Erscheinungen

Philipp Z

Mitglied
1​

Der Wald erschien dunkel und bedrückend an diesem Abend. Aus der Ferne konnte man Eulen rufen hören. Matthäus blickte sich ängstlich um, während er über winzige Jungfichten hinweg immer tiefer in den Wald ging. Schweiß rann ihm von der Stirn bis zum Kinn, von wo er bei einer ruckartigen Bewegung herabtropfte.

Er blickte zwischen unzähligen Ästen hindurch auf die vor ihm liegende Lichtung. Plötzlich raschelte es vom vorderen Teil der Lichtung. Matthäus Gesicht spannte sich an, die Wangenknochen traten hervor, er wurde völlig still und lauschte.

Ein Rascheln, direkt vor ihm.

Stille.

Ein lautes Knirschen.

Stille.

Ein Knarzen.

Stille.



Nach einiger Zeit nahm er wieder andere Geräusche um ihn herum wahr. Sein Herzschlag beruhigte sich und der Wald verlor langsam seine Eindringlichkeit. Er war wieder von ihm abgerückt.

Er blickte zurück, in die Richtung, aus der er gekommen war. Der Wald war dort dichter und dunkler. Die Bäume wirkten Grau, als ob keine Farben an ihnen haften wollten. Matthäus wandte sich wieder der Lichtung zu.

Ein Schweißtropfen rann ihm ins Auge und er strich mit der Hand fest darüber. Der Ausschnitt der Lichtung, auf den er blickte, war nun unscharf geworden und er musste viele Male Blinzeln bis er wieder besser sah.

Es war auf einmal heller geworden, Lichtstrahlen brachen durch die Baumdecke und durchschnitten den Wald. Vom Rand der Lichtung schritt ein bärtiger, muskulöser Mann in Matthäus Sichtbereich. Er hatte eine feierliche Miene aufgesetzt und war in eine beige-goldene Tunika gekleidet. Seine Haut war von einem leichten Glanz, als ob er eingeölt wäre wie ein Ringer. Langsam schritt er über die Lichtung. Eine unwirkliche Erscheinung. Als er wieder im Dickicht verschwand, wurde es still und Matthäus machte sich wieder auf.

2​

Der Wald veränderte sich, er wurde wieder dichter und auch dunkler. Matthäus hielt deshalb an und entschied, erst am Morgen weiter zu gehen. Er streifte lauter Blätter und Ästchen von seinem Gewand ab und blickte sich um. Sein blick verharrte auf einem kleinen moosigen Stück Holz das auf dem Boden lag. Er kniete sich darauf, faltete die Hände und begann zu beten.

Mit den ersten Sonnenstrahlen brach er auf. Das Ende des Waldes und damit der große See musste bald erreicht sein. Der Wald wurde lichter. Irgendwann schimmerte zwischen den Bäumen der See hervor. Matthäus trat aus dem Wald, ans Ufer.

Der See war einige hundert Meter breit. Links war in der Ferne eine dicht bewaldete Landzunge zu erkennen. Der Wald reichte fast überall bis ans Ufer heran, nur auf der rechten Seite war eine größere freie Fläche zu erkennen. Dort war die Böschung auch von dichtem Schilf bewachsen.

Nachdem er sein Gewand ausgezogen hatte, stieg Matthäus in den See. Das Ufer fiel sehr schnell ab, nach ein paar Schritten stand er hüfthoch im Wasser. Seine schmale Gestalt mit dem langgezogenen Gesicht, den strahlend blauen Augen und den hellbraunen Locken spiegelte sich im Wasser. Ihm fiel die Phrase „in Würde katzbuckeln“ ein, die ihm ein Betrunkener auf dem Erntedankfest einmal an den Kopf geworfen hatte. Matthäus hielt die Beleidigung für treffend, weshalb er dem Mann nicht böse war.

Er schloss die Augen, spritzte sich Wasser ins Gesicht und wusch sich. Der Himmel war blau und von vielen sich im Wasser spiegelnden kleinen Wolken übersät. Unzählige Wolken. Sie waren ganz weiß, mit feinen hellgrauen Akzenten. Manche Wolken hatten weiße Ausläufer die immer dünner wurden und sich am Ende mit anderen Wolken wieder verbanden. Der Himmel war bis zum Horizont voll von immer kleineren Wolken, bis sie nur noch durch kleine blaue Himmelsflecken voneinander abgesetzt waren.

Matthäus tupfte mit dem Finger ein paar Kreise auf die Wasseroberfläche. Als die Kreise verlaufen waren und das Aufschaukeln des Wassers an der Stelle immer schwächer wurde, erkannte er sein Spiegelbild wieder. Matthäus blickte es eine ganze Weile an. Es war, als blickte ihn ein Fremder an. Dann hallte ein Kuckucksruf über den See und Matthäus, aus seiner Starre gerissen, blinzelte kurz, schlug mit der Hand auf Spiegelbild, stieg aus dem See und kleidete sich wieder an.

Auf den Boden sitzend nahm Matthäus eine kleine zweiteilige Tafel aus seiner Tasche, klappte sie auf und legte das Scharnier um. Die beiden Hälften lagen jetzt genau ausgerichtet in seiner Hand. Die Innenflächen der Tafel waren Dünn mit Wachs überzogen. Matthäus zog einen metallenen Stift aus der Tasche und setzte ihn mit der Spitze auf das Wachs. Er schloss die Augen und begann leise zu sprechen.

„Ich blicke nach Innen und fasse das Erste“. Sein Stift kratzte ruckartig ein Stück nach oben. „Es folgt das Nächste“. Wieder kratzte der Stift ein Stück, diesmal zur Seite. „Es folgt das Nächste“. Der Stift glitt diesmal nach unten, bis zum Rand der Innenseite.

Matthäus wiederholte diesen Vorgang viele Male. Mit der Zeit wurden die Bewegungen immer langsamer, bis der Stift so sanft über das Wachs glitt, dass man seine Spur fast nicht mehr erkennen konnte. Er schlug die Augen auf und blickte auf das zerkratzte Wachs. Eine Zeit lang saß er so da, dann klappte er die Tafel wieder zu. „Innen ist Trugbild, der Herr aber ist überall“ sprach er fast unhörbar und machte sich bereit, um aufzubrechen.

3​

Es dauerte einige Zeit bis Matthäus die freie Fläche am Ufer erreicht hatte. Aus der Ferne war ein kleines hölzernes Objekt am Rande der Lichtung sichtbar. Es war ein hölzerner Heiligenschrein, mit zwei Seitenwänden, einer Rückwand und einem flachen Dach. Im Inneren war ein Bild der Jungfrau Maria aufgehängt. Matthäus griff an das Bild um es herauszuheben, aber es bewegte sich nicht. Es war festgenagelt.

Matthäus packte den Schrein am Dach und stieß ihn mit einem kräftigen Ruck zur Seite hin um. Er zog seinen metallenen Griffel aus der Tasche und hebelte das Bild der heiligen Jungfrau damit von der Rückwand des Schreins. Als das Bild endlich abgelöst war, hatte sich der Rahmen verzogen und die Leisten waren an zwei Stellen nur noch locker verbunden. Matthäus nahm den Griffel fest in die Hand und durchstach mehrmals das Bild. Das dargestellte Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Dann warf er das Bild in einem großen Bogen in den See und machte sich auf, weiter Richtung Norden.

4​

Irgendwann tauchte im linken Ausläufer des Sees in der Ferne eine Kirche auf. Ein imposantes Gotteshaus, umgeben von kleineren Gebäuden. Vielen kleinen Punkten bewegten sich darum. Die Kirche hatte ein großes Mittelschiff mit einem flachen Dach. Die Außenfassade war von Rissen durchzogen, der Putz zum Teil abgeplatzt, mit hervorschauendem Mauerwerk.

Ein paar Angler saßen nicht weit vor der Kirche am See und blickten an ihren Angelruten vorbei aufs Wasser. Als sie ihn bemerkten, murmelte er etwas und machte eine flüchtige Geste zum Gruß. Bis auf einen, der nur blöde glotzte, nickten ihm die Angler zu.

Vor der Kirche scharrten sich einige Menschen um zwei Priester, die gerade lebhaft diskutierten. Matthäus stellte sich neugierig dazu.

„Wenn wir die Verse so strikt auslegen, können wir uns keine gute Vorstellung von den Ereignissen der Heiligen Schrift machen. Natürlich ist das Wort die Grundlage, das von Gott gegebene. Aber reicht die Schrift alleine aus, dem einfachen Mann die Geschehnisse verständlich zu machen? Werden ihm die Ereignisse, die darin beschrieben werden, vor dem inneren Auge klar?“, fragte der Jüngere. Dabei wippte er immer wieder den Armen auf sein Gegenüber zu, so als wollte er ihm einen unsichtbaren Kürbis übergeben.

Der Ältere blickte ihn die ganze Zeit mit ungerührter Mine an. „Mein lieber Gregorius, das kann er natürlich.“

Erzürnt von der schroffen Antwort begann Gregorius, erneut auf ihn einzureden.

Matthäus folgte den Ausführungen sehr bald nicht mehr. Er kannte diese Gespräche zur Genüge aus seiner Abtei. Etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit gefangen.

Täuschte er sich, oder hatte der Jüngere einen bronzefarbenen Teint? Nicht zu reden von der glänzenden Haut des Älteren! Nicht wie jemand der schwitzte, sondern wie jemand der viel Wert auf seine Erscheinung legte. Beide waren sie auch von äußert kräftiger Statur, besonders für Priester.

Matthäus umklammerte fest den Gurtansatz seiner Tasche. Er griff schnell hinein und befühlte die Tafel. Sie war noch da. Er atmete tief durch und die Erregung legte sich langsam. Er wandte sich von der Gruppe ab und schritt weiter Richtung Kirche.

In der Kirche zündete ein Licht an und bekreuzigte sich. Er kniete sich in die letzte Reihe und betete. Obwohl es in der Kirche recht kalt war, schwitzte er. Verstohlen betrachtete er die Menschen um ihn herum. Ein Altardiener löschte ein paar Kerzen, ein anderer kehrte den Boden, ein paar Gläubige beteten. Die meisten Gläubigen aber standen in einer langen Schlange, die bis zum Altarraum reichte. Dort stand ein Bild. Matthäus reihte sich ein.

Es zeigte Jesus mit Kreuznimbus vor goldenem Hintergrund, während er mit der rechten Hand die Segensgeste ausführte. Seine aufgemalten Augen blickten Matthäus gleichgültig an. Sie waren wie die Augen eines Toten, oder eines wilden Tieres. Seine Hand klammerte sich wieder am Gurt fest. Er blieb kurz stehen, dann wandte er sich ab.

Auf dem Rückweg zu den Kirchenbänken war ihm die Tür zum Glockenturm aufgefallen. Matthäus wartete bis ein Altardiener sie öffnete und dahinter verschwand. Er folgte ihm und versteckte sich hinter ein paar Kisten, in einer Nische hinter der Tür. Dort harrte er die Nacht aus.

5​

Die ersten Sonnenstrahlen weckten ihn. Er ging hinauf zu den Glocken und lehnte sich ans Geländer des Turmes. Der Platz war menschenleer, auch weiter entfernt war niemand zu sehen. 20 Meter unter ihm war das Kirchenportal, davor mehrere breite Stufen.

Ein kalter Wind wehte auf dem Turm. Jede Böe erzeugte ein Pfeifen auf dem Turm. Nach einiger Zeit verschwand die Sonne und ein trüber Grauton ergriff Besitz vom Himmel und von Matthäus Gemüt. Mit müden Gesten setzte er sich in den Windschatten einer großen Säule und wartete.

Es pfiff.


Ein lauter Schlag und Matthäus riss den Kopf hoch. Wo war er? Wieder ein Schlag, sein Geist war wie betäubt. Langsam kam er zu sich. Dann war es still, nur der Nachhall des Dröhnens hing noch in seinem Kopf. Er öffnete die Augen.

Die Glocken hatten aufgehört zu läuten. Eine große Gemeinde hatte sich am See versammelt. Sie lauschten einem Priester im roten Talar. Zum Glockenturm drangen die Worte nur bruchstückhaft, die Menge aber war gebannt. Rechts neben dem Priester stand auf einem Sockel das Christusbild aus der Kirche, darüber wurde von vier Messdienern ein prächtiger grün-goldener Baldachin aufgerichtet.

Ein Gebet, die Predigt, dann begann die Gemeinde zu singen. Matthäus zog währenddessen sein Gewand aus und setzte sich nackt auf den kalten Steinboden. Er nahm seine Tafel aus der Tasche, klappte sie auf und nahm den Metallgriffel. Die Spitze des Griffels zitterte leicht.

Vorsichtig setzte er den Griffel auf die zerkratzte Wachsoberfläche. Die zweiteilige Tafel klapperte leicht ein, er hatte sie nicht arretiert. Matthäus ließ die Tafel sinken und saß eine Weile so da. Er atmete unregelmäßig, ein dünner Schweißfaden rann ihm langsam von der Stirn. Etwas irritierte ihn. Lärm. Gesang. Der Gesang wurde lauter.

Er schaute zum See, sah die Gemeinde singend hinter dem Baldachin her gehen, Richtung Kirche. Vorsichtig richtete sich Matthäus auf. Er stellte sich hinter eine Säule und betrachtete die Prozession. Noch waren sie vielleicht hundert Meter entfernt.

80 Meter.

60 Meter.

50 Meter.

Er musste niesen, hielt sich die Nase zu und gab ein unterdrücktes dumpfes Geräusch von sich.

30 Meter.

Matthäus spannte sich an. Der Baldachin kam langsam immer näher. Matthäus musste sich leicht vorbeugen um ihn von hier oben zu sehen. Nur noch wenige Meter trennten das Christusbild von den Stufen zur Kirchenpforte. Plötzlich hörte Matthäus Rufe, jemand rief „da Oben“ und ein Kreischen war zu vernehmen. Die Prozession stoppte.

Die Messdiener waren nicht gleichzeitig zum Stehen gekommen, so dass der rechteckige, mit Brokat besetzte Baldachin am Fuß der Steintreppe sich zu einem Trapez verformt hatte. An seinem vorderen Ende lugte der Priester mit dem Christusbild in der Hand hervor und blickte Matthäus mit offenem Mund von unten her an. Einen Augenblick lang herrschte Stille.

„Elende Ketzer“ schrie Matthäus dem Priester aus voller Kehle entgegen. Der Priester, mit offenem Mund, zeigte keine Regung.

Auf einmal begriff er, packte das Bild und rannte auf die Gemeinde zu. „Weg von der Kirche“ schrie er, worauf die Menge sich panikartig auflöste.

Matthäus blickte auf das Schauspiel. Dann nahm er seine klappbare Tafel in die Hand, arretierte das Scharnier, drehte sie um und betrachtete sie. Auf der verblichenen Außenseite der Tafel war die Gestalt auf der linken Seite noch schemenhaft zu erkennen. Die Farben waren fast ganz verblichen. Das aufgemalte Gold war schon lange mit dem Braun des darunterliegenden Holzes verschmolzen.

Er brach die Tafel am Rücken entzwei, ließ die rechte Hälfte achtlos fallen und stach mit dem Griffel zu. Die Gestalt zersplitterte. Dann nahm er die zerstörte Hälfte, warf sie von sich weg und machte einen Schritt auf den Abgrund zu. Sie fiel trudelnd auf den am Boden liegenden Baldachin.
 
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