Der rote Bus

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rubber sole

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Der rote Bus fährt täglich. Einmal am Nachmittag. Von hier aus zwei Stunden. In die große Stadt. Sonia fährt nicht. Wieder nicht. Sie bleibt an der Haltestelle. Im Häuschen. Genau wie im Dorf. Seit elf Jahren. Dort lebt ihre Familie. Einheimischer Ehemann. Mit zwei Kindern. Sonia sieht aus wie alle im Dorf. Inzwischen. Äußerlich. Ihre Sprache ist anders. Kein Bayrisch. Das kann sie nicht. Mag es nicht. Die Kinder hänseln sie deswegen. Erwachsene im Dorf ebenfalls. Man hat sich an sie gewöhnt. Oberflächlich. Mehr nicht. Sonia mag dieses Leben nicht. Trotzdem. Sie bleibt.

Die Busstation als Rückzugsort. Hierher kommt sie fast täglich. Seit Jahren. Steigt nie ein. Der Bus lässt sie träumen. Von Früher. Bevor sie hier ankam. An dieser Station. Ein Neuanfang. Ein Leben in Bayern. Auf dem Lande. Weiter wollte sie nicht. Der nächste Halt wäre in Österreich. Da wollte sie nicht hin. Dies hier ist fremd genug. Oft denkt sie an Früher. An das Gute. Das erlebte sie selten. Anderes zu häufig. Gewalt. Schmerz. Flucht. Im Lauf der Zeit vernarbt. Kommt nur noch sporadisch hoch. Die Bilder verblassen. Hier in der Fremde. Und doch ist da was. Sie wird es nicht los. Ängste steigen auf. Jetzt im mittleren Alter. Sie spürt ihre Wurzeln nicht. Hier nicht. Und was kommt hiernach?

Dann doch die Abfahrt. Der rote Bus. In die große Stadt. Von dort aus weiter. Viele Stunden. Die Kinder sind bei ihr. Sie verstehen es nicht. Sonia will zurück. In das frühere Leben. Ein Leben ohne Berge. Mit Fernsicht. Ohne fremde Sprache. Sie hofft, ohne Gewalt. Ohne Schmerz. Dort war sie nicht fremd. Wie wird es den Kindern ergehen?
 

petrasmiles

Mitglied
Ich mag solche Kurzprosa sehr, die schlaglichtartig eine Alltagssituation literarisch aufdröselt, ein Gesicht, ein Verhalten sieht und versucht, zu ergründen. Den Menschen hinter der An- bzw. Drübersicht, seine Geschichte. Ein sehr empathischer Blick!

Liebe Grüße
Petra
 



 
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