Ein Yeti in der sächsischen Schweiz

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VeraL

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Der Yeti stand mitten im Schneesturm und wuschelte sich aufgebracht durch sein Fell. Vor ihm saß ein Leprechaun auf einem Felsblock. Das irische Feenwesen schlotterte in seinen kurzen Hosen und dünnen Lederschuhen, aber sein kleeblattgrüner Frack saß trotz des Sturms tadellos und sein Bart war akkurat getrimmt. Nur die spitzen Ohren, die knallrot angelaufen waren und seine Hände, die unablässig den Zylinder drehten, verrieten, wie angespannt er war.
Der Yeti knurrte ihn an: »Was soll das heißen, du kannst es nicht versprechen? Ich habe meinen dritten Wunsch bei dir gut und dieses Mal darf nichts schief gehen. Keine dämlichen Spätfolgen oder so was. Dafür bist du dann endlich frei. Das wünscht du dir doch seit Jahrzehnten.«
Der Leprechaun sah das haarige Ungetüm vor ihm zögernd an: »Ich mache das nicht extra, weißt du. Beim ersten Wunsch hast du dir einen ruhigen Ort gewünscht. Die Magie hat einen Ort ausgesucht, der deinem damaligen Wohnort nahekam, und ihn quasi optimiert.«
»Ja, du erklärst mir das seit 150 Jahren. Ich hatte mich damals in Irland mit dem Chieftain der MacGillycuddy’s Reeks zerstritten und wollte weg an einen friedlichen Ort. Dann hab ich dich zufällig getroffen ...«
»Du hast mich gepackt und gegen meinen Willen mitgenommen«, schimpfte der Leprechaun, dessen Gesicht inzwischen knallgrün war.
Der Yeti plusterte sich auf. »Das ist deine Sicht. Jedenfalls hatte ich drei Wünsche frei. Und mit dem Ersten hast du uns ins Himalaja gebracht. Wer will denn hier freiwillig hin?«
»Am Anfang hast du dich hier wohl gefühlt. Du hast immerhin 80 Jahre bis zu deinem zweiten Wunsch gewartet und der war der dümmste Wunsch, den ich in den letzten 1000 Jahren gehört habe.«
Der Yeti brüllte so laut, dass seine Spucke dem Leprechaun ins Gesicht flog. »Dir war es hier doch zu einsam. Wünsch dir ein wenig Abwechslung, hast du gesagt. Und dann sind die ganzen Bergsteiger hier aufgetaucht und haben ihre Müllberge hier gelassen und überall ihre dämlichen Zelte aufgebaut.«
Der Leprechaun sprang von dem Fels. »Mit einem Hohlkopf wie dir diskutiere ich nicht weiter. Es hängt immer davon ab, wie man seine Wünsche formuliert. Wenn du zu blöd zum Wünschen bist, kann ich da gar nichts machen.« Er drehte sich um. »Und außerdem mochtest du Edmund und Tenzing«, fügte er leise hinzu und schluchzte auf.
»Ja, ja. Jetzt kommen die Tränen wieder auf Kommando. Das ist emotionale Erpressung. Ich will doch nur irgendwo hin, wo es beschaulich ist und wo nicht überall Müll liegt. Ich bin so genervt von dem ganzen Mist hier, ich wünsche mich gerade sogar ins Elbsandsteingebirge.«
Beide merkten im gleichen Moment, was er gesagt hatte, und schauten sich entsetzt an. Dann machte es Plopp und sie verschwanden aus dem Schnee des Himalajas.

Der Leprechaun rappelte sich vom Waldboden auf. »Du hättest uns an jeden Ort der Welt bringen können. Wir könnten jetzt auf Mauritius am Strand liegen, auf Island einen Vulkan besteigen oder uns Angkor Wat ansehen. Und du wünscht dich nach«, er schaute auf den Wegweiser, »Bad Schandau?«
Der Yeti sah sich um. »Mir gefällt es hier. Es gibt sogar Bäume.« Er warf ebenfalls einen Blick auf die Hinweistafel. »Und Sandsteingebilde. Du musstest 150 Jahre mit mir verbringen. Jetzt hast du die drei Wünsche erfüllt und bist frei. Geh nach Angkor Wat und lass dich von den Touristen tottreten. Ich sehe mir die Gegend an.« Er drehte sich um und ignorierte die Tränen, die dem kleinen grünen Männchen über das Gesicht liefen.

Der Yeti stapfte durch den Wald einen Berg hinauf, der ihm im Vergleich zu den Gipfeln, die er gewohnt war, wie ein sanfter Hügel vorkam. Es roch ekelerregend nach Holz und Kiefernadeln und er nahm zirpende Vogelstimmen wahr, die er nie zuvor gehört hatte und die ihm jetzt schon auf die Nerven gingen. Er erreichte einen Aussichtspunkt. Von dort konnte er Wälder sehen, Sandsteingebilde und in der Ferne schlängelte sich ein Fluss. Es hätte ihm fast gefallen, wären da nicht zahllose Touristen in bunter Funktionskleidung gewesen. Waren diese Menschen denn überall? Immerhin war er endlich diesen mies gelaunten Leprechaun los. Allein dafür hätte der den dritten Wunsch schon vor Jahren einlösen sollen.

Die nächsten Tage verbrachte er damit, die Gegend zu erkunden. Früh am Morgen, bevor die Menschen unterwegs waren, sah er sich die Bastei an, schlich sich zum Kuhstall, der angeblich das größte Felsentor hier sein sollte, und starrte auf die Schrammsteine. Er fand alles ganz ok, aber er das ständige Verstecken nervte. Auch jetzt hockte er hinter einem Fels, weil ein Paar auf einer Bank Platz genommen hatte, und er nicht ungesehen vorbei konnte. Der Mann wischte auf einem Bildschirm herum.
»Gerda, das gibt es doch gar nicht. Hör dir das an: Ein Yeti in Bad Schandau. Sachsen. Wanderer haben einen Sensationsfund gemacht. In einem Wald oberhalb des beschaulichen Kurorts Bad Schandau haben sie Fußspuren entdeckt, die nur zu einem Yeti gehören können.«
»Ach Gott, da sind wir doch gestern gewesen. Sind Yetis nicht gefährlich?«
»Hier steht, die sind menschenscheu.«
»Wie ist denn der nur hier hingekommen?«
»Keine Ahnung, ist doch egal. Aber die schreiben, dass man für das erste Yeti-Foto eine Belohnung bekommt. Komm, ich muss sofort ins Hotel und mein Objektiv holen. Das wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schießen würde.«
Der Mann stürmte los und seine Frau sammelte hektisch die Brotdosen ein, die auf der Bank lagen, bevor sie ihrem Mann folgte. Sie waren gerade außer Hörweite, als mit einem lauten Kracks ein großes Stück aus dem Felsen hinter ihnen herausbrach. Der Yeti hatte vor Wut hineingeschlagen. Warum war er nur so dämlich? Er hatte Fußspuren hinterlassen. Jetzt würden sie ihn jagen.

Am nächsten Tag schien sich die Zahl der Menschen hier verzehnfacht zu haben. Sie waren überall mit ihren blinkenden Kameras und piepsenden Smartphones. Es wurde zunehmend schwieriger, ihnen zu entwischen. Sie bewegten sich leiser und einige trugen sogar Tarnkleidung. Wenn er kurz unvorsichtig war, las spätestens 10 Minuten später jemand auf seinem Display: »Haare einer unbekannten Spezies an einem Busch entdeckt. Ist das der Beweis für den Yeti?«
Ein Mann mit Feldstecher und Tarnanzug sagte: »Sie haben einen riesigen Kot-Haufen entdeckt. Er soll noch warm sein. Hier stehen sogar die GPS-Koordinaten.« Der Yeti rollte sich in einer Kuhle zusammen. Er war noch nie so gedemütigt worden. Tränen tropften auf den Waldboden und hinterließen große Pfützen. Bald würden sie ihn finden. Würden sie ihn umbringen? Das wäre ihm am liebsten. Das schlimmste wäre, in einem Zoo zu landen. Er wollte fliehen, aber wo sollte er hin? Hier in Europa gab es überall zu viele Menschen.

Hinter ihm raschelte es. Das war bestimmt dieser Idiot mit dem Feldstecher. Er griff in den Busch und zog den Leprechaun hervor. »Was machst denn du hier? Ich dachte, du bist längst in der Karibik?«
»Da war ich, aber dann hab ich mir Sorgen um dich gemacht.« Er malte mit seinen Schuhspitzen Kreise auf den Waldboden. »Außerdem hab ich dich vermisst. Wie du morgens immer guckst, wenn du aufwachst und direkt schlechte Laune hast. Wie du lächelst, wenn du ein leckeres Tier zum Abendessen gefangen hast. Und wie du diesen Chieftain nachmachst, das ist zum Piepen.«
Der Yeti spürte ein Kribbeln in seinem Bauch: »Hast du dich etwa in mich verliebt, oder was?«
Der Leprechaun wurde knallgrün und nickte. »Ich bin schon seit vorgestern wieder da, aber ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Ich verstehe, wenn du mich nie wieder sehen willst, nach dem Desaster mit dem dritten Wunsch.«
Das Kribbeln im Bauch des Yetis wurde stärker. In den letzten blöden Tagen war er nicht allein gewesen. Sein kleiner Begleiter war bei ihm. Und wenn er ehrlich war, hatte er ihn vermisst. Außerdem war diese enge grüne Jacke nicht ganz unattraktiv. Er lächelte. »Wenn du mich mitnimmst, verspreche ich, jeden Morgen schlechte Laune zu haben.«
Über ihnen erklangen Schreie und das Klicken von Kameras: »Da unten. Da ist er. Hast du ihn drauf?«
Der Leprechaun schwang sich auf die Schulter des Yetis. »Was hältst du von der Karibik? Ich habe da eine nette einsame Insel entdeckt.«
Die beiden verschwanden mit einem Plopp und kurz drauf flüsterte der Leprechaun: »Upps, da hab ich mich leicht mit den Koordinaten vertan.« Er duckte sich, als das wütende Brüllen des Yetis durch die Weiten des australischen Outbacks dröhnte.
 
Zuletzt bearbeitet:

molly

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Hallo Vera,

eine richtig schöne Geschichte, gerne gelesen
Der Leprechaun :)

und starrte ?auf? die Schrammsteine. Er fand alles ganz ok, aber er das ständige Verstecken nervte.

Liebe Grüße
molly

Hallo Vera, die 5 Sterne werden nicht gespeichert, muss ich später nochmal versuchen
 

VeraL

Mitglied
Danke für den Hinweis, molly. Hab ich direkt geändert. Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefällt.
 



 
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