Der Sohn vom Yeti

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WackyWorld

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Ich hatte noch nie ne Freundin. Früher hat es mich nicht gestört, aber jetzt bin ich fast 50 und ich wünsche mir, dass mich mal jemand in den Arm nimmt. Außerdem, und verzeih mir diesen Offenheit, habe ich noch Feuer in den Lenden. Also, mir geht es nicht nur ums Körperliche, nicht falsch verstehen, aber ich denke, es wäre vergeudet, wenn da einfach nur Eigenliebe betrieben würde.

Du wirst dich fragen, warum es bislang nicht geknistert hat? Ich will ehrlich zu dir sein, ich sehe nicht gerade wie ein Model aus. Als ich noch klein war und im Wald gespielt habe, da wurde ich oft von Wildschweinen angegrunzt, weil die mich für ihre Bache hielten. Ich habe ne Hasenscharte etwas Mundgeruch und ich leide an Kleptomanie. Also ich klaue nicht aus Spaß, es ist ein Drang. Einer, dem ich nicht immer widerstehen kann. Aber ich bin in Therapie. Ich denke, das mit dem Stibitzen wird sich legen.

Achso, eine Sache mag vielleicht auch noch dazu beitragen, dass sich Frauen nicht gerade um mich reißen: Ich bin freiberuflicher Trauerredner. Tagtäglich bin ich umgeben von Tod und Trauer. Ich sehe Menschen in ihren dunkelsten Stunden, höre ihre Geschichten von Verlust und Reue. Es ist ein Job, der mir viel gibt, aber er hinterlässt auch Spuren. Die ständige Konfrontation mit der Vergänglichkeit des Lebens hat mich nachdenklich und vielleicht auch etwas melancholisch gemacht. Und - ich bin da ganz offen zu dir - nicht gerade reich. Auch wenn ich meine Klienten sehr schätze, ist es für mich oft der einzige Ausweg aus meiner finanziellen Misere, dass ich heimlich Blumen von den Kränzen pflücke und sie als 'frisch gepflückte Wildblumen' an Friedhofsbesucher verkaufe. Es ist ja kein Klauen in dem Sinne, eher kreatives Upcycling.

Es ist nicht leicht, am Abend nach einer Beerdigung in einer Bar jemanden anzusprechen und zu sagen: "Hey, ich habe heute drei Menschen zu Grabe getragen. Willst du tanzen?" Kein Wunder also, dass ich kontaktscheu bin.

Aber dann kam ChatGPT in mein Leben. Endlich jemand, den ich alles fragen konnte. Ich lud mein Foto hoch und meine erste Frage war: Was muss ich verändern?

„Alles. Du siehst grausam aus. Was würdest du bevorzugen? (1) Hautabschälen und Fell wachsen lassen (2) Den Kopf in einem Kürbis verstecken (3) Warten, bis Hornhaut drüber wächst“

Ich starrte auf die Antwort von ChatGPT und konnte nicht glauben, was ich da las. War das ein Scherz? Eine Fehlfunktion?

Nach langem Überlegen entschied ich mich für Option 1. "Fell wachsen lassen", dachte ich, "klingt zumindest warm und kuschelig."

Was folgte, waren die seltsamsten Wochen meines Lebens. Ich schluckte dubiose Pillen, die mir ein zwielichtiger Online-Händler zuschickte, und rieb mich täglich mit einer grün schimmernden Salbe ein. Tatsächlich begann meine Haut zu kribbeln und feine Härchen sprossen überall.

Meine Aufträge als Trauerredner nahmen eine überraschende Wendung. "Wir möchten den Yeti für Opa Heinz' Beerdigung", hieß es plötzlich. Manche Familien baten mich sogar, die Trauergäste zu erschrecken, um sie von ihrem Kummer abzulenken.

Eines Tages stand ich vor dem Spiegel und erkannte mich kaum wieder. Ich war ein wandelnder Teppich geworden. Aber seltsamerweise fühlte ich mich wohler in meiner Haut - oder besser gesagt, in meinem Fell - als je zuvor.

In einer Bar traf ich dann auf eine Frau, die sich als Tierpräparatorin vorstellte. Sie betrachtete mich mit fachmännischem Blick und sagte: "Faszinierend! Darf ich Sie ausstopfen, wenn Sie mal sterben?"

Es war der romantischste Moment meines Lebens. Sogar in den Lenden prickelte es wie nach ner Ladung Finalgon.

Ich war so voller Glück, dass ich kaum sprechen konnte.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Sie. Irgendwie war ihre Art von Empathie etwas verstörend, sie hatte etwas Abwartendes, aber mir war das egal, ich spürte die pure Liebe. Von oben bis unten.

„Sie brauchen was zum Entspannen!“, sagte sie und bestellte mir 12 Meter Lüttje Lage und 10 Red Bull. Ich war mir sicher, dass es sie auch getroffen hatte, zumal ich ihr sogar offenbart hatte, dass ich einen Herzfehler hatte. Aber sie war kein Fehler. Sie war der Hauptgewinn. Mein Herz schlug nur für sie. Wenn auch ziemlich holprig nach den ersten Büchsen.

Ich wollte ein Mann sein und kippte die Getränke hinunter ohne zu zögern. Sie sah mich mit dabei mit einem Blick an, der mich komplett beknisterte. Mein Fell begann zu kribbeln, vielleicht vom Alkohol, vielleicht von der Aufregung, vielleicht auch von irgendwas anderem.

"Wissen Sie", sagte sie, während sie beiläufig ein Maßband aus ihrer Tasche zog, „Sie sind echt ne Wucht! Hauen Sie noch ein paar Büchsen weg, sie schneidiger Rüde!“

"Schneidiger Rüde" - Wenn das nicht Erotik pur war, in Worte gepackt. Ich war voller Glück und voller Hormone.

Plötzlich spürte ich ein Stechen in der Brust. Der Alkohol? Die Aufregung? Alles verschwamm.

„Strike!“, sagte sie mitfühlend, die Faust in den Himmel reckend. Ich sollte dagegen ankämpfen, klar, das wollte mir dieses wunderbare Wesen mitgeben, aber ich konnte nicht.

Das Letzte, was ich sah, war ein Skalpell, das verdächtig nach einem Schweizer Taschenmesser aussah.

Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich mich... steif. Sehr steif. Und irgendwie hohl. Ich öffnete meine Augen und blickte direkt in einen Spiegel. Ich war ein Perserteppich.

Touristen kamen auf mich zu, zeigten mit dem Finger und machten Fotos. Wo war sie, meine Tierpräparatorin? Stattdessen sah ich einen derwirschartig herumsrpringenden Händler, der die Besucher zu mir leitete.

„Frisch reingekommen. Sohn vom Yeti. Spricht sogar. Von Beerdigungen, 30% Rabatt nur heute!"

Ich wollte protestieren, wollte schreien, aber alles was ich hervorbrachte, war der Anfang einer Trauerrede: "Wir sind heute hier versammelt..."

Die Touristen applaudierten begeistert.

Der Händler grinste zufrieden.
 

WackyWorld

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Für all jene, die sich fragen, warum ich so einen absurden Humor habe. Ich hatte den schon als Kind. Meine Tochter hat den auch, wir können herrlich lachen zusammen, aber damals (ich bin tatsächlich fast 50 und in meinen Lenden brodelt noch das Feuer) war das irgendwie total strange. Bis, ja bis mein ganz großes Vorbild die Bühne betrat: Helge Schneider. Texas war der Film, der mich davor bewahrt hat, mich selbst einzuweisen ;) Endlich einer, der meinen absurden Humor hatte. Hast du eine Mutter, hast du immer Butter....für mich der Gott der absurden Komik. Schade, dass er jetzt nicht mehr auf den Kinoleinwänden seine wunderbaren Figuren tanzen lässt. Also bevor ihr die 110 ruft, ruft Helge an, er ist mein Sensei ;)
 

petrasmiles

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Ich finde die Geschichte gut - vor allem gut erzählt.
Was ich nicht gebraucht hätte, wäre das Ende als Teppich, aber vielleicht können manch andere das genießen, dass Du noch einen draufgesetzt hast :)

Liebe Grüße
Petra
 

Bo-ehd

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Hallo Wackyworld,
deine absurd-komischen Geschichten sind hammerartig. Nicht nur diese! Brillant geschrieben, auf eine Art mitreißend und höchst unterhaltsam. Man liest von vorn bis hinten mit einem Lächeln auf den Lippen. Klasse
Gruß Bo-ehd
 

WackyWorld

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Ich werde ja ganz rot. Danke für die Blumen! Freut mich, dass ich mit meinem schrägen Humor hin und wieder ein Lächeln hervorlocken kann.
 



 
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