Bäcker, Fleischer, ETF

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Papiertiger

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Die Rente wird nicht reichen. Das Sparbuch ist ein unnützes Relikt der Vergangenheit. Und wie sagte die Anleger-Legende André Kostolany so treffend: "Schließen Sie keine Versicherungen ab, kaufen sie lieber Aktien ihrer Versicherungsgesellschaft". Und so tat ich, was Experten empfahlen und kaufte mir ETF-Anteile. Exchange traded Funds, also börsengehandelte Fonds, die breit gestreut sind und somit das Risiko gegenüber einer Einzelaktie senken. Wer will kann mit geringen Gebühren an der Weltwirtschaft beteiligt sein. Seitdem ich das praktiziere schlafe ich wesentlich ruhiger, habe das Gefühl, dass ich für ein wachsendes Vermögen arbeite und nicht mehr bloß, um irgendwie von Monat zu Monat zu kommen. Gleichzeitig sehe ich Unternehmen anders, verstehe, dass unser gesamtes Handeln, von Staat und Betrieben, darauf ausgerichtet ist, dass die Wirtschaft wächst und Geld verdient werden soll. Kapitalismus wird erst dann so richtig positiv, wenn man selbst Kapital besitzt. Die zehn größten Positionen im MSCI World-ETF sind die prominenten Namen wie Apple, Microsoft, Amazon und Co. Globale Giganten. Nun lebe ich aber in einem kleinen Ort, bin kein Vielflieger und durchaus ein Anhänger von: Denke global, handle lokal. Regional kaufen, den Handel vor Ort unterstützen. Kleine Orte erhalten, am liebsten so wie sie früher waren mit Bäcker, Fleischer, Gaststätte, Postfiliale, Sparkasse und Supermarkt. Und so saß ich, gedankenversunken an einem viel zu warmem Julitag auf dem Balkon und dachte: "Wieso eigentlich kein lokaler ETF?"

Wer sind in unserer, kleinen Stadt die Apple, Microsoft und Amazon? Vielleicht die selben Figuren wie in dem Film "Das weiße Band - eine deutsche Kindergeschichte" von 2009? Der Pastor, der Doktor und der Baron? Okay, man merkt schon, dass der Film zur Wilhelminischen Zeit spielt. Heute wären es vielleicht eher Der Vape-Store-Betreiber, der Doktor und der Altenheimbetreiber.

ETF-Anleger kaufen automatisch alle Werte, die in einem Index enthalten sind. Wenn dieser Index also zum Beispiel der DAX ist, dann kauften Kunden auch Anteile von Wirecard. Wer ist wohl das Äquivalent von Wirecard in Ihrer Gemeinde? Vielleicht der Schlüsseldienst mit dem sehr windig wirkenden Betreiber, der jeden zweiten Donnerstag frisch geräucherte Makrelen anbietet? Oder aber die Blumenhändlerin mit angeschlossenem Lottoservice, die zwei, offenbar wandernde Ruhetage pro Woche hat und selbst, wenn sie laut Schild an der Tür eigentlich auf hat, im Nachbargeschäft steht und dort ausgiebige Pläuschchen mit der Verkäuferin führt?

Gibt es wohl auch Einhörner, Ten-Bagger, extrem erfolgreiche Start-Ups wie Tesla, Nvidia und Facebook in meiner Nähe? Kann ich mich an den Einnahmen des verschrobenen Sonderlings in der Blumenstraße beteiligen, der Physik studiert und in Zukunft vielleicht die Kernfusion zur Marktreife führt? Oder unsere Gesangshoffnung, die es bis in eine späte Runde einer TV-Talentshow schaffte und nun ab und an bei kleineren Veranstaltungen in Discos in eher überschaubaren Orten zu Vollplayback singt?

Seit Montag hängt nun jedenfalls mein Aushang "Sparbuch war gestern, Regio-ETF ist jetzt" in meinem kleinen 1-Euro-Shop an der Hauptstraße. Ich stehe an der Theke, sehe wie gegenüber gerade der alte Kiosk durch einen Automaten für Softdrinks, Schokoriegel und Co. ersetzt wird und bin gespannt auf die Resonanz.
 

Bo-ehd

Mitglied
Ja, Papiertiger, so ein Regio-ETF wäre gar keine so schlechte Idee. Der hätte den Vorteil, dass man genau weiß, wo man sein Geld lässt, und die Leute persönlich kennt, die einen Betrieb in die schwarzen oder eben auch roten Zahlen treibt. Aber hilft es, die Pleitegeier persönlich zu kennen?
Selbst ETF-begeistert habe ich deinen Text gern gelesen.
Gruß Bo-ehd
 

Papiertiger

Mitglied
Und wer macht die Börsenaufsicht? :D
Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
Liebe Petra,

Dankeschön :) Nicht wahr! Solche und andere Fragen drängen sich auf. Bin direkt begeistert wie sehr dieser kurze Text die Phantasie anregt. Da muss ich mich direkt auch noch selbst loben, zusätzlich zum erfreulichen Feedback: -)
 

Papiertiger

Mitglied
Ja, Papiertiger, so ein Regio-ETF wäre gar keine so schlechte Idee. Der hätte den Vorteil, dass man genau weiß, wo man sein Geld lässt, und die Leute persönlich kennt, die einen Betrieb in die schwarzen oder eben auch roten Zahlen treibt. Aber hilft es, die Pleitegeier persönlich zu kennen?
Selbst ETF-begeistert habe ich deinen Text gern gelesen.
Gruß Bo-ehd
Hi Bo-ehd, Dankeschön für die Rückmeldung. Im Grunde gibt es so etwas ja längst in gewisser Weise, Genossenschaftsanteile oder Beteiligungen an z.B. örtlichen Windparks oder Dorfgemeinschaften, die eine Post oder einen Supermarkt betreiben. Ich finde das sehr spannend und auch traurig, wie sehr kleine Gemeinden an Lebensqualität verlieren. Gleichzeitig habe ich Leute erlebt, die lieber Benzingeld verfahren und mehr Zeit in Kauf nehmen, um nur ja nicht das Mineralwasser im örtlichen Getränkeladen zu kaufen - darüber ließen sich tatsächlich noch weitere Geschichten schreiben. Ein Mix, irgendwo aus Asterix-Comics in der heutigen Zeit, Familie Heinz Becker und Lindenstraße :)
 



 
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