Der letzte Sand

Von dieser Reise hatte Klaus-Peter Kuhlman beinahe sein ganzes Berufsleben lang geträumt. Wie oft hatte er sich von seinem Schreibtisch in der Bibliothek in den heißen Sand der ägyptischen Wüste gesehnt? Nun war es soweit. Vor nicht mal 48 Stunden stand er noch im Verwaltungstrakt der Bibliothek, klammerte sich an ein Sektglas und feierte seine Pensionierung. Am nächsten Morgen packte er zwei neu erschienene Bücher zur altägyptischen Geschichte in sein Handgepäck - auch wenn er bezweifelte, dass diese ihm etwas neues zu sagen hätten. Dann ging es zum Flughafen. Wie immer war er sehr pünktlich, was ein paar Stunden Aufenthalt am Flughafen bedeutete. Er hatte Jahre auf diese Expedition gewartet. Die Wartezeit machte ihm nichts aus. Schließlich landete er nach einem unspektakulären Flug in Kairo.

Als er aus dem klimatisierten Flughafen tritt, weichen Vorfreude und Nervosität mit einem Schlag einem Gefühl völliger Erschöpfung. Die Hitze traf ihn wie ein Faustschlag.
Im Hotel angekommen, brauchte er eine Stärkung. Über den Zimmerservice orderte er die Tagessuppe und betrachtete durch Fensterglas das geschäftige Leben der Stadt. Er verschlang die Tintenfischsuppe, fühlte sich danach nicht wirklich besser und beschloss, noch ein wenig zu schlafen. Er war gerade eingedöst, da ließ ihn ein plötzlicher Schmerz zusammenkrampfen. Er musste ins Bad. Sofort.

Zurück in der archäologischen Abteilung der Bibliothek. Die Bücherreihen waren endlos. Der kleine Schubwagen mit den Buchrückgaben leerte sich nicht. Ganz gleich wie schnell er die Bücher zurück auf die Regalbretter sortierte. Panik. Er hörte flüsternde Stimmen. Kuhlmann und sein Ägypten Trip...Niemals... Ausgrabungen... Heutzutage... Albern. Er wollte schreien, rennen, einfach weg. Ihm wurde schlecht.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Die Bettdecke war feucht, sein Hemd nass geschwitzt - aber er fühlte sich gut. Das Fieber hatte ihm die Reste der verdorbenen Suppe aus den Poren getrieben. Ein Blick auf den Wecker verriet ihm, es war Frühstückszeit. Sein Verdauungstrakt behielt Brötchen, Müsli und Tee dankenswerter Weise bei sich. Um seinen Kreislauf endgültig wieder in Schwung zu bringen, stattete er dem hoteleigenen Fitnessraum einen Besuch ab. Nach einer guten halben Stunde auf einem Fahrrad-Heimtrainer hatte Kuhlman den Eindruck, in den Tag starten zu können. Nun sollte es also wirklich losgehen.

Vor dem Hotel wartete bereits ein schwarzer Landrover. Davor stand eine Frau, die ihm freudig entgegen sah. Dr. Emily Walton war ihm natürlich bekannt. Sie hatte vor ein paar Jahren ein Team geleitet, das im peruanischen Dschungel eine bis dahin vollkommen unbekannte Inka Stadt von gigantischem Ausmaß entdeckte. Sie wollte in Ägypten einen ähnlichen Coup landen und er hatte die Chance dabei zu sein. Ob er der deutsche Hobby-Archäologe sei, der sich als Grabungshelfer beworben hat, fragte sie ihn mit starkem englischem Akzent und begrüßte Klaus mit einem kräftigen Händedruck. Ihre Wortwahl traf ihn. Sie blickte ihn aber so interessiert lächelnd an, dass "Hobby-Archäloge" sicher nicht abschätzig gemeint war. Zudem war Kuhlman beeindruckt, von Dr. Walton persönlich abgeholt zu werden. Er bejahte ihre Frage und betonte wie sehr ihn die Möglichkeit, bei einer solchen Ausgrabung dabei sein zu können, freute. Sie stiegen in den Wagen und unterhielten sich angeregt über die anstehenden Arbeiten. Dr. Walton schien beeindruckt von Klaus-Peters Wissen über bisherige Funde in Ägypten. Sie berichtete ihm, dass sie die freiwilligen Helfer gerne selbst abhole, um sich so einen Eindruck über ihre Kenntnisse machen zu können.

Die Fahrt aus dem Stadtzentrum hinaus zur Ausgrabungsstätte dauerte fast zwei Stunden. Dr. Walton hatte den Jeep kaum zum Stillstand gebracht, da kam ihnen bereits ein junger Mann - vermutlich Student - entgegen gerannt. Eine Wand des bereits ausgehobenen Lochs sei eingebrochen und habe einen Eingang freigelegt. Klaus-Peter war von dieser plötzlichen Nachricht vollkommen überrumpelt. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Er suchte Halt an der Motorhaube des Landrovers. Dr. Walton war schon mit dem Studenten in Richtung der Grube gelaufen und bekam von diesem kleinen Schwächeanfall nichts mit - glücklicherweise, wie er fand. Würde er etwa so bald nach seiner Ankunft schon dabei sein, wenn die legendäre Königsmumie Athotis I. gefunden wird? Die Aufregung rumorte in seinem Magen. Er eilte den beiden hinterher so schnell er konnte. Dr. Walton stand mit dem jungen Mann und zwei weiteren Studentinnen vor dem vermeintlichen Eingang der Grabstelle. Sie verteilten Stirnlampen untereinander. Kuhlman wurde trotz der herrschenden Anspannung freundlich begrüßt und bekam auch eine Lampe.

Sie gingen vorsichtig in den dunklen Eingang hinein. Es ging erstmal nur einige Meter geradeaus, dann bog der Weg nach links ab. Nach ungefähr 30 Metern war der Gang zu Ende. Er hatte die Gruppe in einen kleinen Raum geführt. Die Wände waren kahl, nichts deutete auf eine bedeutende Grabstätte hin. Doch an einer Wand schien eine Tür eingelassen zu sein. Die jungen Leute versuchten, sie zu öffnen. Tatsächlich ließ die steinerne Tür sich ein wenig zur Seite schieben. Kuhlman war nun so nervös, dass er nicht mehr ruhig stehen bleiben konnte. Er ging in dem Raum auf und ab, während die Studenten weiter an der Öffnung in der Wand hantierten. Abrupt ließ die Tür nach. Klaus-Peter meinte, Licht zu sehen!
Er spürte einen Schmerz im linken Arm, der sich explosionsartig bis zu seinem Brustkorb ausbreitete. Er fiel. Als er auf dem Boden aufschlug, richtete sich der Schein seiner Stirnlampe genau auf die freigelegte Grabkammer. Das Letzte was er sah war eine riesige Anubis-Maske, die auf ihn zuzukommen schien.
 



 
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