Ewiger Winnetou

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Karoline Anschütz, wohnhaft in Ruppertsberg in der Pfalz, Ur-Ur-Großnichte des berühmten Schriftstellers Karl May, erhielt fünf Tage vor ihren dreiundsechzigsten Geburtstag Post aus der sächsischen Stadt Radebeul. Sie hatte nur schwache Erinnerungen an einige Erzählungen ihres Großvaters Dietrich, der ihr als Jugendliche von einer verwandtschaftlichen Verbindung zum bekannten Schriftsteller Karl May erzählt hatte. Sie wusste daher, dass es keine direkten Nachfahren dieses berühmten Mannes gab, da dieser keine nachgewiesenen Kinder gehabt hatte. Bekannt waren nur Nachkommen seiner Schwerstern; eine davon war Karolines Ur-Ur-Großtante. Aus deren Erbe erhielt sie nun dem Testament entsprechend eine Sammlung von Manuskripten - völlig unsortiert das Ganze. Karoline, als gelernte Floristin, hatte an dieser Art von Blattsammlung kein Interesse. Sie reichte diese weiter an ihren Bruder Ottfried, Archivar des Heimatmuseums der Stadt Landau. Ottfried hatte von jeher eine sehr enge Beziehung zum geschriebenen Wort; zu eigenen Werken hatte es jedoch bislang nicht gereicht.

Und Ottfried war schwer begeistert. Es klang für ihn ganz nach anspruchsvoller Beschäftigung mit dem Leben ihrer Ahnen. Er restaurierte diese umfangreiche Loseblattsammlung äußerst akribisch und sotierte sie. Dabei stieß er auf eine unglaubliche Geschichte. Urahn Karl hatte in diesen Schriftstücken u. a. verfügt, dass sein Nachlass nur demjenigen der Erben zustehen würde, der den Band Winnetou III in seinem Sinne vollenden würde. Der in dem Roman beschriebene Tod des edlen Apachen war demnach von Gläubigern des hochverschuldeten Autors aus dramaturgischen Gründen erzwungen worden. Die gierigen Profiteure versprachen sich davon eine größere Aufmerksamkeit und erhebliche Mehreinnahmen durch eine höhere Auflage. Diese vom Verfasser nicht gewollte Ausgangslage müsse nach einer festgelegten Zeit korrigiert werden, so verfügte es der Erblasser. Und dieser Zeitpunkt war nun gekommen. Das würde Wellen schlagen.

Ein derart anspruchsvolles Vorhaben würde Ottfried in seinem häuslichen Umfeld niemals bewerkstelligen können. Er trat seinen gesamten Jahresurlaub in einem Stück an und begab sich an den Bitterfelder See in Sachsen-Anhalt. Dort mietete er sich in eine Ferienhütte abseits der touristischen Hotspots ein. Ottfried kannte diese Gegend nur aus Erzählungen, und dabei war ihm der frühere Spitzname, Silbersee, haften geblieben, welcher von den metallischen Einleitungen der früheren ORWO-Filmwerke in Wolffen herrührte. In Bezug auf die anstehende Aufgabe im Sinne Karl Mays bekam der Name Silbersee für ihn nun etwas Mystisches. Als langjähriger, ordnungsliebender Archivar war Ottfried systematisches Arbeiten gewohnt und hatte binnen weniger Wochen verschiedene, überschaubare Aktenstapel angelegt. Dann kam der schwierige Teil seines Vorhabens. Er begann, Winnetou III umzuschreiben. Als notorischer Vielleser hatte er keine Probleme damit, sich anhand der in großer Anzahl verfügbaren Bände in die altmodische Erzählweise seines Ahnen Karl May einzulesen. Und irgendwann, nach mehreren Anläufen, beherrschte er sogar dessen Schreibstil ziemlich gut. Ottfried spürte eine Veränderung in sich. Er hatte nun das Gefühl, in seinem bisherigen Leben als Schriftsteller im Körper eines Aktensortierers gefangen gewesen zu sein. War so etwas möglich, eine Mutation der Schreib-Gene über mehrere Generationen? Die Geschichte nahm ihren Lauf.

Das geräumige Wohnzimmer der Hütte war bald voll mit Schreibutensilien aller Art. Dazu kamen riesige Pakete von Pinwand- und Flip-Chartpapier. Alle diese Materialien verbrauchte Ottfried in rauen Mengen. Das vorher so gut aufgeräumte Zimmer glich bald einer Höhle voller gigantischer Stapel von Papierbögen, die mit alten Ausgaben der Bücher des notorischen Vielschreibers Karl May garniert waren. Das war aber nur der äußere Rahmen. Der frühere Archivar schrieb sich in einen Rausch. Befeuert von den Abenteuern Winnetous und Old Shatterhands trieb er die Geschichte um diese beiden Helden weiter und weiter. Sie, und einige aus der darauf folgenden Nachkommenschaft, vollbrachten in Ottfrieds niedergeschriebenen Sammlungen Heldentaten wie ihre Vorfahren, angelehnt an Meilensteine der amerikanischen Geschichte. Und Ottfrieds Fantasie fand kein Ende. Diese ruhelosen Abenteurer zogen weiter nach Europa. So kam es, dass ein Apachen-Häuptling namens Winnetou V in Radebeul in Sachsen auftauchte und kurze Zeit später eine der Schwestern Karl Mays ehelichte. Ab hier wurden die Erzählungen zusehends verwirrter, Ottfried hatte sich in seinem nicht mehr zu bremsenden Schreibzwang in der Irrationalität festgefahren. Die Zusammenhänge waren fern jeder Plausibilität, seine Ausführungen hatten keinen Bezug mehr zur realen Welt.

Seine Schwester Karoline hatte während dieser intensiven Arbeitsphase des Bruders sporadisch telefonischen Kontakt zu diesem gehalten. Sie spürte irgendwann, ihr Bruder Ottfried legte immer weniger Wert darauf, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Nach der zweiten Woche vergeblicher Versuche einer Kontaktaufnahme fuhr sie nach Bitterfeld. Als sie dort hingelangte, spürte sie ein starkes Unbehagen. Karoline ging in den Wohnbereich der äußerlich unauffällig wirkenden Hütte durch die unverschlossene Hintertür. Sie betrat den Raum und sah, dass ihr Bruder leblos über der Arbeitsplatte zusammengesunken lag. Karoline war von diesem Anblick geschockt, ihr stockte der Atem. Voller Entsetzen schlug sie reflexartig beide Hände vors Gesicht, sie konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Es gelang ihr nur mit enormer Willensanstrengung, sich durch diesen chaotischen Irrgarten von Papierstapeln und anderen Krempel durchzuarbeiten.

Im pathologischen Befund des Klinikums hieß es dann später, Ottfried sei einem Herzversagen erlegen. Die Todesursache stand vermutlich im direkten Zusammenhang mit einem exzessiven Nikotinmissbrauch in Verbindung mit einerm starken Koffeinabusus. Weiter wurde festgestellt, dass der Verstorbene dehydriert war. Und das war das Makabere daran. Ottfried war in der Nähe eines großen Sees, dicht am Ufer seines Silbersees, regelrecht ausgetrocknet. Laut ärztlichem Postulat war dem Exitus des Archivars eine sogenannte Hyperscriptomanie vorangegangen, dem pathologischen Zwang zur Vielschreiberei.
 

petrasmiles

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Schade, kein Happy End :) aber wie sollte das auch gehen.
Ich hoffe, es war ein schöner Tod!

Das Einzige, was mich wirklich stört ist das Wort 'geschockt' - das ist das Partizip II von 'schocken', aber um die Gemütsbewegung zu beschreiben, ist man immer noch 'schockiert'. Wir haben alle so unsere 'kleinlichen Empfindlichkeiten', und sehr wahrscheinlich steht das Wort so mittlerweile im Duden, aber es tut mir körperlich weh, wenn ich es lese, weil ich es für eine Banalisierung eines sehr starken Gefühls halt, die wieder so ein englisch-deutscher 'Bastard' ist: 'shocked' nur eben in Deutsch, da ist für das '... iert' kein Platz mehr im Kopf. Sorry fürs Nörgeln :oops:

Deine Geschichte hat mir gut gefallen.

Liebe Grüße
Petra
 
Dein Kommentar gefällt mir, Petra. Danke. Es, stimmt, Geschockt ist tatsächlich nicht die feinste Wortwahl. Beim Schreiben und Überlesen habe ich es einfach so einfließen lassen, obwohl ich Denglisch normalerweise vermeide.

Herzliche Grüße
Horst
 

Tonmaler

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Hallo, das ist ein amüsanter Text, den habe ich gern gelesen. Im Einzelnen:


Er begann, Winnetou III umzuschreiben.
Wundervoll. Schön auf dem Punkt, kurz, präzise. {Ich schreibe zur Zeit Kafkas 'Prozess' um, da waren auch viele unzufrieden mit der Handlung.}

Er hatte nun das Gefühl, in seinem bisherigen Leben als Schriftsteller im Körper eines Aktensortierers gefangen gewesen zu sein.
Was? Wie? Erklär das noch mal mit anderen Worten!


So kam es, dass ein Apachen-Häuptling namens Winnetou V in Radebeul in Sachsen auftauchte und kurze Zeit später eine der Schwestern Karl Mays ehelichte.
Das gefällt mir, jetzt dachte ich, nimmt es Fahrt auf.

Ab hier wurden die Erzählungen zusehends verwirrter, Ottfried hatte sich in seinem nicht mehr zu bremsenden Schreibzwang in der Irrationalität festgefahren. Die Zusammenhänge waren fern jeder Plausibilität, seine Ausführungen hatten keinen Bezug mehr zur realen Welt.
Und das ist -- leider -- die Bremse. Darin liegt humoristisches Potenzial, doch du zeigst diese Irrationalität nicht anhand einiger knackiger Beispiele, du beschreibst das 'nur' ganz allgemein. Ist vielleicht dein Stil, aber warum hier nicht ein paar der verwirrten Zusammenhänge zeigen?
Keine Lust gehabt?

Karoline war von diesem Anblick geschockt, ihr stockte der Atem.
Ich stoße mich weniger an dem 'geschockt' (geschockt beschreibt eben, wenn es dich trifft -- in dem Moment -- 'schockiert' dauert länger), allerdings die Kombination mit 'stockte'? War das ein geschocktes Stocken?



Freundlich,
tm
 
Zuletzt bearbeitet:

rubber sole

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Hallo Horst M.,

interessant erzählt, auch im tragischen Teil. Auch ich habe den Eindruck, die Geschichte ist nicht komplett: Aus der Zeit zwischen Winnetou III und dem Auftauchen eines Nachkommens in Deutschland gäbe es noch viel zu erzählen.

Gruß von rubber sole
 
@Tonmaler:

Die zitierte Erkenntnis des Stadtarchivars Ottfried ist so zu verstehen: Er hatte das Gefühl, in einem falschen Leben gelebt zu haben. Die von dir festgestellte Bremse kann man als solche empfinden. Für das vorliegende Konstrukt der Geschichte stand ursprünglich das Thema neurotische Vielschreiberei im Mittelpunkt. Die fiktive Familiengeschichte des notorischen Vielschreibers Karl May ist mir beim Schreiben gedanklich hineingeraten. Die Zeitspanne, die zwischen Winnetou III und dem Auftauchen von Winnetou V in Radebeul liegt, böte vermutlich genügend Stoff für weitere (humorige) Episoden. Dass ich eine kürzere Variante gewählt habe, lag nicht an meiner Lustlosigkeit. Ehrgeiziges Projekt von Dir, Kafkas Der Prozess umschreiben zu wollen. Donnerwetter!.

Herzliche Grüße,
Horst
 



 
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