Bunter Frühling

Nika

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Das Gutachten:
Frau N. befindet sich seit vielen Jahren in meiner psychotherapeutisch-psychiatrischen Behandlung.
Die Mutter war freundlich zugewandt, jedoch selbst schwer psychisch krank. Ihre schizoaffektive Störung besserte sich trotz zahlreiche Klinikaufenthalte und ambulanter Behandlung kaum. Mit zunehmendem Alter bezog die Mutter die Patientin in die eigenen Probleme ein, was Frau N. sehr belastete. Die Mutter war auf praktische und psychische Unterstützung zunehmend angewiesen. Diese übernahm die Patientin bereits im Alter von 10 Jahren.
Die Patientin war körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt durch den Vater permanent ausgesetzt.
Von der Jüngsten der beiden Schwestern zog sich die Patientin über deren wiederholte Suizidversuche zunehmend zurück. Ein halbes Jahr nach dem natürlichen Tod der Mutter nahm sich die jüngste Schwester, die auch psychisch krank war, das Leben.
Frau Ns. schulische Leistungen waren überdurchschnittlich. Sozial war sie gut integriert, wurde jedoch mitunter wegen ihrer guten Noten gehänselt.
Seit ihrem 30. Lebensjahr litt sie jedoch selbst unter einer schizoaffektiven Störung, die deutlich besser wurde, allerdings kämpft sie wiederkehrend mit depressiven Stimmungen.
Derzeit ist die Stimmung leicht gedrückt, sie hat keine Wahrnehmungs- oder inhaltlichen Denkstörungen. Die Intelligenz ist deutlich oberhalb des Normbereichs.
Kein Hinweis auf Suizidalität!
4 Wochen später:
Die meisten Menschen bringen sich im Frühling um. Wenn es grün und bunt wird und die Seele schwarz und der Schmerz dumpf bleibt, merkt man, dass man keinen Platz mehr in der Welt hat.
Wenn alles, was ich anfasse, misslingt und ich so viele Menschen vor den Kopf gestoßen habe, weil ich nicht mehr weiß, wie das Leben geht, wird es Zeit zu gehen.
Die Musik, die ich vor Jahrzehnten für diesen Moment ausgesucht habe, läuft. Das Lied der Selbstmörder:
„Sag den Engeln ich komme auch, im Land der Schatten werde ich geborgen sein. Heute mach ich mich auf den Weg in die lange Nacht. Trauriger Sonntag.“ Aber alle Tage können diese Sonntage sein und was bleibt dann?
Letzter Kaffee und letzte Zigarette liegen bereit, Nervennahrung, Alkohol, Tabletten und Klebeband liegen daneben. Die einzige Sorge ist noch, dass es wirklich gelingt.
Natürlich auch ein Gedanke an die Lieben. Obwohl ich weiß, dass der Schmerz nicht aufhört und die Zeit keine Wunden heilt, habe ich keine Kraft sie davor zu bewahren.
Abschied nehmen vom Leben, dessen Steuermann ich nicht mehr bin und dessen Motor fernab vom Land gesunken ist, ist die einzige Konsequenz. Wenn die Wellen wüten, auch Wellen, die ich selbst in Gang gesetzt habe, sitze ich hier und sehe kein Land mehr. Keine Insel, keine Rettung.
Wenn niemand es vermutet, sowohl Sonnenschein als auch kratzig der Welt gegenüber, weil Handlungsoptionen fehlen, wenn ich genug Menschen vor den Kopf gestoßen habe, bleibt das Schreiben.
Können Gedanken und Schreiben retten, wenn alles andere versagt hat?
Ein von Anfang an verpfuschtes Menschenleben, tausende Schwimmversuche, aber keinen Boden unter den Füßen finden, darf das Alltag sein? Wenn nichts mehr leichtfällt, auch der letzte Kaffee und die letzte Zigarette unwichtig werden. Dann ist es wichtig so viel Tabletten und Alkohol wie möglich zu nehmen, rechtzeitig das Klebeband, um den Mund zu kleben, es muss alles drinbleiben, sonst gelingt es nicht.
Sicherheit im Tod finden, wo es Sicherheit im Leben nur scheinbar gab.
Wenn mich das Leben, die Vergangenheit immer wieder einholen. Tausende Male wieder aufgestanden und irgendwann einfach liegen bleiben wollen.
Nicht mehr kämpfen, verdrängen, Wege suchen, einfach aufhören, nichts mehr wollen, nichts mehr müssen. Nur noch die Augen schließen und sicher, wenigstens dieses Mal sicher, nicht mehr aufwachen.
Ich weiß, wie es ist, wenn jemand freiwillig geht, genauso wie die Dinge neben mir liegen. Will eigentlich niemandem weh tun, dass sich niemand die Schuld gibt.
Kann ich schreibend überleben? Das Ziel alles in Worte zu fassen, den Schmerz, das Elend, die Sinnlosigkeit? Wenn jeder Morgen gleich beginnt und jeder Abend gleich endet, kaum Spielraum für das Leben da ist, bei dieser Menge an Psychopharmaka, die ich für das bisschen Leben benötige. Es reicht zum Überleben, wo ich doch erleben will. Ist das Leben lebenswert, wenn die Nebenwirkungen mehr werden und der Spielraum, dieses kleine Fenster, sich immer mehr schließt?
Wer schreibt, bleibt. Dieser abgedroschene Spruch könnte jetzt doch bei mir so sein. Mich in Watte packen, die Nacht überleben, Alkohol, Tabletten, Klebeband und Schere an ihren Platz zurückbringen, die Musik wechseln, kein Lied vom traurigen Sonntag mehr. Die Abschiedsbriefe zerreißen oder doch ins Reine schreiben, bereit für den nächsten Versuch.
Reichen die Tabletten, reicht der Alkohol sagt einem kein Internet, das Recht auf den eignen Tod gibt es nur in der Theorie. Todessehnsucht ist krank, so krank, dass man eingesperrt wird, zwangstherapiert, geholfen wird, bis man sagt „alles gut“ und auf der Heimfahrt den nächsten Baum anpeilt, Vollgas geben will, den Aufprall schaffen, bevor der Airbag aufgeht.
Wer nimmt sich das Recht, dass lebensmüde zu sein, krank und abnorm ist und man deshalb, wie bei einer Straftat, weggesperrt wird. Ein bisschen luxuriöser zwar, die Zimmernachbarn etwas skurriler, aber ohne Rechte, bis man einfach sagt „Alles gut“.
Das Leben von Anfang an zum Scheitern verurteilt, wenn Resilienz und posttraumatisches Wachstum irgendwann nicht mehr greifen, schöne Worte und keine Realität mehr sind. Wer entscheidet hier eigentlich, wenn der Traum den Schlaf raubt, und der Tag durchzogen ist von Müdigkeit, Erinnerungen und das, was Wirklichkeit heißt, nur klein und marginal erscheinen. Wenn Lachen nur noch Galgenhumor ist.
Der letzte Kaffee ist leer, der Geschmack der letzten Zigarette nur noch schal, auch Sterben braucht Mut.
Geschockt von meinem Gutachten, das doch Leben ist, kurz, prägnant und schrecklich. Am Ende könnte stehen:
„Die Angeklagte ist daher vermindert schuldfähig.“
Oder
„Ruhe sie in Frieden, sie hat das Leben, dieses Leben, nicht mehr gepackt.“
Rundum Nicken, das kann man verstehen.
Macht ein Leben einen Menschen, wenn der Mensch das Leben nicht mehr machen kann?
Darf ich Schmerzen säen, um vor dem eigenen Schmerz zu fliehen?
Eine Nacht noch bleiben, aber welcher Tag soll da kommen? Nichts Leichtes mehr, nur krampfhaft Schritt vor Schritt setzen, dabei jeden Fettnapf mitnehmen. Wie schon so viele Male versagt.
Die Kindheit nicht Milch und Honig, sondern Angst, „bevor ich geboren war, war ich schon verloren“.
Warum schreiben was niemand lesen will. Das Leben geht nun mal weiter, nur meins nicht.
Jetzt Tabletten und Alkohol im Wechsel, nur nicht die Kontrolle verlieren, bevor das Klebeband sitzt.
„Weint doch nicht Freunde, endlich fühl ich mich leicht“ erklingt das Lied vom traurigen Sonntag.
Liebe Tabletten, lieber Alkohol, los geht’s. Wenn der Kaffee lange leer und die letzte Zigarette schon vor fünfen war, ist das Leben immer noch nicht lebenswert.
Gleich besinnungslos von der verordneten Notfallmedikation und dem einen Glas Sekt, das doch eigentlich verboten ist, bei der Medikation. Verzicht ist die Devise bei der Erkrankung, bei der Medikation, Nebenwirkungen lähmen im Alltag.
Alkohol, Tabletten, nur so viel, dass es nicht mehr weh tut, eine Nacht überleben, Entscheidung vertagen, klarer sehen. Um zu überlegen, wo man mehr Schmerz sät, im Leben oder im Sterben und ob das den eigenen Schmerz aufwiegt. Wie wiegt man eigentlich Schmerz? Was ist die Maßeinheit? Und wie ist der Vergleich?
Vielleicht ist das auch der Beginn, durch Schreiben dem Leben Sinn zu geben.
Sinn ergibt nur die ganze Geschichte, noch eine Nacht bleiben und dann die Geschichte beginnen lassen.
 
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