Bruchlinien - Eine Vorgeschichte (Teil 5 und Schluss)

Einige Tage blieb ich weg, dann stand ich wieder an der Baustelle und schaute zu Ferdi hinüber, wie er Mörtel herstellte, noch ohne Mischtrommel. Er war der Lehrling und schaffte Sand, Zement und Wasser herbei. Er rührte alles in einem Bottich zusammen und füllte das Gemisch in Blecheimer und reichte sie den Gesellen auf das Gerüst hinauf. Die Gesellen blieben mir fremd, ich sah sie kaum an, sie waren so viel älter als ich selbst. Ferdi fühlte ich mich näher, er hatte gerade erst mit der Maurerlehre angefangen, so wie ich vor kurzem mit der Volksschule. Ich ging anfangs ungern hin und die Schulzeit stellte ich mir unendlich vor. Ferdi auf der Baustelle – das war der Beweis, dass man diese Zeit doch hinter sich bringen konnte.
Ferdi war immer guter Laune. Er trat so wendig auf, er hantierte mit viel Geschick. Wenn ich ihn ansah, kam ich mir selbst ungelenk vor. Gegen meinen Willen bewunderte ich ihn. Der Maurerlehrling war noch sehr schmal. Ich wollte Oma bitten, mir Hosen zu kaufen, wie Ferdi sie trug. Ich kannte das Wort Jeans noch nicht.
Einmal unterbrach Ferdi seine Arbeit und legte das Kinn auf den Schaufelstiel. Die braune Haarlocke, die ihm in die Stirn fiel, wippte hin und her. Er zog die Augenbrauen zusammen und sah mich scharf an. Nur an den Mundwinkeln, die lustig zuckten, war zu bemerken, dass er noch immer guter Laune war. „Hast du schon wieder Ferien?“ fragte er. „Langweilst du dich?“ Er nahm den Kopf vom Schaufelstiel und die Brauen gingen auseinander. Dann wollte er etwas von mir: „Du, sei ein lieber Kerl und hol uns dafür beim Metzger Fleischwurst.“ Er zählte mir ein paar Münzen in die Hand und ich ging los. Was für Ferdi lästige Pflicht war, mir kam es wie eine ehrenvolle Aufgabe vor. Würde ich ihr gewachsen sein? Wahrscheinlich würde ich irgendetwas falsch machen und nicht mehr herangezogen werden …
Die Metzgerei lag ein paar Hundert Meter weiter. Die Metzgersfrau wog Fleisch und Wurst stets mit Ernst und Würde ab. Ich fürchtete sie ein wenig. Diesmal blickte sie besonders streng. Ich sagte rasch: „Für das Geld Fleischwurst“ und legte die Münzen auf die Theke. Alles schien gutzugehen, schon lief ich mit der Wurst im dicken Packpapier zurück. Ich würde gelobt werden. Beinahe wäre ich vom Bordstein abgerutscht und hingeschlagen.
Ferdi öffnete das Paketchen und sagte gleich ungehalten: „Was ist denn das?! Du hast dir die billige andrehen lassen, die nehmen wir doch sonst nicht. Hast du denn nicht gesagt, dass es für uns ist? Geh und bring’s zurück. Und mach schnell, der Polier hat geschimpft, weil’s schon nach eins ist.“ Es kam noch schlimmer für mich. Die Metzgersfrau weigerte sich, die Ware zurückzunehmen, und ich musste Ferdi bitten, diesmal mit der billigen Sorte vorliebzunehmen. Die Maurer, die schon Pause hatten, brummten ein wenig, lachten ärgerlich und begannen dann mit dem Imbiss.
Trotzdem wollten sie anderntags, dass ich wieder Wurst holen ging. Doch die Großmutter hatte es inzwischen verboten. Jetzt ärgerte es mich, ihr davon erzählt zu haben. Die preiswerte Wurst war gerade die, die wir daheim selbst meist aßen. Auch Ferdi gegenüber war ich ein wenig verstimmt. Er hatte mir einen zu schwierigen Auftrag gegeben – und wie gerne hätte ich mich doch bewährt und ihm alles recht gemacht … Als er mich nicht überreden konnte, lachte Ferdi und ging wieder selbst.

Wie fern ist das alles, viel weiter als nur Jahrzehnte zurück oder viele Stunden von der Stadt entfernt, in der ich längst lebe. Es kann der zeitliche und räumliche Abstand zum Ort unserer Kindheit ins Außerordentliche wachsen, wenn die früh vertraute Umgebung sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der Ort ist nicht mehr derselbe und die Bewohner mit ihrer Art zu leben sind es auch nicht mehr. Die Dampflokomotiven fahren nicht mehr, elektrische Züge gleiten über die Schienen. Die alte Wartehalle mit ihrem rußgeschwärzten Fachwerk ist abgerissen, vergleichsweise wenige Fahrgäste steigen dort noch ein. Von den unabsehbar langen Kolonnen müder Bergleute, die nach Schichtwechsel von der Zeche zum Bahnhof strebten – marschierend in gleichmütigem Schweigen wie die lockeren Reihen einer geschlagenen Armee, die sich diszipliniert zurückzieht und schon in Sicherheit weiß – ist keiner übrig geblieben. Das Bergwerk fördert schon lange keine Kohle mehr. Und die Hochöfen sind erloschen. Nie mehr werde ich auf der Veranda meiner Großeltern stehen und im Westen die fernen bläulichen Flammen auf den runden stählernen Türmen sehen. Ruhig und sauber ist es im Ort jetzt, doch riecht es auf den Straßen nach Benzin. Ein ödes Rasenstück bedeckt den Vorgarten, in dem die rote Tulpe damals erblühte. Nur der Friedhof hat sich kaum verändert. Dieser Ort allein ist mir da unten vertrauter geworden, seit die Urnen der Großeltern auf ihm beigesetzt sind.

Die einzelnen Fragmente meiner Erinnerung unterscheiden sich so sehr voneinander, dass ich mich manchmal frage, ob sie tatsächlich demselben Zeitraum von nur wenigen Jahren angehören. Schwierig war es, zu dem Kind vorzudringen, das auf der Baustelle im Sand gespielt hatte. Viel Konzentration erforderte es, die Entdeckungen des Kindes nachzuvollziehen und seine Gefühle erneut zu empfinden. Eine archäologische Grabung kann kaum mühseliger sein und wie diese oft erbrachte der Prozess des Erinnerns zwar gut erhaltene und zugleich recht banale Funde, deren alltäglicher Charakter das Interesse nicht lange fesselt. Reizvoll war vor allem das Graben und Forschen, weniger das Erinnerte. Anders verhält es sich mit dem Bild der roten Tulpe oder mit Ferdi und der Fleischwurst, da musste nichts aufgespürt und ausgegraben werden. Diese Erinnerungen ähneln Ikonen, die man hin und wieder aufsucht und gern betrachtet. Man frischt jetzt nur die Farbe ein wenig auf. Und dann gibt es noch Erinnerungen, die sich immer wieder von selbst einstellten und dann als etwas Peinliches verdrängt wurden. Auf diese Weise entstand von ihnen nur ein grobkörniges Bild mit undeutlichen Details. Vielleicht handelt es sich bei einer solchen Erinnerung nicht um die authentische Aufnahme, sondern um ein entstelltes Bild, wie es bearbeitet erst Jahre nach dem Ereignis vorgelegen hat. Aber kann in diesem Fall das entstellte Bild nicht ebenso viel aussagen wie das ursprüngliche – oder sogar noch mehr?
Doktorspiele! Auch sie gab es.
Sei es, dass die Erinnerung im entscheidenden Punkt verfälscht ist und trügt, sei es, dass der kindliche Forscherdrang hier sogleich in die Irre führte und in seinen Ergebnissen, wie häufig auch in der Welt der Erwachsenen, nur die vorgefasste Meinung widerspiegelte, so viel steht doch fest, dass ich mit der kleinen Monika in den fast fertiggestellten Neubau meiner Großeltern eindrang und wir bald in das Badezimmer im Obergeschoss gingen. Dort kletterten wir, ohne die Schuhe ausgezogen zu haben, in die blitzende Badewanne. Monika streifte ihr Röckchen ab, dann die Unterwäsche und forderte mich auf, ebenfalls den Unterleib zu entblößen. Ich ließ Hose und Unterhose auf die Schuhe herab. Und dann soll sich nach der Erinnerung das Verwunderliche begeben haben, dass aus dem kleinen Mädchen, für das in der dritten Person das Wörtchen „sie“ zu gebrauchen, ein kleiner Junge geworden war, zwar ein Junge mit Röckchen, aber dieses hatte er ja abgelegt. Wir untersuchten und verglichen und fanden bestätigt, dass kein Unterschied vorhanden war. Wir waren sehr befriedigt. Da ließ uns die Stimme meiner Großmutter zusammenfahren, die von der Treppe her zweimal laut meinen Namen rief. Monika griff nach dem Röckchen, fand gerade noch Zeit, sich zu bedecken, und war auch schon entschlüpft. Ich zog die Hose hoch und knöpfte mich zu, während die Großmutter schimpfend die Wanne nach Kratzern absuchte, die wir tatsächlich mit unseren Schuhen hinterlassen hatten. Dann wurde ich fest bei der Hand genommen und unter lautem Gezeter nach Hause gezerrt, wo ich eine Tracht Prügel erhielt. Die Großmutter gebrauchte dabei den Handfeger, dessen Rücken sie viele Male auf den meinigen niedersausen ließ. Ihre Erbitterung über den materiellen Schaden schien stärker als die Schmerzen, die ich zu ertragen hatte, sie musste wegen des ruinieren Emailles grausame seelische Qualen erleiden und konnte mich gar nicht genug züchtigen. In mir stieg wie eine Flutwelle aus der Brust ein Gefühl des Gedemütigtwerdens, der Wut und Empörung auf, das alles andere wegschwemmte, sogar die Empfindung für den Schmerz. Als das Gefühl den Kopf erreichte, nahm es mir für einen Moment die Besinnung. Ich schwankte, die Großmutter warf den Handfeger fort und schickte mich aus dem Haus, zu meinen Eltern.
Einem Planeten gleich durchlief ich in jenen Jahren immer dieselbe elliptische Bahn, deren Brennpunkte wie Fixsterne Eltern und Großeltern bildeten. Soeben entfernte ich mich mit großer Geschwindigkeit von dem großelterlichen Fokus, mächtig angezogen von der relativen Freiheit, die ich im Umkreis der vielbeschäftigten Eltern genoss. War ich am Wendepunkt angelangt, so verhinderten das Unentschiedene und Undurchschaubare am Vater jede weitere Annäherung. Ich fühlte mich dort nur geduldet, nicht geliebt, und kehrte auf meiner Umlaufbahn zur Großmutter zurück, deren energische Zuwendung oft so lästig wurde. Sonderbar, der Vater erklärte immer wieder seinen Abscheu aller Theorie gegenüber, doch sein Einfluss auf meine Entwicklung blieb schwach, da er rein theoretisch vorging und kaum Gefühl zeigte; die Großmutter dagegen pries häufig den Nutzen von Bildung und Wissenschaft und hatte in Wahrheit gar keinen Begriff davon, handelte stets nur instinktiv und im Affekt. So wuchs ich in einer verkehrten pädagogischen Welt auf und lernte hauptsächlich, dass die Begriffe sich nicht mit der Wirklichkeit deckten.
Die Grundsätze, nach denen ich erzogen wurde, widersprachen sich im Einzelnen und hoben sich gegenseitig auf. So wurde das Wechselbad ungewollt zum alleinigen Prinzip. (Indem ich dieses blasse und verbreitete Bild benutze, entgehe ich hoffentlich der Gefahr, schon wieder Proust zu plagiieren.) Das reale Baden ist ein schönes Beispiel dafür. Die Eltern kümmerten sich wenig darum, ob ich mich regelmäßig wusch, mich kämmte und mir die Nägel schnitt. Vom Vater ging meist ein Geruch aus, der von Schweiß, Erde und Mist herrührte. Unter den Mistarten, die bei uns anfielen, trug Hühnerkot am meisten dazu bei. Mein Vater war weit davon entfernt, sich seines Geruchs zu schämen. Er schätzte Körperpflege gering. Dafür beschäftigte ihn das Thema oft in Gedanken und er sprach auch gern darüber. Das tat auch meine Großmutter, nur im entgegengesetzten Sinn. Sie schien das Begriffspaar peinlich und sauber erfunden zu haben, und hier deckten sich Begriff und Wirklichkeit einmal. Es blieb nicht bei den einfachen Torturen des Kontrollierens, Ermahnens und des Waschzwangs. Meine Großmutter verfeinerte das System, indem sie die Kosmetik einbezog. Es hatte sich gezeigt, dass meine Körperhaut extrem trocken war. Also wurde ich zum Hautarzt gebracht, der eine fettige Salbe verordnete. Sie war zu erhitzen und wurde dann in fast flüssigem Zustand aufgetragen, eine schmerzhafte, langwierige Prozedur, die ich bald hasste und doch beinahe täglich über mich ergehen lassen musste. Natürlich konnte die Salbe nur nach vorherigem gründlichen Waschen aufgetragen werden, ein Teufelskreislauf von Ent- und Rückfettung. Misslich war, dass die Salbe zu erheblichem Teil nicht in die Haut eindrang, sondern in die Wäsche, die daher oft zu wechseln war. Was nicht von Haut oder Wäsche aufgenommen wurde, blieb als bald graue, schmierige Schicht zurück, fein verteilt auf Brust, Bauch, Rücken und Hinterteil sowie an Armen und Beinen.
Das Bad am Sonntagmorgen nahm ich in einer Blechwanne, die in der Waschküche aufgestellt wurde. Sie lag im Keller und erhielt etwas Licht vom Garten her. Es war schummerig dort. Auf dem vielfach zerbrochenen Zementboden krochen Kellerasseln umher. An der Wand stand eine unförmige Waschmaschine aus der Vorkriegszeit, die schon lange nicht mehr benutzt wurde. Ich kratzte, in meinem Bottich sitzend, die ekelhafte alte Salbe vom Hals ab und betrachtete mein Geschlecht. Plötzlich überkam mich jenes Gefühl wieder, das ich so sehr fürchtete; es war das stärkste, das ich als Kind kennenlernte. Ich empfand eine Mischung aus Überdruss, Ekel und Langeweile. Mich erfüllte ein Gefühl völliger Nichtigkeit und Wertlosigkeit der eigenen Existenz. Für mich gab es keine Freude, keinen Sinn, für mich würde es stets nur diese alles umfassende Unlust geben. Ich verspürte Brechreiz und zugleich starken Durst. Diese Anfälle dauerten zwei, drei Minuten an und wenn sie mich verließen, war auch der Durst verschwunden. Ebenso plötzlich und heftig wie epileptische Anfälle hinterließen auch sie ein Gefühl der Erschöpfung und der Leere, das stundenlang andauern konnte. Um das zwanzigste Lebensjahr verschwanden sie allmählich, kehrten später noch einmal für kurze Zeit zurück und gaben dabei den letzten Anstoß zum Schreiben als Gegenmittel.

Ein Sonntagnachmittag im Hochsommer - viele ähnliche Sonntage hat es gegeben. Ich bin jetzt zwölf. Das erste Erinnerungsbild ähnelt einer Fotografie im Familienalbum. Tatsächlich besitze ich Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dieser Zeit mit denselben Personen, derselben Szenerie, aber an diesem Sonntag sind wir nicht fotografiert worden.
Der Kaffeetisch ist unter dem Kirschbaum aufgebaut. Die Sonne schickt Strahlen durch das Blattwerk, zeichnet ein bewegliches Muster aus hellen und dunklen Streifen auf Tante Annas Kleid. Den Sommerwind spüren wir kaum, nur die Reflexe, die er mit den Blättern erzeugt, huschen flink über unsere kleine Gruppe. Unaufhörlich blitzen diese Vertikalen auf, ändern ihre Form, verschwinden, kehren zurück. Es sind Lanzen aus Licht, die sich vergeblich bemühen, die schwarzen Tupfen auf Tante Annas weißem Kleid in Bewegung zu setzen. Die Tupfen verharren so statisch wie die Tante, die drei Stück Torte gegessen hat. Sie und meine Mutter hören dem Gespräch der Männer für eine Weile zu.
Tante Anna, dick und lustig, weiß manches, zum Beispiel das: Die Suppenwürze, die wir auch für Salate verwenden und sogar über die Nudeln geben, sei aus den Köpfen verendeter Kälber hergestellt. „Aber sag’s nicht weiter. Das ist ein Geheimnis“, flüsterte sie mir einmal zu und kicherte dabei wie ein Schulmädchen. Sie und Onkel Georg haben keine Kinder.
Ich gebe mir Mühe, nicht auf das zu hören, was Onkel Georg meinem Papa gerade erklärt. In mir formuliere ich die Frage, die mich allein an diesem Nachmittag bewegt: Wird Roland heute kommen? Werde ich ihn treffen?
Onkel Georg wird laut: „Wie alt ist der Vergaser, wie alt?! Ich hab’s ihm auf den Kopf zugesagt.“ Papa schmunzelt und scheint zu verstehen, wie schlau der Onkel gewesen ist und sich wieder mal nicht hat hereinlegen lassen. Doch als Papa sich zurücklehnt, dabei einen Buckel macht und sich das Kinn kratzt, weiß ich: Auch er hat nichts begriffen. Die Tante mischt Bewunderung in ihren verständnislosen Blick. Mama hat für solche Fälle einen höflich-skeptischen Gesichtsausdruck bereit: Ich bin noch nicht ganz überzeugt …
Der Onkel will es genauer erklären. „Dasselbe wie beim Felix“, schreit er über den Tisch, „mitten im Wald liegen geblieben, und als er die Motorhaube …“ Da, jetzt hat er das Sahnekännchen umgeworfen - Mama trocknet das Bächlein schon mit ihrer weißen Schürze. Der Onkel herrscht die Tante an: „Kannst du nicht aufpassen, musst du immer alles umstoßen?!“ Die findet den Scherz köstlich und gickert los. „Hab ich euch schon erzählt“, fährt der Onkel fort, „wie sie mit dem Kopf gegen die Scheibe ---“ Diese Geschichte habe ich schon viermal gehört. Da stelle ich mir lieber wieder meine Frage: Wird – wird - wird Roland heute kommen? Ich weiß, man muss das immer wieder so denken, mit zunehmender Konzentration. Die Außenwelt dabei ausblenden, dann bekommt die innere Stimme bald einen magischen Klang. So wird aus Hoffnung erst Zuversicht, dann Gewissheit. Aber ich schaffe es heute nicht. Ich höre immer noch, wie der Onkel von Motoren und Pannen erzählt und mein Vater scheinbar kluge Gegenfragen stellt. Sie sind noch in der ersten Phase. Ihre Gespräche haben nicht nur immer den gleichen Inhalt, sondern meistens auch den gleichen Verlauf.
Roland war damals mein Idol, zwei Sommer lang. Ein Junge aus unserer Nachbarschaft, aus einem der kleinen Siedlungshäuser. Schwarzhaarig, groß, schlank, breitschultrig. Von unnachahmlicher Eleganz und leicht träger Arroganz. Er war schon vierzehn und zog ab und zu mit zwei, drei anderen Jungen über Papas Land zum Sieben-Quellen-Tal. Ich schloss mich ihnen freudig an. Bei den Quellen geschah wenig, doch es genügte meinem Überschwang. Wir stauten Rinnsale auf oder versuchten, in einem der kleinen Sümpfe stecken zu bleiben. Roland stemmte in schöner Haltung, mit verächtlicher Gebärde einen Felsbrocken. Ich schlug ihm vor, er müsse unser Anführer werden. Das war er zwar schon, aber er sagte, das wolle er wirklich nicht sein. Dieser Verzicht, so edel und schmerzlich schön, band mich noch mehr an ihn.
Vorerst muss ich noch im Garten aushalten. Die Beete sind mit Sträuchern eingefasst, Johannisbeeren, Stachelbeeren. Sie biegen sich unter der Last reifer Früchte. Ganze Zweige liegen auf der Erde und die Beeren verfaulen. Zehn Meter von uns entfernt pflückt eine alte Frau in gebückter Haltung. Man sieht von ihr nur den langen dunkelblauen Wollrock und die verschiedenfarbigen Unterröcke, die hervorlugen. Die alte Frau, infolge vieler Feldarbeit und einseitiger Belastung schief geworden, führt Selbstgespräche. Halbe Sätze dringen bis zu unserem Kaffeetisch.
„Ruth, warum sitzt Oma Else nicht bei uns?“ will Tante Anna wieder mal wissen. Sie kann sich nicht an einen Zustand gewöhnen, der für uns selbstverständlich ist. Mama hält lange Erklärungen für unnötig, die Tante hat schon oft hier Kaffee getrunken: „Ach, ich hab ihr ein Stück Kuchen hingestellt …“ Tante Anna tut verdutzt. Sie lässt gern merken, was sie von unseren Sitten hält. Dann fragt sie: „Aber deine Eltern, die kommen doch noch?“
Onkel Georg hat gerade „atü“ gesagt. Mein Vater hat die Frage der Tante mitbekommen, er räuspert sich ärgerlich und blickt auf Mama, die, so hofft er, antworten wird: Heute nicht. Stattdessen sagt sie: „Vielleicht kommen Tante Franzi und Onkel Walter und bringen sie mit.“
Jetzt bin ich alarmiert. Mit dieser Tante, gegenwärtiger Lieblingsschwester meiner richtigen Oma, habe ich nicht gerechnet. Ich überlege, was ich mehr fürchte: den Besuch der Patentante oder Rolands Ausbleiben. Vielleicht ist die Tante eher zu ertragen, wenn ich sicher sein kann, Roland später noch zu treffen.
Ob Tante Franzi auch weiß, was mit den Köpfen verendeter Kälber geschieht? Ich traue es ihr zu, aber sie spricht dann nicht darüber. Dafür schmückt sie ihre Rede gern mit Sprüchen, deren Herkunft und Bedeutung ich nicht kenne. Da ist dieser Sprechgesang, wenn sie aufbricht: „In Jerusalem am Bahnhof, da gibt’s ein Wiedersehn …“ Seltsam. Ihre Besuche dauern nie lange, sie kommt erst, wenn der Kaffee schon vorbei ist und man auseinandergehen will. Sie nimmt gar nicht erst Platz, bringt alles im Herumgehen oder –stehen zur Sprache und verschwindet nach einer halben Stunde wieder mit Onkel Walter, der den Käfer steuert. Sie absolvieren an einem Nachmittag drei oder vier Verwandtenbesuche.
Mehrmals im Jahr, zu Festen oder wenn Geburtstag ist, überreicht sie mir als Patengeschenk einen versilberten Löffel oder etwas anderes für den Besteckkasten. Überreichen ist das treffende Wort für die kleine Zeremonie. Die Tante richtet es so ein, dass die Übergabe des Löffels vor aller Augen erfolgt. Sie selbst scheint so gerührt, dass ihr die Sprache versagt. Das einsetzende Schweigen muss die Bedeutung des Augenblickes unterstreichen. Mir ist all das peinlich, denn ich weiß, dass ich nun Dankbarkeit heucheln muss. Aber das ist klar: Dieser schwere Löffel, der irgendwie nach „getriebenem Silber“ aussieht und im Käufer eine andächtige Stimmung erzeugt hat, ist ein Wertgegenstand. Für diese materielle Gabe habe ich eine Gegenleistung zu erbringen, den Ersatz eines unterdrückten Gefühls durch ein vorgetäuschtes. Und der kleine Koffer mit dem Kunstlederbezug – wie „gepresstes Leder“ – weist noch viele leere Fächer auf, nicht nur für Löffel, auch für Messer, Gabeln, Teelöffel, Kuchengabeln, für Schöpfkelle und Tortenheber … Ich kann mir nicht vorstellen, später einmal mit diesem klobigen Besteck zu essen.
„Was ist dir beim Backen lieber, Hefe oder Backpulver?“ will die Tante jetzt von Mama wissen. „Hier hast du doch Hefe genommen?“
Onkel Georg seufzt schwer: „Nicht mal am Sonntag kommt man richtig zur Ruhe. Ein elendes Leben ist das …“
Mama antwortet, sie bevorzuge Hefe, vor allem bei gedecktem Apfelkuchen. „Nur für die einfachen Böden nehme ich Backpulver, geht schneller. Da schmeckt man den Unterschied kaum.“
„Morgen früh um halb sechs wieder mit dem Hänger auf die Autobahn!“ verkündet der Onkel. Wir bedauern ihn nicht, das Klagelied ist zu oft angestimmt worden. Er ist Fuhrunternehmer, transportiert Holz aus den Wäldern in die Sägewerke. Er ist vom Auftraggeber abhängig, genau an Vorgaben gebunden. Der Onkel hat das Risiko eines freien Unternehmers, ohne dessen Unabhängigkeit: Das wissen wir alles schon.
Papa nimmt das Stichwort auf, nur nicht im Sinne seines Cousins. „Du hast es noch gut, eine halbwegs feste Arbeitszeit. Wenn man aber Vieh hat, weiß man gar nicht, was Feierabend ist.“
„Häkelst du eigentlich noch?“ höre ich die Tante Mama fragen.
Der Onkel protestiert, seine Arbeit sei dafür viel gefährlicher. „Du kennst den Wald nicht, diese Steilhänge. Wie kriegt man die Stämme zum Ladeplatz runter, ein Kunststück ist das jedes Mal.“ – „Und hier“, sagt Papa, „wächst das Unkraut und wächst und wächst … Wir kommen nicht dagegen an.“
„Ja, im Winter häkele ich wieder. Aber jetzt ist dafür keine Zeit.“ Mama scheint den Anschluss an das Männergespräch gefunden zu haben, setzt sich aber gleich wieder davon ab: „Die ganze Woche habe ich Johannisbeeren eingekocht, ich muss dir nachher zeigen, wie groß die Vorräte schon sind. In drei Jahren können wir das nicht verbrauchen.“
Papa: „ … und spätestens im Winter müssten die Hühnerställe ausgemistet werden. Man kommt eben nie zu allem, was nötig wäre.“ Onkel Georg erinnert an seinen stillliegenden zweiten Lastwagen. „An die Reparatur darf ich gar nicht denken. Wer soll das alles bezahlen? Und dann noch die Steuern!“
„Schenk mir noch eine Tasse ein.“ Die Tante lehnt sich zurück, anscheinend abgestumpft gegen die Sorgen ihres Mannes. „Im Garten hat man immer Beschäftigung“, sagt meine Mutter, „nie Langeweile.“
„Auf der anderen Seite: Druck, Druck, Druck. Die Termine kaum einzuhalten“, behauptet der Onkel. Papa bleibt ungerührt. Ich weiß, er schätzt es nicht, wenn einer noch arbeitsamer und gehetzter sein will als er.
Tante Anna bewundert die frisch geputzten Fenster von weitem, wie schön sie sich spiegelten. Mama sagt was von „Kitt erneuern“ und „tapezieren wollen“. Sie will gleich eine Broschüre mit neuen Mustern heraussuchen. - „Was mich am meisten ärgert: der ganze Bürokratenkram, die vielen Formulare …“ Das ist wieder mein Vater. Und der Onkel: „Das muss sich alles ändern. Einfach Schluss machen damit, fertig!“
„Tante Mariechen hat mir eine Vase geschenkt, so groß und eckig, wie man sie jetzt hat.“ Auch die Vase verspricht Mama der Tante zu zeigen. Aber mein Vater entscheidet, dass stattdessen unser Bauplatz besichtigt werden soll. Wir bauen ja ein neues Haus, dahinten im Wäldchen. Zu sehen gibt es noch nichts, und Papa wird nicht dabei sein, er muss zu den Ställen. Das Vieh warte, während wir schon viel zu lange hier säßen ---
Wir stehen langsam auf. Und da höre ich das tuckernde Geräusch vom Fahrweg weiter unten herauf. In zwei Minuten trifft also Tante Franzi mit dem verhassten Löffel bei uns ein. Mich beschenken zu lassen, es erfüllt mich auch jetzt mit Widerwillen. Ich hasse es überhaupt, beschenkt zu werden. Am Morgen meines Geburtstages zögere ich das Aufstehen so lange wie möglich hinaus. Es fällt mir schwer, eine freudige Grimasse herzustellen. Immer erhalte ich nützliche Sachen, deren Wert für mich ich nicht einsehe.
Das Geräusch ist nicht mehr zu vernehmen, der Wagen hat also die erste Biegung passiert. Die anderen haben wohl nichts gehört. Papa schlägt schon den Fußweg hinunter ein. Mama bringt erst noch das Kaffeegeschirr ins Haus. Sie geht an Oma Kathi vorbei, ohne sie anzusehen. Wir anderen zuckeln hinterher. Auf einmal weiß ich, was ich tue. Ich sage, sie sollten schon mal vorausgehen, ich würde mir noch was ansehen. Und ich renne den kurzen, steilen Pfad hinauf - Roland entgegen. Oder wem auch immer.
„Bub, bleib doch bei uns“, höre ich die Tante noch rufen. „Gehört sich so was denn?! Wie eigen du bist. ...“

Damals, Tante Anna, hattest du, ohne es zu ahnen, schon das Schlusswort.
Roland kam an diesem Tag nicht und sonst auch keiner.
 
Hallo Arno,

Dafür hast Du einen silbernen Löffel verdient, mit Deinen Initialen eingraviert. Damit Du endlich Deinen Besteckkasten vollkriegst. Super, wie Du die Dialoge hingekriegt hast. Urkomisch. Wie sie bei Dir alle aneinander vorbeireden. Da habe ich den richtigen Riecher gehabt, als ich Dir riet, mehr Dialoge einzubauen, weil Du dafür ein Händchen hast. Diese Technik, Wortfetzen zu kombinieren, muss ich auch mal ausprobieren.

Auch ich habe ständig Etuis, die mit etwas samtähnlichem ausgeschlagen waren, und in denen sich verzierte Kuchengabeln befanden, feierlich überreicht bekommen und sollte mich darüber auch noch freuen. An Zuckerzangen kann ich mich auch noch erinnern.

In unserem Besteckkasten lag jahrelang die Gabel, die meine Mutter zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte und war schon ganz grün und abgewetzt. Warum ist diese Mode eigentlich heute eingeschlafen? Immerhin muss man dadurch sein Lebtag an Tante Bertha denken, falls das mal von ihr so angedacht war.

Gruß Friedrichshainerin
 
Danke, Friedrichshainerin, für die Würdigung des Textes und die Mitteilung über uns Verbindendes (Bestecke). Der Inhalt jenes Kastens gehört noch zu meinem Inventar, aber ich fremdele nach wie vor mit den schweren neobarocken Formen (Suppenlöffel zu groß für den Mund). Ich vermute, dass die Beliebtheit solcher Geschenke in der Nachkriegszeit mit der Erfahrung zweimaliger Inflation vorher zusammenhing.

Übrigens habe ich diesen Text schon vor gut vierzig Jahren geschrieben (seitdem zweimal stilistisch überarbeitet). Bei den Dialogen konnte ich mich noch gut auf die Erinnerung stützen. Sie haben damals wirklich solche Themen gehabt und auf diese Weise durcheinandergeredet. Erst nach dem Tod fast aller Vorbilder konnte ich die Erzählung als Ganzes veröffentlchen. Ob "Monika" und "Ferdi" noch leben, weiß ich nicht, aber "Roland" ist auch schon tot. Mir ist das etwas unheimlich: das auffallende frühe Hinscheiden mehrerer Idole von damals. Dabei war gerade Vitalität ihr gemeinsames Merkmal in jungen Jahren gewesen ...

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
Hallo Wertester,
Ein stimmungsvolles, pflaumenreifes Sittenbild der Familie Abendschön. Mir kommt es vor als seien deine und meine Familie miteinander verwandt oder irgendwie verbandelt. Die Namen sind nämlich die gleichen und die Handlungen im selben Muster. Weihnachten war immer, wenn Tante Anna kam und im Waschkeller, er hiess auch so, wurde samstags im großen Waschkessel, der von unten befeuert werden musste, gebadet und zwar die ganze Familie. Hintereinander natürlich! ….und im Herbst, wenn das arme Schwein aus dem Stall geholt und unter furchtbaren Gequieke zur Schlachtbank geführt und getötet wurde, wir Kinder wurden immer weggeschickt, dann wurde auch die Wurst darin gekocht.
Und die kleine Elkind, Elke, Trisomie 21, wenn sie in der Jahnstraße am Haus vorbei kam und nich schnell genug rennen konnte, musste immer ein Geschenk dalassen, als Wegezoll sozusagen. Das konnte dann ein schmutziges Häkeltaschentuch sein und wenn sie nichts derartiges dabei hatte, dann musste sie halt das Röckchen heben. Sie hatte nichts drunter, der Einfachheit halber geschuldet. Kinder können manchmal grausam sein.
Ja, du hast das schön und nachdenklich formuliert, ein Sittenbild wie gesagt. Es sind oft die kleinen und belanglosen Dinge, die im Kopf spuken und eine Erinnerung wachrufen, die uns an Spannen unseres Lebens erinnern und sich weiterspinnen zu einer Lebensgeschichte.
Hat mir gut gefallen, Arno
Danke, John
 
Danke, John, für die freundlichen Zeilen und die parallelen persönlichen Erinnerungen. Solche Ähnlichkeiten sind nicht zufällig, sondern zwangsläufig durch dieselben Zeitumstände im selben Land bedingt. Allerdings, die Namen ... Tante Anna hieß nicht so, wie auch einige andere. Die Namen der direkten (toten) Vorfahren dagegen, deren einziger Nachkomme ich bin, sind die echten. Heimatforscher würden sie ohnehin herausbekommen, z.B. durch den Honecker-Bezug.

Enttäuschen muss ich dich auch, was Hausschweine angeht. Tatsächlich hielt mein Vater niemals welche. Er war ein sonderbarer Landwirt, der schlecht mit großen Maschinen umgehen konnte (daher kein Getreide angebaut) und viel lieber Gärtner geworden wäre. Er konnte auch kein Blut sehen, so hatten sie ihn im Russlandkrieg zum Funker gemacht. Das Schlachten der Hühner (oft mehrere Dutzende an einem Vormittag) besorgte allein meine Mutter. Ich sah von meinem Zimmer aus manchmal, wie sie am Hackklotz das Beil schwang, wie die kopflosen Torsi der Hühner noch mit den Flügeln schlugen - grausig.

Freundliche Grüße
Arno
 



 
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