Auf einmal komme ich ins Bild

Vergilbtes

Im Netz alte Fotos von Saarbrücken ansehen, warum nicht? Ich betrachte, wie ich annehme, lauter Aufnahmen der noch unzerstörten Stadt vor dem Krieg. Da ist die Schlossgegend, die ich so nicht kenne. Die Serie der Schwarzweißbilder wirkt jedoch allzu gleichmäßig vergilbt. Ich erkenne Menschen, gekleidet wie um 1930, doch auch Kriegsruinen und Automarken der Nachkriegszeit. Ist zum Teil retuschiert, künstlich gealtert worden?


Hauptbahnhof

Eine Fassade mit zwei monströsen hohen Festungstürmen. Ich glaube mich dunkel an ihren Anblick zu erinnern, daran, dass sie das Kind damals ängstigten. Dachten ihre Erbauer, sie böten Schutz vor einem Feind auf den Höhen? Jedoch wurde der Bahnhof nicht von dort beschossen, sondern aus der Luft bombardiert; er wurde als Ganzes zu Schutt, nur die erschreckenden und dennoch schönen Türme hielten stand, nun noch gebieterischer überragend das nach dem Krieg hastig zwischen ihnen und um sie herum Zusammengeflickte. Das Bild des Bahnhofs war Mahnung, Drohung. Ich war ihm nur zweimal kurz ausgesetzt, mit acht und mit zwölf Jahren. Danach fielen die Türme, ersetzt durch eine lange, nichtssagende moderne Scheibe.


Rote Ampel

Die Großeltern waren sehr gut zu Fuß. Sie führten den Zwölfjährigen weg von den Türmen und traten mit ihm den weiten Weg zu einem neuen Park am Stadtrand an. In einem Viertel mit viel Autoverkehr verblüfften sie mich: Sie überquerten eine Straße bei Rot für Fußgänger, Opa vorneweg. Ich folgte, machte ihm Vorhaltungen. Es stellte sich heraus, dass er die Bedeutung des Signals gar nicht kannte, er, der von seinen jahrelangen Streifzügen durch halb Europa – das alte Europa! - lange erzählen konnte. Als Rentner kam er nicht mehr aus seinem Nest heraus und hatte den Anschluss an so vieles verpasst, an die moderne Zeit wie ihren Fortschritt. Dieser Ausflug nach Saarbrücken war der einzige größere, den sie mit mir je unternahmen. Nach ihm war Opas Autorität für mich kleiner geworden.


Verlagshaus

Gut, dass markante Objekte mit Bildunterschrift versehen sind. Da ist ein Klotz mit expressionistischer Fassade und ich lese: Saarbrücker Landeszeitung. Ich erinnere mich, Opa erwähnte die Zeitung oft, da war er in der ersten Saargebietszeit Setzer gewesen. Da es das Blatt zu meiner Zeit nicht mehr gab, verband ich nichts mit dem Titel. Ich lese erst jetzt nach und staune: Eine Parteizeitung des katholischen Zentrums? Und Opa Atheist und damals auch Kommunist? Jene Partei und ihre Zeitung warben noch nach der Machtergreifung für die Heimkehr ins Reich – und bei Opa daheim im Keller betrieb die KP vor der Rückgliederung eine kleine Druckerei. Opas Schatten wird auf einmal für mich wieder länger.


Bierlokal

Man konnte dort auch preiswert essen, ich weiß. Diese Saarbrücker Version von Aschinger lag so nahe am Hauptbahnhof, dass sie sich vor allem für eine Einkehr zwischendurch anbot: Umtrunk nach Feierabend, letztes Bier vor Heimfahrt mit dem Zug. Ich sehe das Foto, lese die Bildunterschrift und mache mir klar: Seit über fünfzig Jahren ist dir das Lokal kein einziges Mal mehr in den Sinn gekommen. Opa hat es oft erwähnt, lächelnd, mit Nachdruck. Ich brauche etwas Zeit, bis ich mich selbst dort wiedererkenne, in Gesellschaft von Ulrich, dem Schulfreund. Wir waren siebzehn oder achtzehn … Auf einmal stellt das Gedächtnis die Erinnerung scharf, da ist erstmals wieder nach so langer Zeit dieser Splitter. Wir zahlten jeder seine Zeche und der Kellner gab Ulrich falsch heraus. Der Freund bemerkte den Betrug, fuhr auf wie eine Natter, zischte erregt. Nie hatte ich ihn so energisch gesehen. Der Kellner gab gleich nach und rückte das fehlende Wechselgeld heraus.
Warum war mir die Szene so lange entfallen? Vielleicht, da ich selbst zu wenig herausbekommen hatte … Die Sache war die, dass Ulrich Berufsoffizier werden wollte – er wurde es und machte Karriere – und ich stets pazifistisch dagegenhielt. Die Sache war auch die, dass er drei, vier Jahre lang drei Viertel meiner Gefühls- und Gedankenwelt ausfüllte – ohne selbst daran stark interessiert zu sein. Es wurde auf meiner Seite eine einzige groß angelegte Fehlspekulation. (Und vielleicht hatte ich sie gerade zu diesem Ausgang überhaupt unternommen.)

Was bin ich? Schreibender Enkel eines alten Mannes, der viel las und immer mehr Abstand zur Welt gewann.
 



 
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