Frau Gabler entschuldigte sich auf dem Heimweg ein ums andere Mal für den Missgriff. Ich machte kein Hehl aus meiner Enttäuschung.
"Dachten Sie denn, dass mir der Film gefallen würde?" Sie überlegte.
"Ich habe mir gedacht, wegen der Schauspieler und weil die Kritiken gar so schlecht waren. Das Thema ist ja auch interessant. Wenn eine Frau erkennt, dass der Mann, der ihr schon seit Jugendtagen zur Seite steht, die bessere Wahl ist als ein aufgeblasener Chirurg, der sie nur ins Bett kriegen will, dann ...". Den Rest würgte sie hinunter, weil ich hörbar seufzte.
"Beim nächsten Mal möchte ich bitte bei der Auswahl mitreden."

Vor dem Einschlafen fiel mir dieser Satz wieder ein und ließ mich hochschrecken. Warum war Frau Gabler eigentlich noch da? Was war mit ihrer Wohnung? Sie hatte sich vor mehr als einer Woche bei mir eingenistet und kein Wort über ihre Rückkehr verloren. Ich nahm mir vor, das Thema am nächsten Abend anzusprechen. - Dazu kam es aber nicht, weil wir einen Gast hatten. Frau Gablers Bruder Ferdinand saß am Küchentisch und begrüßte mich wie eine alte Bekannte. Ich erfuhr, dass er von Beruf Maler und Anstreicher war, aber auch Elektrokabel verlegen, verstopfte Abflussrohre reinigen und - selbstverständlich - tapezieren konnte.

"Er ist ein Tausendsassa!" sagte Frau Gabler und betrachtete ihn voller Stolz. "Jetzt kümmert er sich um meine Wohnung. Der Vorraum, das Bad und die Küche sind verrußt. Und es stinkt. Am liebsten würde ich gar nicht mehr zurückgehen."
Herr Ferdinand leistete uns bis spät in die Nacht Gesellschaft, wobei sein Charme mit jedem Achtel Wein zu wachsen schien. Am Ende bot er mir an, alle Zimmer neu zu tapezieren, und zwar unentgeltlich, weil ich doch seiner Schwester in einer großen Notlage geholfen hatte.
"Wozu sind Freunde denn da?" fragte er und ergriff meine Hand, die auf dem Tisch lag. "Auf uns können Sie sich verlassen. Wir sind ehrliche Leute. Und dankbar. Vor allem dankbar! Wenn uns jemand einen Gefallen tut, vergessen wir das nie. Anruf genügt und ich komme ins Haus. Ich lasse alles liegen und stehen. Auf mich ist Verlass!"

Frau Gabler war die Situation nun ein wenig peinlich geworden. Sie drängte ihren Bruder zum Aufbruch, versicherte mir aber vor dem Schlafengehen, dass er tatsächlich sehr zuverlässig sei und bei der Arbeit keinen Alkohol anrühre. "Er ist eben auch ein Einsamer, so wie ich. Wir haben in der Liebe beide kein Glück gehabt. Zwei einsame Monde sind wir, auf der Suche nach einem Planeten. Das ist schon recht traurig."

Am nächsten Morgen fühlte ich mich stark benommen, weil ich zu viel getrunken hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Obwohl die Küche aufgeräumt und wieder blitz-blank war, lag noch der Geruch von Wein in der Luft. Mir wurde übel. Ich musste im Büro anrufen und mich krankmelden. Wieder im Bett betrachtete ich die Tapeten und sah, wie verblasst sie waren. Da und dort gab es auch Flecken und Schrammen. Ob ich das Angebot von Frau Gablers Bruder annehmen sollte? Frischen Wind in die alten Mauern lassen? Ich würde in dieser Zeit jeden Abend mit den beiden verbringen müssen.

Im Büro wurde ich gefragt, warum ich mich nicht mehr in der Kantine blicken ließ. Ich erzählte von Frau Gabler und ihren Kochkünsten. Als ich auch noch ihren Bruder, den Allround-Handwerker, erwähnte, war man der Meinung, dass ich mir dieses Geschwisterpaar unbedingt warmhalten sollte. "Leute, die dir Ratschläge geben, findest du an jeder Ecke, aber Leute, die für dich kochen und dir die Wohnung tapezieren, sind rar wie Edelsteine," meinte eine Kollegin. Nur unser Techniker war nicht überzeugt: "Und wo ist der Haken?", wollte er wissen. "Es gibt keinen Haken," erwiderte ich, "sie wird in ein paar Tagen ausziehen und tapezieren soll jemand anderer." Die Kollegin schüttelte den Kopf.

Am Abend sagte Frau Gabler beiläufig, dass ich mich wohl schon darauf freute, bald wieder allein zu sein. Ich lachte belustigt auf, ohne zu antworten.
"Sie haben schon recht," meinte sie, "es gibt Planeten, die keinen Mond brauchen. Vielleicht haben manche auch ihren Mond verloren und wollen dann keinen neuen. - Der Ferdinand und ich sind in einem Kinderheim aufgewachsen. Wir waren Viele dort. Wenn Einer abgeholt wurde, waren wir ganz aus dem Häuschen." Sie lachte. "Dann hat man uns stundenlang beruhigen müssen. Die Kleineren haben sich eingenässt. Die Meisten sind wiedergekommen. Dann waren die Älteren schadenfroh. - Ich glaube, wir wären mit jedem bösen Onkel mitgegangen, wenn er nur versprochen hätte, uns bei sich aufzunehmen. - Wissen Sie, es gibt Dinge, nach denen man ein Leben lang suchen muss, ob man will oder nicht, auch wenn man schon erwachsen ist. Einmal muss man das Ganze gehabt haben, damit man später mit einem Teil zufrieden sein kann."

Sie stellte eine Schüssel Obstsalat auf den Tisch, ohne mich anzusehen. Viele Fragen gingen mir durch den Kopf, aber ich hatte das Gefühl, zu einer Höhlenexpedition aufbrechen so sollen: hundert Meter unter der Erde, nur ein kleines Grubenlicht und bröckelndes Gestein von allen Seiten. Dem war ich nicht gewachsen und sagte: "Ja, das war gewiss sehr schwer, aber man sagt ja, dass die Zeit alle Wunden heilt. Und Sie sind noch jung." - "Da haben Sie recht," antwortete sie und wechselte das Thema.

Am nächsten Tag saß Frau Gabler bei meiner Heimkehr auf ihrem gepackten Koffer und bedankte sich für die freundliche Aufnahme in meinen Haushalt. Ferdinand habe heute ihre Wohnung fertiggestellt. Zum Abschied schenkte sie mir eine Flasche Wein und bedauerte, mir mitteilen zu müssen, dass sie ab sofort nur mehr wochentags arbeiten werde. Ich müsse also auf ihre weiteren Dienste verzichten. "Aber Sie werden sicher bald jemand anderen finden, einen neuen Mond sozusagen." - Ich ließ sie ohne Widerspruch gehen, weil das Ganze ja immer nur ein Geschenk sein kann.
 
Hallo Matula,

trotz des Titels hatte ich mit einem anderen Schluss gerechnet (fiel mir erst später auf).
Hier hast du ein eigentlich unspektakuläres Ereignis fesselnd beschrieben. Gefällt mir sehr.

LG SilberneDelfine
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Matula,

ich bin begeistert! Wie Du dieses Hin und Her von echten und angenommenen Motiven, dieses Wissen, was man braucht, vielleicht auch wissen, dass man wenig braucht, komponiert hast - große Klasse! Es schwingen immer diese Klischées mit, aber im Grunde erscheinen echte Menschen. Du hast mich auch zum Nachdenken gebracht - die Frau Gabler sieht man ja immer mit Vorsicht im Blick agieren, meint, eine Klette vor sich zu haben, und dann kommt auch noch der Bruder ... nein, auch mit Wissen der Lebensgeschichte zerstreuen sich meine Zweifel nicht, dass ich so jemanden um mich würde haben wollen, aber das Verhalten erscheint mir jetzt nicht mehr abwegig, und es gibt gewiss genügend Menschen, denen eine Frau Gabler fehlen würde - nur nicht der Protagonistin.

Liebe Grüße
Petra
 

Bo-ehd

Mitglied
Ja, so sehen wir unsere Mitmenschen, dabei stimmt bei denen, die man notgedrungen duldet, alles: der Notfall, das Bemühen um Gegenleistung, die Ehrlichkeit und die Dankbarkeit. Und nicht einmal die Flasche Wein als Geste fehlt. Insofern ist der Schluss gut; eine Pointe wäre allerdings besser gewesen.
Gruß Bo-ehd
 

Matula

Mitglied
Guten Abend SilberneDelfine, Petra und Bo-ehd,
ich habe mich sehr über Eure Kommentare gefreut! Ja, es ist einmal eine Geschichte ohne Mord, Tot- und Paukenschlag., aber eine, von der ich schon in vielen verschiedenen Facetten gehört habe. Die Dienstleistungen "im hochpersönlichen Bereich" sind heikel, weil es oft verdeckte wechselseitige Erwartungen gibt, die unter normalen Umständen nicht zur Sprache kommen. Erst wenn man sich besser kennenlernt, bekommt man eine Ahnung davon. Der Entlohnung hier den richtigen Stellenwert zuzuschreiben, ist aus meiner Sicht recht schwierig. Wann kann man eine unentgeltliche Leistung akzeptieren, wann muss man sie ablehnen ?

Herzliche Grüße,
Matula
 



 
Oben Unten