Beerdigung einer fremden Frau

Nika

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Und doch merkt Mimi, dass meine Kraft schwindet, und damit schwindet auch ihre. Sie beginnt sich aufzugeben, eine Odyssee zwischen Psychiatrie, zu Hause und Intensivstation, fängt an. Zeichen sind seit mehreren Monaten zu beobachten, meine Mutter gibt sich langsam auf und zieht immer mehr aus ihrem, und damit auch meinem, Leben zurück. Keine Ausbruchstendenzen mehr, keine Auszugspläne mehr, nach Jahrzehnten schickt sie sich in ihr selbst geglaubtes Schicksal zwischen einem brutalen und ignoranten Ehemann und einer Tochter, die von ihr abhängig ist, ihr jedoch nur Beachtung schenkt, wenn sie gerade ein Problem mit ihrem Vater hat. Beide zeigen sich ungern mit meiner Mutter in der Öffentlichkeit, sie sei peinlich, mit ihrem Rollator, mit ihren nervösen Anzeichen, die jedoch nur auftreten, wenn sie mit meiner Schwester und / oder meinem Vater zusammen ist. Wenn sie sich unter Beobachtung durch diese fühlt, klappert sie mit den Zähnen, streckt die Zunge raus, schaukelt mit dem Oberkörper vor und zurück oder Ähnliches. Die beiden reglementieren dies stark, nicht nur mit dem Verbot dieses Verhaltens, als ob das immer so einfach sei …. bis zu emotionalen Ausbrüchen, sie sei ja sooo peinlich, mit ihr könne man nirgendwo hingehen und auch der Besuch, den meine Schwester mitbringt, und für den Mutter kocht und backt, wird danach eingehenden Verhören unterworfen, wie furchtbar meine Mutter sich wieder verhalten habe.
Dass meine Mutter sterben wird, ist mir bei der ersten Aufnahme ins Krankenhaus klar. Mein Vater ruft mich an, er und meine Schwester sind schon vor Ort, verschwinden aber noch 5 Minuten wieder und ich kümmere mich um meine Mutter und versuche etwas vom Personal zu erfahren. Meine Mutter liegt in der Notaufnahme, verkabelt an vielen Geräten und Infusionen. Nach einer Zeit fragt sie mich, was denn hier dauernd piepen würde und ich erkläre ihr, dass das die Geräte der Patienten hier seien. Mimi meint nur: „Das ist ja Mobbing am Arbeitsplatz!“ Meine Mutter soll die Nacht in der Notaufnahme verbringen, weil kein Bett auf den Stationen frei ist. Sie wird aber noch in der Nacht wieder in die Psychiatrie gebracht, weil sie sich immer wieder die Zugänge zieht und es ihr etwas besser ginge. Dort hat wohl niemand Zeit und Energie, ihr zu erklären, warum es wichtig sei, dass sie verkabelt bleibt. Am nächsten Tag das gleiche Spiel, meine Mutter bricht in der Psychiatrie zusammen und soll wieder in ein Krankenhaus verlegt werden. Auf Anraten des dortigen Arztes wird diesmal ein anderes angefahren. Ich bin schon vor Ort, als der Krankenwagen ankommt und begleite sie in die Notaufnahme. Meine kleinste Schwester Fee, die eigentlich die größte, aber die jüngste ist, kommt ebenfalls mit. Meine Mutter gibt nochmal alles, scherzt mit der Krankenpflegerin, die auch gleich meint, jemand so vergnügtes habe sie noch nie hier gehabt. Recht schnell fragt meine Mutter mich auch nach einer Zigarette, sie wolle eine rauchen. Die Pflegerin erklärt, dass sie in der Notaufnahme nicht rauchen dürfe. Als klar war, dass meine Mutter auf die Intensivstation verlegt wird, bittet sie mich neben den Zigaretten noch um etwas Geld, damit sie sich noch einen Kaffee holen könne. Ich habe nicht den Eindruck, dass meine Mutter sich des Ernstes der Lage nicht bewusst ist, ich habe eher das Gefühl, dass sie es uns allen etwas erleichtern möchte.
Lange sitze ich am Bett, den Blick zwischen Mimis Gesicht und dem Monitor mit den Daten, ich habe sie mir vom Pfleger erklären lassen, hin und her schweifend. Ich versuche kleinste Veränderungen wahrzunehmen, jedes Piepsen der Geräte macht mich nervös, genauso wie die künstliche Beatmung, die Fixierung am Bett, Zugänge …, aber vor allem das ausdruckslose Gesicht. Bei jedem Kaffee, jeder Zigarette quält mich der Gedanke, dass ich eine Verbesserung oder Verschlechterung verpassen könnte. Nach einigen Tagen meldet sich mein Selbsterhaltungstrieb. Ich gehe wieder arbeiten, bei Besuchen lese ich meiner Mutter ihre Lieblingsmärchen vor und halte ihre Hand. Selbst wenn sie mich nicht hören könnte, würde es ihr nicht schaden, und mir hilft es mit der Situation umzugehen, uns beiden etwas Gutes zu tun und langsam Abschied von der Hoffnung zu nehmen, dass alles wieder gut würde. Vom künstlichen Koma fällt meine Mutter in ein natürliches Koma, dann kommt sie zu sich … meine Mutter wirkt desorientiert. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich erkennt, wenn ich sie etwas frage, antwortete sie mit Ja oder Nein, doch wenn die Antwort keinen Bezug zur Frage hat und ich nachfrage, hebt sie nur verzweifelt die Schultern. Sie ist mit der Situation überfordert, wiederholt immer wieder „o Gott o Gott“ oder „Herr im Himmel“. Nicht nur sie war mit der Situation überfordert, auch ich weiß nicht damit umzugehen … wieviel Bewusstsein ist noch in diesem Kopf? Wie hat ihr Gehirn den Sauerstoffmangel und die Wiederbelebung verkraftet? Was heißt vor diesem Hintergrund weiterleben? Und was soll / darf ich wünschen für uns beide?
Schnell bin ich mit diesen Fragen wieder allein, meine Mutter muss wieder künstlich beatmet werden und wird ins Koma „geschickt“. Leider hat meine Mutter keine Patientenverfügung und ich streite mich mit meinem Vater darüber, ob Mimi weiter wiederbelebt werden soll oder ob er – für mich endlich – veranlassen soll, dass keine weitere Reanimation mehr stattfindet. In der letzten Nacht, die meine Mutter lebt, wird sie dreimal reanimiert. Erst nachdem der Neurologe meinem Vater versichert, dass meine Mutter ein Schwerstpflegefall wird, verfügt er, dass das Leben und der Tod ihren Lauf nehmen dürfen und meine Mutter gehen darf …
Nach dieser Nacht gehe ich früher von der Arbeit weg, um den Mittag am Bett meiner Mutter zu verbringen … meine Mutter erwartet mich, ich sehe ihren auf mir ruhenden Blick bereits als ich das Zimmer betrete. Wie in den Wochen zuvor begrüße ich sie und nehme ihre Hand. Das erste Mal, seit sie auf der Intensivstation ist, hält sie mir auch ihre zweite Hand hin. So schauen wir uns an, halten uns an den Händen und sprechen kein Wort. Meine Mutter kann nicht und ich weiß, dass alle unsere Worte in unseren Blicken liegen. Dies ist einer der Momente, für die ich am dankbarsten bin, den ich nicht vergessen werde. Neben der Trauer war hier die Kraft der Bindung, die neben dem Scherbenhaufen der Vergangenheit steht.
Wir verabschieden uns und wissen, wie viel wir uns im Leben bedeuteten. Dieses beiderseitige Bewusstsein macht uns – ich hoffe, dass ich da wirklich auch für Mimi sprechen kann – den Abschied leichter.
Mimi stirbt in der darauffolgenden Nacht. Mein Vater ruft an und ich fahre schnell ins Krankenhaus. Meine Mutter liegt tot auf dem Bett. Ich habe noch nie in meinem Leben einen toten Menschen gesehen und das bleiche Gesicht ohne jede Mimik flößt mir etwas Angst ein. Gerne möchte ich mich einen Moment ans Bett setzen, und, ja was?, ich komme nicht dazu.
Meine Schwester und mein Vater sind bereits da und wollen die Einzelheiten der Beerdigung mit mir besprechen. Ich drehe mich auf dem Absatz um und trete die Flucht an. Gut, dass ich mich bereits mittags von meiner Mutter verabschiedet habe, denn dieser Moment in der Nacht hat nichts von Gefühl, Trauer hat hier keinen Raum, nur Organisatorisches, die Zukunft. Ich bin nicht so schnell, bei mir brauchen Gefühle Zeit und ich kann nicht von einem in den anderen Modus switchen. Meine Familie nennt das empfindlich, ich benenne es in den letzten Jahren, als empfindsam und dies hat nicht den negativen Charakter der Zuschreibung empfindlich, sondern hat für mich auch mit Stärke zu tun. Dies zwar nicht im Sinne meiner Familie, aber das ist für mich schon lange kein Maßstab mehr.
Gut, dass ich Ort, Uhrzeit und ein paar Menschen, die dort im Friedwald warten, kenne, sonst hätte ich gedacht, dass ich auf der falschen Veranstaltung gelandet bin …
Zur Beerdigung erscheinen nur Menschen, die mein Vater per Post eingeladen hat. Wenn ich den Blick schweifen lasse, frage ich mich, wo diese Menschen im Leben meiner Mutter waren …. Manche kenne ich nicht, andere habe ich, so wie meine Mutter auch, seit Jahren nicht mehr gesehen. Kaum zu glauben, dass meine Mutter die letzten Jahrzehnte bis auf wenige Kontakte in Einsamkeit verbracht hat. Ihr Halbbruder, für den und seine Frau ich am letzten und vorletzten Geburtstag eingedeckt habe und deren Geschirr ich unbenutzt wieder abgeräumt habe, wollen mich herzlich in die Arme schließen. „Sie haben es doch seit dem letzten Geburtstag nicht geschafft, vielleicht kommen sie ja heute“, so meine Mutter. Willkommen, solltn sie sich fühlen, es soll nicht erst eingedeckt werden, wenn sie kommen. Manche Menschen, die sie wirklich mochten, kommen zum Teil nicht zur Beisetzung, weil sie ahnen, welche „Show“ dies geben wird. Sie wollen dabei nicht Zuschauer sein. Und Show ist ein guter Ausdruck für das, was kommt. Mein Vater schließt mich in die Arme, so schnell kann ich mich gar nicht wehren, wie lang ist das letzte Mal her? Irgendwas zwischen dreißig und vierzig Jahren. Ich halte mich abseits, möchte mit meiner Trauer allein sein. Der Kollege meines Vaters läuft mit dem Handy hinter dem Redner und der Urne auf und ab, ich denke, er wird Fotos machen und dass ich meinem Vater sagen muss, dass er die, auf denen ich bin, aussortieren soll. Alle sind sehr gefasst, nur mein Bruder und ich heulen wie die Schlosshunde. Die Frau, die der Redner nach dem Gespräch mit meinem Vater und meiner kleinsten Schwester beschreibt, hätte ich nicht als meine Mutter erkannt, aber es soll sich wohl um sie drehen. Meine Mutter sei gerne gereist, doch sie hasste Flugreisen. Meine Mutter sei ein stiller Mensch gewesen, dabei stand der Mund kaum still, wenn sie mit mir und meinen Freundinnen unterwegs war. Wir beerdigen hier wohl unterschiedliche Menschen. Nun wird die Urne zum Grab getragen und ich folge in einiger Entfernung zu den fremden Menschen. Hinter dem Grab steht der Kollege meines Vaters und macht von jedem, der sich am Grab verabschiedet, Fotos. Mein Vater, meine Schwester 1, Schwester 2, mein Bruder, nun ist die Reihe wohl an mir. Ich bitte meine Freundin, die mich begleitet, Bescheid zu sagen, dass ich kein Foto von mir am Grab möchte. Ich bin wieder mal so empfindlich und möchte meinen Abschied nicht für die Nachwelt dokumentiert haben. Der Kollege senkt das Handy, um nach meinem Abschied fleißig weiter zu fotografieren. Nach dem Stellen für die Fotos am Grab streben alle zu den Autos, um das große Büffet in der hochpreisigen Lokalität nicht zu verpassen. Ich nehme allein am Grab Abschied, lese meiner Mutter ein letztes Mal ihr Lieblingsmärchen vor und gebe es ihr mit ins Grab. Nun ist sie bei ihrer geliebten Großmutter, wie in dem Märchen von dem Mädchen mit den Schwefelhölzern, das immer ihr liebstes war. Ein Mensch bewahrt auf dieser Feier Pietät, ein Fremder, der das Grab zuschaufeln wird, wartet in aller Ruhe im Auto, bis auch ich mich als letzte losreißen kann. Es steht noch das Telefonat an, dass ich dem Büffet fernbleiben werde. Das war mir bereits bei der Einladung klar, ich teile dies jedoch erst jetzt mit, um Diskussionen am Grab zu umgehen. Lass die feiern, die sie kaum kannten und sich seit Jahren nicht mehr um sie gekümmert hatten, ich kann mir das schenken.
Ein paar Tage später bietet mein Vater mir an die Fotos und das Video zuzusenden. Ein Video, das alles gebannt hat, die Gäste, die Urne, die Rede, die Trauer, meine Trauer. Einige Zeit ist mir dies unerträglich, pietätlos. Einige Situationen möchte ich nur in meinem Kopf behalten, dieses Andenken reicht mir. Ich möchte nicht, dass jemand sich immer wieder ansehen kann, wie verzweifelt und tieftraurig ich bin, meine Tränen, die mir die Wangen hinunterrollen, das von tiefem seelischem Schmerz gezeichnete Gesicht, doch dafür ist es zu spät.
So formen mein Vater und viele Beerdigungsbesucher die Geschichte einer Frau, die ich so nicht kannte. Es ist jedoch auch der Startschuss für meine eigene Geschichte.
 



 
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