Ein Augenblick

Monsieur, ich möchte Sie etwas fragen. Können Sie mir sagen, weshalb ich Sie nicht vergessen kann? Sie staunen? Dann erinnern Sie sich doch an den 10. Oktober 2022! Wir sind uns an jenem Montag in Vevey begegnet. Die Sonne schien und es war auch am Abend noch ungewöhnlich warm, nur die Gassen der Altstadt lagen schon im Schatten. Vor der „3121 resto-bar“ an der Place de l’Ancien-Port saß nur ein einziger Gast, und der waren Sie! Sie saßen gegen viertel vor sechs ganz allein an einem der vorderen Tische und aßen. Ich erblickte Sie sofort, als ich um die Ecke bog, sah Ihre Haare, und in mir flammte etwas auf. Monsieur, was haben Sie für Haare! Silberne Locken, schwarz meliert, die ihren ganzen langen Rücken bis an die Hüften hinabwallen. Och, ich war ganz verzückt. Und da blickten Sie von ihrem Teller auf und entdeckten mich. Sie rissen die Augen auf, hörten auf zu kauen und hielten Messer und Gabel wie Schlachtwerkzeug in den Fäusten. Sie starrten mich an wie eine Erscheinung. Vielleicht war Ihnen für den Bruchteil einer Sekunde Gustav Klimts „Judith“ in den Sinn gekommen – keine Ahnung. Ich schwebte vorbei, Ihr Kopf ging mit, Ihre Blicke folgten mir. Sagen konnten Sie nichts, Sie hatten ja den Mund voll. Und ich musste lachen, was Sie bestimmt bemerkt haben. Monsieur, ich bin es gewohnt, dass Männer mich ansehen und mir nachschauen. Doch dass jemand bei meinem Anblick derart verblüfft ist, habe ich noch nie erlebt. Sie waren ja ganz fassungslos! Als ich hinter der nächsten Straßenecke verschwunden bin, haben Sie sicher ganz bedächtig weitergekaut, jeden Bissen langsam zermahlend. Und ich habe noch an der Bushaltestelle gelacht und konnte mich bis Montreux gar nicht beruhigen. Den ganzen Abend habe ich mich über Sie amüsiert und mir ansonsten nichts dabei gedacht. Sie waren einfach nicht mein Typ! An jenem Tag habe ich an einen Mann gedacht, der auch lange Haare hat, aber schwarz und glatt, und dazu eine Adlernase. Er lebt in Kanada und ist auch kleiner als Sie. Sie haben ja einen kerzengeraden Rücken, der nicht endet. Ihre Knie befanden sich mindestens unter der Mitte der Tischplatte. Sie saßen da wie ein aufgeklappter Zollstock! Ihr Gesicht sah, soweit ich mich überhaupt daran erinnern kann, ein wenig verlebt aus. Aber Ihre Haare, Ihre wunderbaren Silberlocken, wiegen alle eventuellen Makel um ein Hundertfaches auf. Solche Locken hat sonst niemand!

Der Herbst ist kalt und trübe geworden. Ich denke immer wieder an den Genfersee, blassblau unter blassblauem Himmel, und an Sie. Sie trugen ein hellblaues Hemd und eine hellblaue Jeans, passend zum Tag. Sie haben nur für mich dort gesessen, allein und wie auf dem Präsentierteller, und ich habe meine Chance vertan. Ich war müde, erschöpft, durchgeschwitzt und hatte es eilig. Dennoch kann ich im Nachhinein nicht verstehen, weshalb ich Sie nicht angesprochen habe – schließlich hätte ich Sie fragen können, ob man draußen bedient wird – und weshalb ich mich nicht an den Nebentisch gesetzt und ein Wasser bestellt habe. Ich hatte sogar Durst. Aber mir erschien das Restaurant zu fade, zu ungemütlich, zu sehr Bistro. Ich hatte keine Lust, dort ein Vermögen für ein Glas Wasser auszugeben. Nein, die Resto-bar hat mich nicht beeindruckt, aber Sie... Ich habe mich benommen wie eine alberne Halbwüchsige und bereue es unendlich.

Monsieur, nehmen Sie einen Bogen Seidenpapier und zerknüllen Sie ihn! Hören Sie dieses leise Knistern? So knistert es in mir. Ich sehe Ihre Augen vor mir, groß wie Untertassen, blau wie der See im Dunst. Das Lachen über Ihre Schockstarre ist mir längst vergangen. Neulich habe ich sogar von Ihnen geträumt: Wir sind uns tatsächlich wieder begegnet, aber Ihre Haare waren abgeschnitten. Sie, Monsieur, Sie hatten kurze Haare! Ich war entsetzt und so maßlos enttäuscht, dass ich Sie gar nicht mehr mochte. Sie waren einfach gekleidet und hatten etwas Schmutz unter den Fingernägeln. Aber Sie waren äußerst liebenswürdig und ich dachte: ‚Er ist nett, versuchen kann man es ja.‘ Doch etwas fehlte. Sie hatten keinen Glanz mehr. Dieses Knistern von Seidenpapier, es war nicht mehr da. Die Aufregung, die Schwärmerei, das Wunderbare, der Reiz des Unbekannten – alles war weg. Alles nüchtern und farblos. Haare wachsen zwar, aber wie viele Jahrzehnte dauert es, bis sie wieder so lang sind? Ich erwachte miesgelaunt und brauchte Tage, um diesen Traum zu verdauen.

Jetzt ist Weihnachten, Sie eine hohe schlanke, mit Lametta behangene Tanne. Ich hoffe, Sie sitzen mit Ihrer Mutter vor dem Weihnachtsbraten und nicht mit Ihrer Frau. Natürlich denke ich manchmal, Sie könnten verheiratet sein. Ob glücklich, ist eine ganz andere Frage. Wenn Sie eine attraktive Frau hätten, dann hätten Sie sich von meinem Anblick wohl nicht so durcheinanderbringen lassen. Das hätten Sie dann nicht dürfen! Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie Ihre Frau aussieht. – Vermutlich das ganze Gegenteil von mir. Und wahrscheinlich gibt es in Ihren Kreisen keine Frau wie mich. Was sind das für Kreise? Ich habe Sie im Internet gesucht, auf Facebook. Galeristen, Immobilienmakler, Künstler aus der Waadt. Nichts. Wenn Sie das alles nicht sind, was dann? Sicher kein Bankangestellter und kein Anwalt. Etwa Rohrleger, mit diesen Haaren? Oder Sozialarbeiter? Oder sitzen Sie in einem muffigen Büro, als lebendiger Aktenordner? Vielleicht sind Sie ein ganz einfacher Mann, aber was Frauen betrifft, haben Sie einen vortrefflichen Geschmack. Sie haben Sinn für Schönes. Monsieur, wer sind Sie?

Das neue Jahr hat gerade erst begonnen und schon weiß ich, dass ich im Februar wieder nach Montreux reisen muss. Schon seit Wochen habe ich das Gefühl, jemanden wiederzusehen – Sie! Ich werde nach Vevey fahren und Sie suchen. Ich werde in die Bistro-bar gehen und mich nach Ihnen erkundigen. Wenn Sie dort Stammgast sind, wird man sie kennen. Selbst wenn Sie vor längerer Zeit in dem Lokal gewesen oder auch nur öfter daran vorbeigegangen sind, wird man sich an Sie erinnern. Einen Mann wie Sie übersieht man nicht. Monsieur, ich kann es kaum erwarten! Ich stelle mir Ihre Stimme vor – etwas rauchig. Ich sehe Sie auf mich zukommen. Ob Sie mich wiedererkennen?

Ja, ich war in Montreux. Natürlich habe ich gleich die erste Gelegenheit genutzt, um nach Vevey zu fahren. Der Genfersee lag auch diesmal blau unter einem strahlenden Himmel, ein zarter Nebelschleier schwebte über dem ruhigen Wasser, auf den Gipfeln der Alpen funkelte Schnee und es war wie auch schon im Herbst ungewöhnlich mild. Zwar waren die Blumenpromenaden ihrer Blumen beraubt, aber was machte das schon – die Luft war voll vom Duft vergangener Rosen. Die Altstadt von Vevey wirkte an jenem Nachmittag wie ausgekehrt, die Touristen fehlten und in den Gassen war kaum jemand zu sehen. Leer waren auch die wenigen Restaurants, die geöffnet hatten. Ich schaute überall hinein, ob ich Sie irgendwo sitzen sähe, schaute in die kleinen Galerien und Antiquariate, ob Sie dort vielleicht arbeiten, schaute in die wenigen Läden – kurz, ich suchte Sie überall. Gegen 17.00 Uhr wollte ich in der Resto-bar sein und nach Ihnen fragen. Die engen Straßen mit den farbigen Häusern, Durchgängen, Passagen… Sie werden es nicht glauben, aber es war, als hätte sich die gesamte Altstadt von Vevey gegen mich verbündet. Ich lief wie im Traum durch das Labyrinth der Gassen, überquerte kleine Plätze, von denen ich meinte, sie nie zuvor gesehen zu haben – offenbar ging ich immer im Kreis und es war wie verhext. Den Namen des Restaurants hatte ich natürlich vergessen, aber ich begegnete ohnehin niemandem, den ich hätte fragen können. Unglaublich! In einer Altstadt von der Größe wie der von Vevey einen bestimmten Ort nicht wiederzufinden, das durfte mir einfach nicht passieren. Da waren höhere Mächte im Spiel, die es mir nicht zu leicht machen wollten, die immer wieder unsichtbare Wände vor mir aufstellten, um mich in die Irre zu führen. Doch so schnell gebe ich nicht auf.

Drei Tage später, es war wie der 10. Oktober 2022 ein Montag, fuhr ich abermals mit dem Bus in Richtung Vevey. Bis 17.00 Uhr hatte ich noch viel Zeit, also stieg ich in La Tour-de-Peilz aus. Ich ging hinunter zum kleinen Hafen und zur Burg, die gleich daneben steht, und schlenderte am Seeufer entlang nach Vevey. Die Sonne schien warm, nur aus dem Wasser stieg Kühle. Vor mir rollte sich eine Platanenallee auf und ich – ich wurde immer aufgeregter. Schon bei dem Gedanken an das, was ich vorhatte, wurde mir schlecht. Ich habe auf der Bühne moderiert, war im Fernsehen, habe im Rundfunk gesprochen und hatte überhaupt kein Lampenfieber. Selbst vor den schwierigsten Examen war ich nicht so kopflos wie unter den knorrigen, zurechtgestutzten Platanen. Die Allee endet dort, wo die Altstadt beginnt. Und je näher diese kam, desto schlimmer wurde es. Ich war ganz außer mir, musste aufs WC, aber es war keines da. Ich ging am Literaturcafé vorbei, das gut besucht war. Die Gäste saßen in der Sonne, tranken, lachten, lärmten. Es war mir peinlich, nach einem WC zu fragen. Lächerlich das Bedürfnis und lächerlich die Frage. Ein paar Minuten später stürzte ich über die Grande Place, um nahe der Grenette die öffentliche Toilette zu benutzen. Vor lauter Bauzäunen konnte ich den Eingang nicht finden. Also hinein in die Grenette. Die ehemalige Markthalle mit Türmchen und Säulen dient als Touristen-Information, dort musste man es schließlich wissen. – Man wusste. Zum Eingang in den WC-Container käme man von hinten, und in der Altstadt wären auch noch Toiletten. Die zu finden, stellte ich mir kompliziert vor. Und was, wenn ich auf dem Weg dorthin Ihnen begegnet wäre? Monsieur, bitte warten Sie einen Moment, ich muss erstmal…? Nicht auszudenken!

Nachdem alles erledigt war, tauchte ich wieder in das Labyrinth der Altstadtgassen ein. Für einen Moment wäre es mir fast lieber gewesen, Sie nicht zu treffen, als diese Panik zu ertragen. Ich ging einfach geradeaus und siehe da, als wären all die unsichtbaren Wände abgetragen worden, befand ich mich plötzlich auf der Place de l’Ancien-Port. Es war der Platz, den ich suchte. „3121 resto-bar“ prangte in großen Lettern an der Wand eines Eckgebäudes. Hier war es! Tische und Stühle standen im Februar natürlich nicht draußen und ich fragte mich, wo sie überhaupt gestanden haben, denn ich hatte sowohl den Platz als auch den Außenbereich des Lokals als viel größer in Erinnerung. Drinnen schien alles leer zu sein. Ich machte gerade Anstalten, hineinzugehen, als mir in der Tür ein weibliches Wesen mit kastanienbraunem Haar entgegentrat und mich fragte, was ich wolle. Ihre Selbstsicherheit und meine Unsicherheit verschlossen mir den Mund. Ich konnte es ihr nicht sagen, nicht ihr. – Ich suche nur jemanden. Ach so. Auf Wiedersehen. Fertig. Das sollte es gewesen sein, dafür dieser ganze Stress? Ich ging ein paar hundert Meter die Rue du Conseil entlang und dachte daran, dass ich Sie den zweiten Tag suche und nicht finde und auch noch feige bin. Ich kehrte um, fasste Mut, betrat das Lokal. An der Bar saßen ein paar Männer. Es war ziemlich dunkel. Ein dunkler Kellner sprach mich an und ich erzählte ihm, dass ich hier verabredet sei mit einem großen schlanken Mann, der extrem lange Locken hat, bis an die Hüften. – War er hier, haben Sie ihn gesehen? Der Kellner glotzte mich an, als käme ich vom Mond, und schien einen Moment nachzudenken. „Vor einer Weile ist hier jemand vorbeigegangen, der hatte Haare bis hier her“, sagte er und deutete auf seinen Gürtel, „zum Pferdeschwanz gebunden. – Er ist in diese Richtung gegangen.“ Der Kellner zeigte in Richtung Rathaus. Daraufhin verließ ich fluchtartig das Restaurant und lief schnellen Schrittes die Rue du Conseil in Richtung Rathaus entlang. Weit und breit sah ich keinen Menschen, der Ihnen auch nur im Entferntesten ähnelte. Spätestens am Rathaus war mir klar, dass mein Versuch, Sie einzuholen, völlig absurd war. Verpasst, verpatzt. Ich bin zu spät gekommen, nur wegen dieser blöden Toilette.

Monsieur, ich komme mir vor, als würde ich die Hauptrolle in einem Film spielen. Es scheint alles so phantastisch – so wie Sie! Ich möchte Sie intellektuell nicht überfordern, aber mich interessiert schon, was sich unter Ihren Locken verbirgt. Hinter Ihrer Stirn. Vielleicht kann ich ja in jeder Weise zu Ihnen aufblicken. Apropos aufblicken: Sie sind so lang, alles an Ihnen ist so lang – Haare, Rücken, Arme, Beine. Im Gebrauch sind Sie sicher etwas sperrig und es gibt da etwas, das ich mir mit Ihnen noch gar nicht vorstellen kann… Aber erst einmal müssen wir uns wiederfinden. Sie wohnen oben in den Bergen? Oder sind Sie gar kein Einheimischer, sondern ein Tourist. Sind Sie Italiener? Wie soll ich Sie dann wiederfinden? Ich habe den Kellner noch nicht einmal nach der Haarfarbe der Person gefragt, die er gesehen haben will, auch nicht nach dem genauen Zeitpunkt, wann es gewesen sein soll. Ich war mir vollkommen sicher, dass Sie es waren, denn nur Sie haben so lange Haare. Die wallen und wallen, den ganzen Rücken herunter. Ich bin noch nie einem Mann mit solchen Haaren begegnet. Das fällt auf, da guckt man hin. Dass der Kellner ausgerechnet in dem Moment hinausgeschaut hat, wo Sie vorübergingen, war sicher kein Zufall. Und für mich ergibt sich ein Bild: Sie arbeiten in der Nähe, haben um 16.00 oder 16.30 Uhr Feierabend und niemanden, der zu Hause mit dem Essen auf Sie wartet. Sie sind sparsam und gehen nicht immer, aber manchmal eben doch ins Restaurant. An jenem 10. Oktober sind Sie nach der Arbeit in die Resto-bar gegangen, weil das Wetter schön war und Sie keine Lust hatten, sich selbst das Abendessen zuzubereiten. An der Place d’Ancien Port war es angenehm kühl, denn nach drei Seiten von Häusern umgeben liegt der Platz im Schatten. Sie haben sich an einen Tisch in der ersten Reihe gesetzt nach dem Motto „sehen und gesehen werden“. Einen ruhigen Ort haben Sie sich ausgesucht, fern vom Touristentrubel. Es war auch nicht die Uhrzeit, wo Touristen gewöhnlich essen gehen… Monsieur, ich ärgere mich immer noch, ich könnte mich zerraufen vor Wut: Wie konnte ich nur an Ihnen vorbeigehen! Sie trifft keine Schuld, Sie hatten einen vollen Mund und konnten nichts sagen. Hätten Sie aufspringen und mir kauend hinterherlaufen sollen, um sich letztendlich zu blamieren? Essen Sie eigentlich immer so? Es sollte eben noch nicht sein, dass wir uns wiedersehen, aber im Mai bin ich abermals in Montreux, und in Vevey. Im Frühling macht sich ohnehin alles besser, da sind die Menschen aufgeschlossener.

Monsieur, ich denke immer an Sie! Ich bin ganz kopflos wenn ich mir ausmale, Ihnen bald zu begegnen. Ob Sie dann wieder so verblüfft sind? Sie werden doch nicht ausgerechnet an diesem Tag freihaben oder verreist sein? Ich überlege schon, wie ich mich kleide. Vielleicht genauso wie im Herbst. Dann glauben Sie tatsächlich an eine Erscheinung! Ich werde mich unweit der Resto-bar aufstellen, genau an der Kreuzung, und auf Sie warten. Egal, ob ein oder zwei Stunden – ich bin geduldig. Ich werde sehr schön aussehen und wenn ich Sie kommen sehe, werde ich auf Sie zugehen und Sie ansprechen. Ich werde Sie fragen, weshalb ich Sie nicht vergessen kann. Und Sie werden stehenbleiben und mich mit Ihren großen wasserblauen Augen anstarren wie damals, als ich an ihrem Tisch vorüberging. Ich sehe uns beide in der Resto-bar einen Espresso trinken. Wir schauen uns an und können es nicht fassen. Oder lassen Sie mich stehen und gegen weiter ohne ein Wort? Monsieur, ich möchte mit Ihren Locken spielen, sie durch meine Finger gleiten lassen. Sie nehmen mich wie ein kleines Mädchen auf den Schoß und ich umschlinge Ihren Hals. Und dann sage ich Ihnen leise ins Ohr, was ich alles angestellt habe, um Sie wiederzufinden. Und Sie machen wieder große Augen und wachsen noch ein Stück. Sie dürfen sich ja auch geschmeichelt fühlen. Welcher Mann würde das an Ihrer Stelle nicht tun? Wie konnte ich Sie im Februar nur verfehlen, und das aus einem derartig trivialen Grund! Hat der Kellner Sie wirklich gesehen? Hat er überhaupt etwas gesehen? Hat er womöglich Spaß daran gehabt, mir einen Bären aufzubinden? Aber warum? Weshalb hätte er mich belügen sollen? Aus purer Niedertracht? Monsieur, Sie glauben es nicht, aber jedes Mal, wenn ich an den Genfersee denke, fange ich an zu schweben. Am 10. Oktober blühte dort noch alles wie verrückt, die Sonne wärmte wie im Sommer. Im Mai wird es wieder so sein: am Seeufer ein Blütenrausch, ein Fest der Farben, blauer Himmel und blauer See. Und Ihr langer Schatten auf dem Pflaster der alten Gassen…

Meine Mai-Reise nach Montreux wurde abgesagt. Ich bin ganz außer mir vor Kummer. Sie werden nach Hause trotten, müde und lustlos, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Sie werden an der Resto-bar vorbeikommen, die ihre Tische und Stühle wieder auf dem Trottoir aufgestellt hat und vielleicht, vielleicht denken Sie an eine dunkelhaarige Frau, die im grauen Kostüm, schwarzbestrumpft und schwarzbeschuht an Ihnen vorübergeglitten ist wie eine Fata Morgana. Die Absatzschuhe hätte ich an jenem Abend am liebsten in den See gefeuert, so lästig waren sie mir. Ich hatte kilometerlange Fußmärsche hinter mir und war kaputt, aber das konnten Sie mir nicht ansehen. Haben Sie denn im Nachhinein noch an mich gedacht oder haben Sie mich gleich wieder vergessen wie ein flüchtiges Bild, das einen zwar beeindruckt hat, das aber untergeht unter den tausend anderen, die einen ebenfalls beeindruckt haben? Wenn ich das nächste Mal nach Montreux komme, ist es Oktober. Oktober! Dann ist ein Jahr vergangen! Bis dahin muss ich mir etwas einfallen lassen.

Ich werde einen Brief an Sie schreiben und einen an die Resto-bar, beide in einen Umschlag stecken und abschicken. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie der Brief an Sie aussehen soll, ob ich unsere Begegnung zeichne oder ein gepresstes Veilchen hineinlege. Die Zeichnung könnten Sie als Karikatur interpretieren und letzteres wäre für den Anfang zu viel. Folglich verwarf ich diese Gedanken. Ich bin in ein Papierwarengeschäft gegangen und habe lange vor dem Regal mit den Briefkarten gestanden. Eine kleine neutrale Doppelkarte mit Umschlag sollte es sein. Doch in welcher Farbe? Rosa kam nicht in Frage, Sie sind ja kein Mädchen. Hellblau wirkt kalt und war ebenso wenig vorhanden wie zartlila. Weiß war mir zu gewöhnlich, auf Rot geschriebenes kann kein Mensch lesen, grau ist langweilig und braun nichts für gefühlvolle Worte. Bei grasgrün trifft Sie der Schlag! Ich entschied mich für kremfarben, das ist neutral und hat doch eine warme, verbindliche Note. Die Texte hatte ich tagelang im Voraus komponiert, sowohl den an Sie als auch den an das Restaurant. Ich habe mir eine E-Mail-Adresse nur für Sie zugelegt, lange darüber nachgedacht, welche meiner Telefonnummern ich Ihnen anvertraue und mir vorgenommen, den Brief nach Ostern abzuschicken. Nach den Feiertagen ist in der Gastronomie der große Andrang vorbei, und der Brief würde nicht im Getümmel untergehen. Man wird Ihnen meinen Brief geben, wenn Sie in der Resto-bar einkehren oder wenn jemand vom Personal Sie vorbeigehen sieht. Sie sind unverkennbar, und in der Schweiz ist man gründlich und gewissenhaft. Was also schreibe ich Ihnen? „Monsieur, ich bin die Frau, die an Ihnen vorübergegangen ist, als Sie am 10. Oktober 2022 gegen 17.00 Uhr an einem der Tische vor der ‚3121 resto-bar‘ saßen und aßen. Wie mir scheint, habe ich Sie sehr beeindruckt. Wenn Sie sich so wie ich an diesen Augenblick erinnern, kontaktieren Sie mich!“ An das Restaurant: „Mesdames, Messieurs, am 10. Oktober 2022 bin ich in Ihrem Restaurant einem Mann begegnet. Ich war sehr müde und hatte es eilig, was mir hinterher leidgetan hat. Sollte er Ihr Restaurant wieder besuchen oder daran vorbeigehen, übergeben Sie ihm bitte den beiliegenden Brief. Sie werden ihn sofort erkennen: Er ist sehr groß, schlank und hat extrem lange Silberlocken, bis an die Hüften. Ich lebe im Ausland und bin ab und an dienstlich in Montreux. Sollte er nicht erscheinen, werfen Sie den Brief bitte nicht weg. Ich komme im Oktober persönlich vorbei und hole ihn ab. Herzlichen Dank und freundliche Grüße.“

Vermutlich denken Sie gar nicht mehr an mich, aber wenn Sie meinen Brief lesen, fällt Ihnen unsere flüchtige Begegnung wieder ein. Es gibt Augenblicke, die ein ganzes Leben verändern. Sie haben natürlich nicht daran gedacht, dass jener Augenblick Ihr Leben hätte verändern können. Ich auch nicht, aber so ist es. Dabei muss ich gestehen, dass ich noch nicht einmal in der Lage wäre, Ihr Gesicht zu beschreiben – ich habe es ja gar nicht richtig gesehen. Braungebrannt, ein wenig zerknittert. Schließlich sind Sie nicht mehr der Jüngste. Monsieur, ich möchte Ihre Silberlocken bürsten, ganz lange und sehr gründlich. Jede Strähne einzeln und in mehreren Etappen, bis ich mit meiner Bürste unten angekommen bin. Ich gebe mich dem ganz hin, nichts anderes kommt mir in den Sinn. Ihre Locken gleiten wie ein zu bändigender Fluss durch die Finger meiner linken Hand, mit der ich sie halte. Och, ich höre gar nicht auf, sie zu bürsten. Es ist ein Hochgenuss. Sie, Monsieur, sitzen vor mir auf einem wackligen Stuhl. Ich stelle mir nämlich vor, dass Ihr Haus ein wenig versumpert ist, schmuddelig-gemütlich, und der Pflege einer weiblichen Hand bedarf. Egal, wie – ich bürste ihre Locken, die nicht enden wollen, und brauche lange für diese nicht enden wollende Wonne.

Bevor ich den Brief in Colmar zur Post bringen wollte, habe ich im Internet nach der genauen Anschrift der Resto-bar gesucht. Monsieur, es war, als hätte mir das Schicksal eine Ohrfeige verpasst: das Lokal hatte bereits seit März permanent geschlossen! Ich kann Ihnen gar nicht schildern, wie mir zumute war. Ich stellte mir zum x. Mal vor, wie Sie über den schattigen Platz gehen, wie Ihr Leben weiterverläuft ohne mein Leben, wie immer mehr Zeit vergeht seit jenem Tag. Doch ich sagte mir auch, dass Hindernisse nur im Geist existieren und ich auf keinen Fall resigniere. Inzwischen vergeht Monat um Monat. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Jeden Tag schaue ich im Internet nach, ob die Resto-bar schon einen Nachfolger gefunden hat. Nichts. Sogar an die Touristen-Information in Vevey habe ich geschrieben, die wissen auch nichts. Ich bin so traurig, denn alles hängt jetzt von diesem Brief ab. Wenn Sie ihn erhalten, dann werden Sie mir auch antworten oder mich anrufen, da bin ich mir sicher. Schon aus purer Neugier werden Sie es tun. Ihr Kopf ging ja damals mit, als sähen Sie einen Engel, Sie haben sogar vergessen zu kauen. Und jetzt sucht selbst der Friseur von nebenan einen Nachmieter. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass dort einer ist und stelle mir vor, Restaurant und Friseurladen werden zusammengelegt. Ein Friseursalon als Nachfolger eines Steakhauses – grauenvoll! Da finde ich Sie nie! Ein Friseur wird niemals mit seiner monströsen Schere in Ihrer Mähne wüten, nicht wahr? Monsieur, ich denke immer an Ihre unvergleichlichen Locken, die über Ihren schmalen Rücken in Richtung Kniekehlen rollen. Wie geht so etwas im praktischen Leben? Sind sie Ihnen nicht manchmal lästig? Mir nicht. Ich lege mich in Ihre Silberlocken und schmiege mich ganz dicht an Ihren Körper. Ihre Haut riecht ein wenig nach altem Puder. Ich hülle mich in Ihre Locken ein wie in einen Mantel. Nein, ich habe keine Scheu mehr vor all Ihren Längen. Sie modellieren mich mit Ihren Bildhauerhänden und ich Sie, und dann reißen Sie wieder die Augen auf und raunen mir zu, dass Sie so etwas noch nie erlebt haben.

Es ist Anfang Juli. Erleichterung. Jubel. Die Bistro-bar hat sich in eine Crêperie verwandelt, und ich habe den Brief abgeschickt. Die Urlaubszeit hat begonnen, da werde ich Geduld haben müssen. Sind Sie verreist? Wohin? Mit wem? Ich sehe Sie in Gedanken vor mir, sehe die weißen Gipfel der Dents du Midi am Himmel nagen, die Blumenpromenade am Genfersee mit ihren Palmen und Zypressen, die sonnengelbe „Belle Epoque“ von Montreux. Ich sehe die „Spielzeugburg“ von La Tour-de-Peilz etwas verwaschen im Dunst wie auf einem Aquarell, rote Geranien an verschnörkelten Geländern, Boote, Berge, Weinbergterrassen und immer wieder den schönsten See der Welt. Und Sie, allein vor ihrem Teller und ihrem Glas sitzend, völlig entgeistert und wie vom Blitz getroffen. Ich sehe mich lachend zur Bushaltestelle gehen und es ist mir wieder einmal unbegreiflich, dass ich damals nichts kapiert habe.

Die Zeit wird lang, der Juli ist schon vergangen. Sind Sie immer noch in Urlaub? Oder bewahrheiten sich meine leisen Zweifel? Was hat der Kellner an jenem Tag gesehen? Hat er mich angeschwindelt? Monsieur, mir ist der ganze Sommer verdorben. Dazu ist es lausig kalt und regnet jeden Tag. Auch im August – nichts. Kein Anruf, keine E-Mail. Nichts als Schweigen. Im Restaurant anrufen will ich nicht. Einfach hinfahren auch nicht. Also warte ich weiter. Auch im September kommt keine Nachricht. Was male ich mir nicht alles aus, weshalb Sie nicht antworten: Das Personal hat den Brief vertrödelt, natürlich unabsichtlich. Das war mein erster Gedanke. Sie sind nicht mehr dort aufgetaucht, mein zweiter. Sie sind fest liiert und haben kein Interesse an mir, mein dritter. Dieser letzte Gedanke war nur sehr vage und verflüchtigte sich immer wieder wie die Nebelschwaden überm Genfersee. Unwahrscheinlich auch, dass Sie nicht mehr wissen, wer ich bin. Sind Sie etwa doch nicht aus Vevey und gehen womöglich nie wieder über die Place de l’Ancien Port? Das Warten ist zermürbend. Ich stelle mir vor wie Sie daliegen in Ihrem unglaublichen Fell. Ihr nackter Körper, braungebrannt, drahtig, ein bisschen knochig, mitgenommen von den Jahren – der Reiz der Erfahrung. Späte Feuer brennen heller. Monsieur, Sie sind streng mit mir. Ihre weichen Locken lieben Ordnung. Ich versuche, sie ins Chaos zu bringen, sie sollen nass werden und triefen. Ich will mich in ihnen baden. Und in Ihnen! Schwelgen will ich in dieser silbernen Flut!

Der erste Montag im Oktober war genauso ein warmer Tag wie im Jahr davor. An der Promenade von Vevey blickte „Charlôt“ mit Stock und Melone auf grünen Rasen, die in den Seegrund gestochene Edelstahlgabel des Nestlè-Museums blinkte im hellen Licht, wieder waberte Dunst über der Seemitte und ließ die Konturen der französischen Alpen verschwimmen. – Das Wasser hatte auch diesmal die Farbe Ihrer Augen. Weit draußen zog der weiße Schaufelraddampfer seine Bahn und alles kam mir vor wie ein letzter Rausch, an dem man sich festhält, bevor der November die Farben wegwischt und die Stimmen leiser macht. Ich ging erst einmal in die Touristen-Information und traf dort auf eine umgängliche, kompetente Person. Ich habe ihr folgende Geschichte aufgetischt: Auf einer Ausstellung wäre ich einem Mann begegnet, der so und so aussah. Leider hätte ich seine Visitenkarte verloren und seinen Namen vergessen. Sie würde doch sicher die Künstler aus Vevey und Umgebung kennen, die Stadt ist ja nicht sehr groß. Im Allgemeinen ja, lautete ihre Antwort, sie würde auch schon seit zwanzig Jahren in Vevey leben, aber jemanden wie Sie hätte sie noch nie gesehen. Als nächstes bin ich in die Crêperie de l’Ancien-Port gegangen. Mein Herz schlug Galopp und ich hätte mich am liebsten irgendwo verkrochen. Vor dem Lokal standen dieselben Metallstühle und -tische wie voriges Jahr. An einem saß eine Frau, die gerade bezahlte. – Wieder nur ein Gast, diesmal weiblich. Als ich die Kellnerin erblickte wusste ich sofort, dass sie nichts weiß. Sie verstand noch nicht einmal, was ich wollte. Ein Brief? Keine Ahnung. Da müsse ich den „Patron“ fragen, aber der kam gewöhnlich erst später. Also setzte ich mich an einen der Tische und wartete. Ich hatte Glück: Der „Patron“ erschien bereits nach einer Viertelstunde und verschwand im Lokal. Nach einer Weile folgte ich ihm, stellte mich vor und fragte nach dem Brief. Der lag ordentlich neben der Kasse. Der große Umschlag fehlte, der kleine war geöffnet. Also wurden meine Zeilen an Sie gelesen, was mir furchtbar unangenehm war. Nein, Sie wären nicht dagewesen, die Resto-bar würde es ja auch nicht mehr geben und wenn Sie dort eingekehrt sind würde das keineswegs bedeuten, dass Sie auch in die Crêperie kommen. Die hätte schließlich ein ganz anderes Angebot und ein ganz anderes Konzept. – Monsieur, ich hatte schon befürchtet, dass Sie keine Crêpes mögen. Ein Mann wie Sie würde doch auffallen, sagte ich, auch als Passant. Der „Patron“ schüttelte den Kopf. Er würde jetzt zwanzig Jahre lang in Vevey wohnen und hätte jemanden wie Sie noch nie gesehen. Die Antwort kam mir bekannt vor. Ich nahm meinen Brief in Empfang und hätte am liebsten losgeheult. „Wenn er jetzt kommt…“, sagte ich. „Dann ist es einfach Pech“, erwiderte der „Patron“ und hielt mich bestimmt für leicht meschugge. Ich habe mich daraufhin an einen der Außentische gesetzt und mir einen Espresso bestellt, natürlich in der Hoffnung, Sie kämen vorbei. Beim Blick auf die Uhr musste ich feststellen, dass ich mich um eine Stunde geirrt hatte. Sie haben nicht gegen 17.00 Uhr, sondern gegen 18.00 Uhr in der Resto-bar gegessen. Ich saß da wie bestellt und nicht abgeholt, eine rote Blume am schwarzen Kleid, meine neue rote Tasche auf dem Schoß. Mein rotbemalter Mund kräuselte sich wie die Mohnblumenblätter meines Halsschmucks. Ich fühlte mich elendig und wartete, wartete bis nach 19.00 Uhr. Sie sind nicht gekommen.

Monsieur, Sie möchten wissen, wie es weiterging? Ich musste noch ein paar Tage in Montreux bleiben, aber nach Vevey fuhr ich nicht mehr. Die freien Abende vertrieb ich mir mit Spaziergängen. Ich stieg hinauf zum Kirchlein Saint-Vincent, das oberhalb eines Rebenhangs steht, und ließ meinen Blick über Montreux und den Genfersee hinüber zu den Savoyer Alpen gleiten. Im Kirchlein spielte jemand die Orgel. Ich ging hinein. Die Abendsonne schien in eines der Mosaikfenster und projizierte rosa, himbeer-und bordeauxrote, hellbraune und beigefarbene Kästchen an die schräg gegenüberliegende Wand. Das Licht wurde heller, und bald bildeten sich auf einem der Gewölbepfeiler blaue und weiße, gelbe und lila Farbquadrate. Diese Farben und die Orgelklänge – mir wurde ganz feierlich zumute. Ich verließ das Kirchlein und ließ mich treiben, fand den legendären Rosenweg und blickte über Büschel zartrosa Rosenköpfe auf schwarzgrüne Zypressen und flammendes Weinlaub. Ich lief wie auf samtenen Blütenblättern und war ganz überschwänglich. Unten lag der Zaubersee und dämmerte blassblau der Nacht entgegen. Dahinter, fahl, die Dents du Midi. Auf einmal befand ich mich in Territet. Es war schon halbdunkel. Der angestrahlte Springbrunnen auf dem Platz der Rosen formte Ringe und Kronen aus Wasserstrahlen und schien die einzige Unterhaltung der Kaiserin Elisabeth zu sein, die, in weißen Marmor gehauen, nachdenklich vor sich hinstarrte. Als ich am Seeufer ankam, verschwand die Abendsonne gerade hinter den schroffen schwarzen Bergen im See und tauchte ihn in orangenes Licht, das auf dem Wasser zerfloss.

Eigentlich hätte ich tieftraurig und völlig ernüchtert sein müssen, doch das Gegenteil war der Fall. Solange ich in Montreux weilte, flog ich leicht wie eine Feder durch die Gegend und war ganz ausgelassen. Dieser Zustand hielt auch danach noch an. Und heute? Jedes Mal, wenn ich an den Genfersee denke, ist alles himmelblau. In mir ist alles himmelblau. Und ich suche Sie weiter. Ich suche Sie in der ganzen Schweiz, in Italien, in Frankreich.

Monsieur, wir sehen uns wieder.
 



 
Oben Unten