Auf der Großheselloher Brücke

- war eine Bekannte von ihm, die aussah wie Asta Nielsen, über das Geländer geklettert und hatte sich in die Tiefe gestürzt. Das erfuhr ich aus dem Roman, den er über seine Jugend geschrieben hat. In dieser Stadt schienen sie ziemlich selbstmordgefährdet zu sein. Seinen Bruder hatte es auch erwischt.
Im Internet finde ich eine Eisenbahnbrücke hoch über der Isar „Ist sie da etwa ernsthaft raufgeklettert und wenn, wie hat sie das nur angestellt? Da muss man ja Spiderman sein“, denke ich.
Ach so. Die Großhesseloher ist eine Brücke in zwei Ebenen, oben die Züge und unten für die Fußgänger und Radfahrer, erfahre ich aus dem Text. Wieder was dazugelernt.

Immer, wenn ich mir Fotos der Schauspielerin, von der am Anfang die Rede ist, betrachte, muss ich an eine Freundin denken. Die hatte einmal genau solch eine Frisur wie die Filmschönheiten damals, als die Bilder gerade erst laufen lernten und kam mir vor wie ein aus der Zeit gefallener Stummfilmstar, der eigentlich auf die flimmernden Leinwände des Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz gehört, wenn sie dort jeden Samstag nach Mitternacht Klassiker wie "Die freudlose Gasse", wo man ihre Doppelgängerin in der Hauptrolle erleben kann, mit Orgelbegleitung vorführen.

Übrigens kann ich auch bald die Hauptrolle in "Die freundlose Gasse" übernehmen, denn seit sie mir einen Wohnblock vor das Fenster gesetzt haben, wird es hier überhaupt nicht mehr richtig hell und die Stimmung hält sich in Grenzen.


„Ein letzter Seufzer entrang sich seiner Kehle und sein Haupt fiel in die Kissen zurück.“ Damit steige ich den ersten Teil der Mockumentory - eine zugegebenermaßen etwas beknackte Wortschöpfung, die nicht anderes als Nonsens bedeutet, aber ich gehe mit der Zeit - ein. Mir ist schon klar, dass die Bezeichnung für Videos gedacht ist, aber da hier ein Portal für Kurzgeschichten ist, versuche ich eben einen Film mit Hilfe von Worten zu erzeugen.
Von hinten rolle ich alles nach vorne auf und springe gleich zu: Die Hebamme griff beherzt zur Zange. Die Abdrücke sah man noch jahrelang an seinem Kopf. Wer weiß, vielleicht ist durch die leichte Quetschung ja dasjenige Zentrum im Gehirn angeregt worden, wo die Fantasie ihren Sitz hat, an der er nie bei ihm Mangel herrschte?
Das erklärt auch, warum ich, die keine Zangengeburt war, nie was besonderes zustande gebracht habe.

Damit man die Handlung zeitlich verorten kann, füge ich folgenden Satz ein: „Alles muss anders werden“,* dachte er, als er neunjährig mit seinen Eltern in München auf dem Balkon stand, und zusah, wie die Raketen in den Himmel stiegen, die das neue Jahrhundert begrüßten. Alle Jahreszahlen hatten jetzt nach der Eins eine Neun.


„So schön wie sie will ich auch mal werden. Warum will man sich unbedingt umbringen, wenn man so dermaßen hübsch ist? So wie die Schauspielerin sah seine Freundin bestimmt gar nicht aus“, dachte ich neiderfüllt, als ich den Film sah, den sie in der DDR nach seiner Autobiografie drehten. - Autobiografie geht ja eigentlich gar nicht. Da kannst du ja schreiben, was du willst. -
Ich wurde auf diesen Dichter aufmerksam, weil er mit siebzehn die sagenumwobendste Lovestory von der ganzen Welt erlebt hatte. Er erschoss in München seine erste Freundin Fanny und richtete dann die Waffe auf sich selbst, ein Doppelselbstmord, den er überstand.
Wer sie war, interessierte mich viel mehr als seine Person. Ich fand aber nichts im Internet. Auch kein Bild.

Mir ist mal aufgefallen, dass die interessanteren Frauen in Filmen immer schlecht enden.

Zu Teeniezeiten musste ich entsetzt vor dem Fernseher miterleben, wie sich Simone Signoret in "Der Weg nach oben" vor ein Auto stürzte, sich Brigit Bardot in die "Die Wahrheit" die Pulsadern durchschnitt und wie Elisabeth Taylor in "Telefon Butterfield 8" mit dem Auto von der Klippe fiel. Was wollen uns die Filmemacher mit diesem ganzen Totentanz sagen?

Bei der Premiere konnte er nicht dabei sein, da er schon zehn Jahre zuvor verstorben war. Der Film ist übrigens auch verboten worden.
Ob sie im kalten Krieg in München drehen konnten? Vielleicht wäre dann die Hälfte der DDR-Schauspieler im Westen geblieben.
Die Schöne als erste. Dann hätte sie sich die Haare schwarz färben können und Winnetous Frau spielen können bei der Bavaria. Das Heiraten bei den Indianern soll ganz einfach sein. Die beiden wickeln eine Decke um sich, und das war´s dann. Scheidung ist auch möglich.
Oder die verfolgte Unschuld bei Edgar Wallace. Dann würde sie vielleicht ein Millionär geheiratet haben, und sie muss nicht mehr an muffigen Provinztheatern die Eve im „Zerbrochenen Krug“ spielen.


“Die Jahre der Erkenntnis“ heißt der mittlere Teil der Biografie. “Viele Jahre, wenig Erkenntnis”, fällt mir da ein, wenn ich an mich selber denke. Deshalb kann ich ihn schmal halten, falls ich mal meine Autobiographie schreibe.

Hat hier jemand zu viel Biografien gelesen, die ihr zu Kopf gestiegen sind und bringt jetzt ihre eigene mit der von Fremden durcheinander? Es stimmt schon, ich habe ich in letzter Zeit viele Bücher über Leute gelesen, die irgendwie bedeutsam waren oder auch nur nach ihnen recherchiert. “Das Internet ist für Neugierigkeit”. Niedliche, aber treffende Wortschöpfung von meinem Freund, Spanier. Und das, obwohl er, der sich dem technischen Fortschritt verweigert - er hat sogar noch eine mechanische Armbanduhr, die man aufziehen kann - nie dort unterwegs war.

Jetzt werden die meisten sagen: „Statt im Leben von historischen Persönlichkeiten und Literaten herumzustöbern, soll man lieber ihre Werke lesen.“ Genauso habe ich früher auch gedacht. Aber mittlerweile hat sich meine Meinung geändert. Anhand der Beschäftigug mit dem Leben einzelner, mit denen man sich identifizieren kann, entsteht vor einem ein lebendiges Bild der damaligen Zeit.
Merkwürdigerweise interessiert mich immer ihre Kindheit und Jugend am meisten.

Dieses Jahr kommt man an jemandem nicht mehr vorbei. Wenn man das Radio anschaltet, natürlich nur einen Kultursender und nicht einen mit der ewigen Halli-Galli-Musik, wo sie die Hits der Achtziger und Neunziger spielen, die ich in den Achtzigern und Neunzigern schon nicht leiden konnte, so schön war es übrigens in den Achtzigern-und Neunzigern, an die ich mich noch gut erinnern kann, gar nicht - wie finanzieren die sich eigentlich, es gibt ja unzählige von ihnen, und es werden immer mehr - vernimmt man gleich: “Es war spät abends, als K ankam. Das Dorf lag im tiefen ...”

Da bleibt man dann natürlich am Ball und will die Gelegenheit ergreifen, sich zu bilden. Was man vernimmt, ist geniales Zeug, aber nichts was einen aufbaut. Er schreibt über das, was man gerne verdrängt.**
Hier steht zwar die Gesamtausgabe von ihm, ist aber kaum angerührt worden. Er deprimiert mich. Bitte nicht lesen, wenn man die Scheiße am Kochen hat. Oder vielleicht dann erst recht?

Man will alles richtig machen und macht alles falsch. Mächte, die nicht deinem Willen unterliegen, bestimmen über dich. Was muss er erlebt haben, um solche Bücher zu schreiben. Das weiß wohl keiner. Die ganzen Biografien geben das nicht her.
Es ist so, wie es immer ist, wenn man in der Misere steckt. Mit einmal zeigt sich ein Hoffnungschimmer am Horizont und ein Ausweg, der aber genauso bald wieder in Luft zerstiebt. Du bildest dir ein, dass jemand es gut mit dir meint, bloß weil er mit dir geschlafen hat. Wenn du zu ihm gehst, weil du Hilfe brauchst, triffst du auf einen Fremden, und es stellt sich außerdem noch raus, dass er seit langem jemand anderen liebt, den er bloß eifersüchtig machen wollte.

Eine Weile sieht alles ganz gut aus, dann wird man zu leichtsinnig, wofür man postwendend bestraft wird.

Noch verstörender als seine Sachen fand ich einen anderen Roman**, der mal als Lesung in Fortsetzungen bei Bayern 2 lief. Er begann mit: “Was tust du hier mein Junge?” “Nichts.” Es*** war genial, aber so dermaßen ärgerlich, dass ich mir vornahm auf die letzte Folge, die, wie ich ahnte, schlecht ausgehen würde, zu verzichten, um mich nicht noch mehr zu deprimieren.
Aber dieser Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Eines Sonntagnachmittags, als ich gelangweilt am Radioknopf drehte, erwischte mich der letzte Teil doch noch, den ich eigentlich auslassen wollte. Jetzt gab ich mich geschlagen, schickte mich drein und versaute mir die Laune gründlich. Ich bemerkte unliebsame Ähnlichkeiten zwischen mir und der Hauptfigur.

Wenn wir schon bei ärgerlichen Büchern sind, da kann ich gleich noch eins draufsetzen. Was ich diesen Kater gehasst habe. Und dann ist noch jemand auf dem Hexenbesen geflogen. Da war bei mir eine Grenze erreicht. Ein Kumpel hatte sich da ebenfalls tapfer durchgekämpft: “Das mit Stalin lese ich da nicht raus”, sagte er. Genau so geht es mir. Vielleicht sind wir zu dumm dazu.
„In der Frühlingshitze, kurz vor Sonnenuntergang erschienen am Patriarchenteich zwei B...“, fängt dieses weltbekannte Werk an, an dem keiner vorbeikommt. Es**** lief ebenfalls mal als Hörbuch im Radio in zehn Teilen.


Aber wieder zurück zu unserem Held.
Seine Verwandten waren alle im Strumpfwirkerhandwerk tätig. Auch er sollte diesen Beruf erlernen. Er stellte sich aber zu ungeschickt an.
Seine Urgroßeltern stammten aus Mähren. Wo ist das eigentlich, fragte ich mich. Das war bei uns in Geografie nie erwähnt worden. Auch Ostpreußen und Westpreußen, woher die ganzen Vertriebenen kamen, sagten mir nichts. Schlesien, wo die Frau her war, die mich großgezogen hat, da es bei uns keine Kinderkrippe gab, ebensowenig. Das hatten wir in Erdkunde nicht behandelt.

Sein Urgroßmutter hatte mit achtunddreißig eigentlich schon die Hoffnung aufgegeben, jemals zu heiraten. Aber sie hatte sich was angespart. Das sah auch ein einundzwanzigjähriger Wanderbursche und setzte sich ins gemachte Nest. Dabei übersah er auch gern den Silberblick seiner Angetrauten.
Trotz des Altersunterschiedes entsprossen der Verbindung noch fünf Kinder, darunter auch sein Großvater. Einer ging nach Amerika und wurde der Urahn eines der Begründer von Microsoft. Eine Tochter heiratete den Filmpionier... Aber wieder zu unserem Helden zurück.

Wo waren wir stehengeblieben, ach ja bei den Großeltern. Machen wir´s uns einfach. Die hatten eine Strumpfwirkerei und seine Eltern auch.
Wie seine Eltern sich kennengelernt haben, lasse ich hier aus, denn es war ganz einfach. Da wurde nicht lange nachgefragt, sondern ihre Familie stellte beide vor vollendete Tatsachen, und sie wurden verheiratet.

Ich frage mich, wie haben die Frauen das damals gemacht. Die musste ihrem Angetrauten ja nicht nur den Haushalt führen, sondern... Früher dachte ich immer, ich bin unnormal. Dann habe ich bei Simone de Beauvoir gelesen, dass es eine Besonderheit der Physiologie der Frau ist, dass sie den Mann lieben muss, um beim Sex etwas zu fühlen. Das trifft nicht auf alle zu, aber auf die meisten. Aber wenn sie ihn liebt, bleibt sie an ihn gebunden. Ich habe mir immer versucht vorzustellen, wie es ist als Prostituierte zu arbeiten und mit Männer zu schlafen, von denen ich nichts will.

Manche Feministinnen halten die Ehe ja nur für eine andere Spielart der Prostitution. „Was ist eigentlich besser, das eine oder das andere“?, frage ich mich und entscheide mich für das zweite. Da hat man den Freier jedenfalls nach einer Weile wieder vom Hals. Aber der Status einer verheirateten Frau ist natürlich ungleich günstiger als der von einer Prostituierten, die ja immer noch am untersten Ende der Gesellschaft angesiedelt ist.

Das waren damals die blanken Zweckbeziehungen. Ich frage mich manchmal, ob das heute anders ist.
Ein Anbahnungsversuch zwischen einem Paar und ein Bewerbungsgespräch folgen ja oft ähnlichen Regeln. Auch hier geht es darum die Eignung des „Bewerbers“ festzustellen.
Mit geschickten Fangfragen soll mein IQ erkundet werden.
Am liebsten hätten manche noch, dass ich ein paar Denkaufgaben löse. Ihr konzentrierter Blick gleitet wie ein Sonograph über mich hin und versucht Schwachstellen zu finden. Wenn er mich dann bei einem Fehler erwischt, tritt derselbe triumphierende Ausdruck in seine Augen, wie man ihn bei jemanden antrift, der gerade unverhofft nach langer Suche im Wald auf einen Steinpilz gestoßen ist.

Er ist Ingenieur, sein Vater Augenarzt, und seine Kinder werden nachher alle Friseure und Hausmeister, wenn sie meine Erbsubstanz mitkriegen. Aber vielleicht wäre es ja gar nicht meine DNA gewesen, die Schaden verursacht hätte sondern die von einer gewissen Ahnin Mathilda, genannt die Schöne, die so fantastisch aussah, so dass ein Vorfahre darüber hinwegsah, dass sie nur die Volksschule absolviert hatte und immer die Fälle durcheinanderbrachte, auch wenn ihm das peinlich war, wenn er seine Wissenschaftlerkollegen bei sich zum Essen sah.

Sie sollten lieber mal fragen, ob ich sie eigentlich ...Ich möchte hier dieses so oft mißbrauchte Wort vermeiden. Mit keinem anderen ist so viel Schindluder getrieben worden wie mit ihm. Nirgendwo, auch im geschäftlichen nicht, wird so viel getäuscht, wobei alle immer so tun, als wenn das nicht so wäre.

Am liebsten stellen sie natürlich die Arbeitskräfte ein, die jünger und frischer sind und nicht verbraucht wie ich.
Wenn man in einen Laden für gebrauchte Waschmaschinen geht, nimmt man natürlich die „Neueste“. Ich habe schon manchmal den Eindruck gehabt, dass ich für manche auch bloß eine gebrauchte Waschmaschine war, die sie nur durch ein jüngeres Modell ersetzten.

Mir ist mal aufgefallen, dass Männer, denen ich gefalle, mich für sehr naiv halten. Andere dagegen, die lieber mit einer Cobra das Lager teilen würden als mit mir, meinen stattdessen Schlauheit und Gerissenheit zu erblicken. Schon merkwürdig.


Sein Vater war aber nebenbei immer schon ein Schöngeist, was auch immer man darunter versteht. Zu allen Familienanlässen schrieb er Gedichte, die er dann den an der Festtafel Versammelten vortrug, was jedes Mal auf große Begeisterung stieß. Da deutete sich schon die Begabung an, die sein Sohn auch hatte, natürlich ungleich schwächer ausgeprägt als bei seinem Sohn.

Wie weiter? Ach ja. Mit der Strumpfwirkerei war es nichts geworden in der dritten Generation. Nachdem er sich mit der Nadel durch die Hand genäht hatte, hieß die Lösung Gymnasium. Sein Zeugnis ist noch erhalten. In allen Fächern, außer Deutsch, hatte er ein Ungenügend. Scheinbar wollte er mit nichts seinen Geist von seiner zukünftigen Bestimmung ablenken lassen. Sein Gehirn weigerte sich Informationen aufzunehmen, von denen er wusste, dass sie keinen Nutzen für ihn haben könnten.

- Viele hatten in der DDR ein Aversion gegen den Russischunterricht. Irgendwie ahnten sie, dass sie damit nichts anfangen können. Mit meinem Nachbarn hatte ich eine unausgesprochene Übereinkunft zu laufen. “Du fäßt mich nicht an. Dafür lasse ich dich abschreiben”, und schob ihm bei Klassenarbeiten immer großzügig meine Hefte rüber. Das rettete ihn, besonders in Russisch, vor dem Sitzenbleiben. -
“Thomas Mann ist ja sogar vier Mal sitzengeblieben”, fällt mir da gerade ein.


Aber wir interessieren uns hier für den Bildungsweg unserer Hauptperson. Seinen Abiaufsatz kann man sogar noch nachlesen. Es ist schon merkwürdige, dass in so vielen Kriegen so ein Haufen Papiere überlebt hat, trotz Bomben und Brandschatzungen. Die Dissertation von Goethe kann man bestimmt auch noch lesen.
Wenn man sich mit der Sekretärin von seiner Schule, die früher Kaiser Wilhelm Gymnasium hieß, gutstellt, dann rückt sie die Handynummer vom Physiklehrer raus, der das Archiv unter sich hat.

Wenn man einen Termin vereinbart, schließt er sein Refugium auf. "Früher waren hier nur Karteikästen. Heute ist alles auf Festplatte", sagt er stolz. In wenigen Minuten hat er mit Hilfe seines selbstentwickelten Systems, das kein anderer versteht, den Abiaufsatz unseres Helden gefunden, zieht ihn aus einem großen Stapel vergilbtem Papiers heraus und reicht ihn rüber. Er hat das Thema "Unser Kaiser Wilhelm als Friedensstifter und Brückenbauer zwischen den Völkern". Das zweite Thema das zur Auswahl stand wäre: "Zeigen Sie Parallelen zwischen Wilhelm dem Zweiten, Hermann dem Cherusker und Jesus auf" gewesen.


Warum stellen sich viele Schriftsteller, wenn sie über ihre Kindheit schreiben, eigentlich immer als hochsensible, lebensunfähige Versagertypen dar, die sowieso dem Untergang geweiht sind, sehr begabt für schöne Künste, die aber niemand braucht - Beispiel Thomas Mann alias Hanno Buddenbrock und Hermann Hesse als sein alter ego in “Unterm Rad” - und lassen sie vorzeitig enden. Scheinbar haben sie insgeheim immer die sogenannten Machertypen angebetet, die ganz anders waren als sie.
Heute hängen an ihrem Wohnhaus Tafeln und die Schule, die sie gehasst hatten, und deren Lehrer nichts in ihnen gesehen haben und von ihrem Talent nichts ahnten, trägt ihren Namen.

In Wirklichkeit sind sie nicht untergegangen, sondern haben Nobelpreise abgesahnt, und ihre Sachen sind in alle Sprachen übersetzt worden. Ich frag mich deshalb, was sie damit rüberbringen wollen. Viele, die sich in diesen traumtänzerischen Kids wiedererkennen, nehmen das für bare Münze und sehen sich dem Untergang geweiht. Wollen sie damit den schriftstellerischen Eleven und damit auch zukünftigen Konkurrenten den Wind aus den Segeln nehmen?

Apropos Schule. Haben die Lehrer eigentlich soviel Einfluss auf die Entwicklung von einem Kind? Bisher dachte ich immer das Gegenteil. Bei einem gewissen Adolf H. hatte ich aber doch den Gedanken: “Hätte da nicht ein Wunder geschehen können. Hätte sich nicht ein verständnisvoller Lehrer seiner annehmen können und ihm sein Ohr leihen können. Er war wohl hochbegabt. Wieviel wäre der Welt erspart worden?

“Hätten sie ihn doch bloß genommen”, rief eine jüdische Frau mal spontan aus, als sie in einem Film über Wien vor genau der Kunstschule interviewt wurde, an der Adolf sich bewarb, aber abgelehnt wurde.

Ob da wirklich war dran ist? Ob das den zweiten Weltkrieg und den Holocaust verhindert hätte, wenn irgendein Professor seinen guten Tag gehabt hätte und bei sich dachte: “Na ja, man könnte ein Auge zudrücken, und es mit ihm versuchen. Der Junge sieht so traurig aus”. Vielleicht hätte ihn, wenn aus ihm ein wohlbestallter Architekt geworden wäre, ja seine große Jugendliebe Stefanie, die von ihrem Glück aber gar nichts wusste, geheiratet. Als ich darüber las, bekam ein Massenmörder wie er mit einem Mal menschliche Seiten.

Das mit seiner platonischen Liebe entnahm ich den Erinnerungen von August Kubizek, der ihn lange Zeit bevor er der Führer wurde, kannte. Damals war er ein ganz normaler Jugendlicher mit Interesse für Musik und Burgen, zu denen sie als Schüler Wanderungen unternahmen. Keiner konnte ahnen, was daraus einmal wird.

Auch die Gestalt von Horst Wessel, nach dem früher mein Stadtteil Friedrichshain benannt war, und der nicht weit von mir entfernt, in der Großen Frankfurter Straße, der heutigen Karl-Marx-Allee, gelebt hat, erwachte erst zum Leben, als ich las, dass er, ein Pfarrerssohn, eine ehemalige Prostituierte heiraten wollte, um sie aus ihrem Milieu zu befreien. Er war nicht mehr nur das personifizierte Böse sondern ein Jugendlicher, dessen Idealismus fehlgeleitet war.

Man könnte jetzt einwenden, dass Adolf H. nicht der einzige Faschist war.

Ja, aber er war der Führer, der über manipulative Fähigkeiten verfügte und die Massen zu begeistern wusste. Er verband große Intelligenz mit großer Skrupellosigkeit. Ohne ihn wäre wahrscheinlich alles weit glimpflicher ausgefallen. Aber sie sind ihm alle auf den Leim gegangen.
Irgendwas muss er an sich gehabt haben.

Seitdem habe ich Misstrauen gegen Leute, die Autorität ausstrahlen, eine Eigenschaft, die auf viele sehr anziehend wirkt. Leider sind oft die negativeren Charaktere die stärkeren, eher zur Gutmütigkeit neigende werden beiseite gedrängt.
Schwache, die sonst Außenseiter sind, sehnen sich nach einer Leaderfigur, der sie dann bedenkenlos folgen. Sogar in der Blues-und Hippieszene im Osten setzten sich die durch und standen in hohem Ansehen, die ein starkes Ich hatten, und sich besser durchsetzen konnten, oft ist es aber auch so, dass diese nicht so von Selbstzweifeln angekrankt sind und deshalb nach außen hin stabiler wirken.

Sie waren aber absolut nicht die besten, oft sogar ganz im Gegenteil, und leicht beeinflussbare Charaktere - viele, die in sogenannten Szenen oder auch in Sekten eine Ersatzfamilie suchen, sind ja keine starken Persönlichkeiten und versuchen, um den Schutz der Gruppe nicht zu verlieren, sich übermäßig anzupassen - verfielen ihnen regelrecht und folgten ihnen bedenkenlos. Anders wird das damals auch nicht gewesen sein.

Wo hier gerade soviel vom Einfluss der Erziehung auf die Entwicklung Heranwachsender die Rede ist, war da nicht irgend etwas mit Goethe und Karl August von Sachsen-Weimar? Er wollte ihn zu einem aufgeklärten Monarchen erziehen. Das ist gründlich schiefgegangen. Karl August ist genauso ein Arsch wie die anderen vor ihm geworden, die das Geld ihrer Untertanen verprassten, ihre Landeskinder nach Amerika verkauften und alles flachlegten, was nicht bis drei auf dem Baum war.

Ich geh da nicht mit, wenn Biografen an solchen Typen wie ihm, menschliche Seiten herausstreichen, wie eine unerwiderte Liebe, die er mal durchgemacht hatte, das er Gedichte schrieb, oder wie sehr er unter seinem herrischen Vater litt.
Tatsache bleibt ja, dass ihn das nicht daran hinderte seine Untertanten sinnlos in Kriegen zu opfern und das letzte über sinnlose Steuern aus ihnen herauszupressen.
Das er in seiner Jugend mal jemanden wirklich geliebt hatte, machte ihn nicht besser. Im Gegenteil.
Nachdem solche Leute sich ihre weiche Seite abgeschminkt hatten, wurden sie sogar noch härter als ihre Väter, wie sich auch an Friedrich dem Großen zeigte.

Das Bestreben der Lehrer und auch meiner Mutter, die dieser Profession auch nachging, war, die ihnen übergebenen zu angepassten, unauffälligen Bürgern zu erziehen. Solche Ausreißer von der Norm wie Heine oder Thomas Mann suchten sie eher zu verhindern. Sie hatten sich das Ziel gesetzt, unabhängige Geister auf Linie zu bringen. Zur Not auch mit Gewalt über die Werkhöfe.

Meine Mutter konnte sich immer nicht einklinken vor lauter Begeisterung, wenn sie später mal einem Schüler von ihr begegnete und der zu einem Schlosser mit einer Frau, einem Haus und zwei Kindern geworden war. “Er hat sich gut entwickelt”, erzählte sie mir. Das hielt sie für das ultimative Lebensglück. Rein äußerlich sah es jedenfalls so aus.
„Warum muss man eigentlich in einer Tour zufrieden sein? Ich will gar nicht zufrieden sein“, geht mir durch den Kopf und dann noch: „In der Unruhe liegt die Kraft“.
Es erschien ihr als ein gelungenes Leben, wenn es jemandem geschafft hatte, sich gut anzupassen. "Ständig eckst du an", warf sie mir vor. "Das musst du dir abgewöhnen." Gegen solche Leute verspürte sie regelrecht Hass. Auch gegen ihre eigene Tochter. Oder gegen die erst recht. Das Wort "anecken" sprach sie regelrecht angeekelt aus. "Du bist ein komisches Mädchen", sagte sie oft zu mir und sah mich misstrauisch an.

Besonders bei den Mädchen, die sie unterrichtete, schwebte ihr vor, dass sie ihre ganze Erfüllung in einem Dasein finden, bei dem die Hauptsache war: Geld in einem Brotjob verdienen, Kinder machen, großziehen, später Enkelkinderwiegen und ihr Heil in der Anpassung suchen.
Man sollte bescheiden sein und nicht viel von sich hermachen, damit sie einen mochten. Zum Glück ist wenigstens Simone de Beauvoir nicht diesem vorgegebenen Way of life gefolgt, sonst hätten wir “Sitte und Sexus der Frau” nicht.


Dafür hatte derjenige, um den es hier geht, aber schon mit siebzehn in der Lokalzeitung seine ersten Gedichte rausgebracht, und sie stießen auf Resonanz bei einem bekannten Lebemann, dem man eine Neigung zum eigenen Geschlecht nachsagte.
Es handelt sich um Heinrich Graf von Habach zu Trabach. Dieser mondäne Herr empfing ihn im Morgenrock und bot ihm zuerst ein Prise Kokain an. Herr von Habach zu Trabach ließ seinen ersten Gedichtband auf eigene Kosten herausbringen. Böse Zungen behaupten: zwischen den beiden lief was.
Nur zwanzig Exemplare wurden verkauft, davon drei an seine Oma.

Jetzt, wo er veröffentlich worden war, trug er seine Nase hoch. Da ging es ihm wie einem berühmten amerikanischen Musiker. Das war die Zeit in den 60zigern, als langhaarige Studenten dem spießigen Country und Folk neues Leben einhauchten, auch wenn das in manchem Truckstop nicht so gut ankam.
Von ihm habe ich natürlich auch die Biographie gelesen. In der Schule ist er noch verspottet wegen deiner schiefen Schulter, die von einer Kinderlähmung herrührte. Bescheiden hat er später mit seiner Gitarre in der Hand an die Tür von einem Club geklopft: “Laßt mich spielen”. Der Chef musterte verächtlich den zerzausten Loosertypen. Wenn dann so jemand Erfolg hat, dreht er frei.


Aus seinen expressionistischen Gedichten wurde ich nicht schlau. „Ein Gedicht ist ein Haufen Staub”, sagt in der „Glasglocke“ von Sylvia Plath jemand. Da kann man dagegenhalten, dass die Leute, die vor hundertachtzig Jahren gelebt haben, so alt ist es nämlich, schon zu Staub zerfallen sind, aber unser “Wintermärchen” haben wir immer noch.

In wie vielen rufen die Worte: “Denk ich an Deutschland in der Nacht”, unangenehme Erinnerungen hervor, an Schulstunden, in denen sich die Langeweile bis zur Ekstase steigerte, wo man missmutig etwas lernte, von dem man wusste, dass man es nie brauchen würde, und das einem im Leben nicht weiterhelfen würde.

Ich habe mich mit Heine erst ausgesöhnt, als ich einmal, morgens, als ich gerade von einer Fete kam, zum runterkommen den Fernseher anmachte, und in einer Sendung dort verschiedene Prominente, darunter Udo Lindenberg, das “Wintermärchen” lasen. Biermann war übrigens der beste.
Da verstand ich das erste Mal, worum es eigentlich ging. Die letzten Worte aus „Enfant Perdu“, auch von selbigen Autor: “Meine Waffen sind nicht gebrochen, nur mein Herze brach”, das sie uns gezwungen hatten auswendig zulernen, gehen mir jetzt merkwürdigerweise öfter mal durch den Kopf. Aber mit vierzehn war mir das nichts.


Nachdem unser Held bei einer sogenannten Presse doch noch das Abitur abgelegt hatte, ging er zum Studium nach Berlin. Ich könnte ihn ja auch irgendwo anders hinschicken, aber in Berlin kenne ich mich aus.
Sein erste Studentenbude befand sich übrigens in der Nähe der Warschauer Brücke, und ich komme an dem Haus immer vorbei, wenn ich zur Arbeit gehe. Bis vor kurzem war da der einzige vegane Supermarkt in Friedrichshain - ich war da aber noch nie drin, da mir einmal eine vegane Gemüsepfanne auf den Magen geschlagen ist - bis die Kette Insolvenz anmelden musste. So einen Laden hätte er gar nicht gebraucht, denn vor hundertdreizehn Jahren aßen eigentlich alle zwar nicht vegan aber bio, da es keinen künstlichen Dünger gab.

Die Ecke hieß früher übrigens Memeler Straße. Wo liegt das eigentlich? Dieser Ort ist mir ein Begriff im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, für den Erzherzorg Franz Ferdinand bloß der Anlass und nicht der Grund war. So lernten wir es in Geschichte.
Wo liegt Lüttich eigentlich, über dessen Fall sie sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs so gefreut haben? Das stand jedenfalls in seinem autobiografischen Roman. Gibt es das überhaupt heute noch?

War da nicht etwas mit Hindenburg und Ludendorff? „Man sah der mal gut aus“, habe ich über ersteren gedacht, als ich abends im Lesesaal von der Stadtbibliothek in der Breiten Straße saß und in einem Bildband über die Kaiserzeit blätterte. Das Bild von ihm nahm eine ganze Doppelseite in dem Buch ein, hochkant.
Ich musste ein Referat für Marxismus/Leninismus vorbereiten. War bei uns im Osten in jedem Studium Pflichtfach.
Vielleicht wird Jugend überschätzt. Wer hätte gedacht, dass aus so einem hübschen Burschen später jemand wird, der Millionen Menschenleben auf den Schlachtfeldern ohne Skrupel opfert.

Er selber ist im hohen Alter ruhig im Bett gestorben, umgeben von seinen Lieben und nicht in Verdun im Schlamm wie seine Soldaten. „Mit elf Jahren ist er in die Kadettenanstalt eingetreten, war dem Drill und wahrscheinlich auch den dort üblichen sexuellen Übergriffen ausgesetzt, was ihn später hart und mitleidslos gegenüber Untergebenen werden ließ“, lese ich im Text dazu.


Er, um den es geht, ließ sich für die Jurisprudenz immatrikulieren. Aber bald verschwanden die Gesetzestexte von seinem Tisch und stattdessen konnte man in den aufgeschlagenen Büchern Zeilen wie diese lesen: „Daß schließlich die transscendentale Ästhetik nicht mehr als diese zwei Elemente, nämlich Raum und Zeit, enthalten könne, ist daraus klar, weil alle andre zur Sinnlichkeit gehörige Begriffe, selbst der der Bewegung, welcher beide Stücke vereinigt, etwas Empirisches voraussetzen.“– Immanuel Kant:Kritik der reinen Vernunft

„Was heißt das eigentlich?“, frage ich mich. Ich kenne bloß von Tocotronik: „Pure Vernunft darf niemals siegen, wir brauchen dringend neue Lügen...die uns vor stumpfer Wahrheit warnen.“

Aber Leute mit einem Geist, viel größer als der meine, hatten auch ihre Schwierigkeiten: “...wage ich mich an dieses Nervensaftverzehrende Werk, und ich bin nicht ganz ohne Hoffnung, es in diesem Leben noch ganz durchdenken zu können.“ – Moses Mendelssohn, Brief an Kant vom 10. April 1783

Der Ärmste musste noch, als er Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nach Berlin zog, durch ein spezielles Tor für Juden, das Rosenthaler Tor. Davor wartete er so lange, bis jemand innerhalb der Mauern für ihn eine Bürgschaft übernahm.
Da erfahre ich ja auch endlich Mal, dass das Brandenburger Tor früher ein Stadttor war. Obwohl es eigentlich naheliegend ist, bin ich darauf noch gar nicht gekommen. Dort hätten sie Moses aber nicht durchgelassen. Ich habe eine Freundin, die aus Brandenburg kommt. Wenn ich durch das Tor marschiere immer der Nase nach, lange ich dann irgendwann bei ihr an?


Der, um den es geht soll, promovierte über die Befreiungskriege. „Meinetwegen hätten sie uns gar nicht befreien brauchen, dann wären wir eben alle Franzosen geworden, die hunderttausenden, für die sie das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig gebaut haben, wären am Leben geblieben und der Zweite Weltkrieg wäre uns erspart geblieben“, geht mir durch den Kopf. Außerdem waren unter Napoleon die Juden gleichgestellt.
Nach der Vertreibung der Franzosen sind bloß wieder die alten Beamten auf ihre Posten zurückgekommen, und alles ging weiter wie gehabt. Das fiel mir auf, als ich eine Lebensbeschreibung von Charlotte Buff las, dieselbige, die dem Briefeverfasser in "Die Leiden des jungen Werther" den Kopf verdreht hat, und deren Mann in der Zeit, wo die Franzosen Deutschland besetzt hielten, Beamter in leitender Stellung war.


Als er seinen ersten Roman ablieferte, sagte sein Verleger zu ihm, dass er ihn um die Hälfte kürzen soll. Er weigerte sich entschieden. Was sich letztendlich als richtig herausstellen sollte. Ich glaube zum Schreiben muss man irgendwie irre sein, denn es besteht ja die, durch nichts gestützte, Idee, dass das irgendjemand interessiert.

Nachdem er von seiner Kokainsucht geheilt worden war, wandte er sich dem Kommunismus zu und heiratete sogar, obwohl man ihm nachsagte, dass...

Jetzt las er Bücher, in denen Sachen wie diese drinstanden: “Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.” Karl Marx “Kritik der politischen Ökonomie”

Genau das umgekehrte habe ich mal über einen brasilianischer Schriftsteller gelesen. Er hatte am Anfang politische Werke geschrieben. Da war er Kommunist. Später dagegen schrieb er seine sehr sinnlich angehauchten Romane, die ich ich mochte.
Ich fand es cool, dass alle nur das eine im Kopf hatten. “Alle Kämpfer für die Gerechtigkeit haben nur ewig im Knast gesessen”, dachte ich.

Als ich noch ein Kind war, habe ich mal einen Film über einen freundlichen Mann gesehen, der für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg einen Friedensvertrag vereinbarte. Zum Dank haben sie ihn ins Jenseits befördert.
Natürlich war es Walther Rathenau. Er war auch als Schriftsteller aktiv. Ich verstehe gar nicht, warum er vor 100 Jahren in einem Essay schon so frustriert über das zugebaute Berlin geschimpft hat. Da sollte er heute mal vorbeikommen, da würde er sich aber wundern.
Er wurde aber schon 1922 von Mitgliedern der Organisation Konsul in seinem Wagen im Grunewald erschossen, nachdem er alle Warnungen in den Wind schlug und ruht mit einem Loch im Kopf in der Wuhlheide in seiner großen Familiengruft, schon seit mehr als hundert Jahren.
Als wenn sie einen solche Filmen davon abhalten sollen, sich zu wehren und zu seiner Meinung zu stehen. Was ist denn mit den Staatsanwälten, die gegen die Mafia gekämpft haben. Das will doch keiner. Ist es vielleicht doch besser seine Fahne nach dem Wind zu drehen?


Aber wir wollen uns wieder unserem Helden zuwenden. Dreiunddreißig gelang ihm die Flucht nach Moskau. Er wohnte im Hotel Lux. Wie es ihm als einem der wenigen gelang, das Exil zu überleben, siebzig Prozent der geflüchteten deutschen Nazigegner landeten in Workuta und Katorga oder wurden gleich umgebracht, darüber schwieg er sein Leben lang. In der sogenannten “Tauwetterperiode” als die NKGB-Akten geöffnet wurden, fand sich aber unter so manchem Protokoll mit Denunziationen sein Name.

Er schrieb die Nationalhymne, die immer erklang, wenn unsere Sportler auf dem Siegertreppchen standen - während die Westdeutschen mit langen Gesichtern daneben standen - und die Fahnen hochgezogen wurden. Ich wunderte mich, dass auf der Fahne neben unserer Hammer und Sichel im Ährenkranz fehlten, weshalb sie mir nackt vorkam.

Er wurde seinem Vater, den er gehasst hatte, immer ähnlicher. In dem Büro, dass sie ihm gegeben hatten, als er Mininster wurde, ließ er eine Sekretärin feuern, weil sie nichts von ihm wollte.
Von dem Jungen, die Jahrhundertwende auf dem Balkon in München mit den Worten „Alles muss anders werden“, begrüßt hatte und dem Dichter*, der mit Anfang Zwanzig über die Stadt, in der er nun als Minister wieder lebte, einmal fieserweise schrieb: „Berlin! Du weißer Großstadtspinnenungeheuer! ...In dessen Brust die Brut der Fieber haust!“, war nichts mehr übrig.

Na ja. Wenigstens schrieb er nicht so was wie das hier. Übrigens auch ein Berlin-Roman: „Sie fing am ganzen Leibe zu zittern an und wurde purpurrot.

Und dann hatte er sie unters Kinn gefaßt und sah ihr in die Augen. Die standen ganz voller Thränen.

»Else,« sagte er noch einmal. ...

Es war sehr still. – Und sie küßten sich.“
Carl Busse Jugendstürme

Ist frei erfunden und angelehnt an das Leben von Kafka, Johannes R. Becher, Adolf Hitler, Neil Young, Horst Wessel, Jorge Amado, Karl Marx, Moses Mendelssohn, Goethe, Thomas Mann, Hindenburg


*Abschied: Johannes R. Becher, Das Gedicht von ihm unten im Text heißt Berlin.
**Kafka: Das Schloß
***Elias Canetti: Die Blendung
****Bulgakow: Der Meister und Margaritha
 
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petrasmiles

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Liebe Friedrichshainerin,

da scheint am Anfang etwas zu fehlen - ich finde den Text erst einmal interessant, aber ich finde den Einstieg nicht.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo,
habe die Überschrift "Auf der Großhesseloher Brücke" falsch geschrieben, wird Ortskundigen schon aufgefallen sein. Wie berichtigt man das?
Gruß Friedrichshainerin
 
Vermutlich geht Titelkorrektur nur über die Redaktion, geschätzte Kollegin aus Friedrichshain. Der Lapsus war mir sofort aufgefallen, wollte darauf aufmerksam machen, las dann aber im Text den korrekten Brückennamen und verzichtete auf den altklugen Hinweis.

Ja, ich habe schon zweimal versucht, den Text ganz zu erfassen und geistig zu verarbeiten, ist mir noch nicht recht gelungen. Ehrlich, ich traue mir momentan keine Beurteilung zu. Bei dieser Struktur könnte ein anderes Layout hilfreich sein, d.h. die unterschiedlichen Ebenen verdeutlichen und gegeneinander abgrenzen. Hier wird etwas schematisch mit zahlreichen großen und extragroßen Absätzen gegliedert. Evtl. noch größere Textblöcke bauen und diese wiederum im Wechsel mit großen Absätzen und auch Textteilen in Kursiv? Ich würde das bei einem eigenen Text auch erst lang hin und her ausprobieren. Ich kann jetzt keinen Rat geben, denke nur, man könnte das mit ausgeklügelterem Schriftbild noch besser machen.

Ich weiß auch nicht, ob der Ansatz, die Idee dahinter wirklich funktionieren kann. Ist das nicht ein literarischer Wolpertinger? (Das könnte man dann auch satirisch machen.) Über den einen Buchtitel bin ich ja bald auf Kafka gestoßen und das hat mich dann bei dem Vorausgegangenen erst mal irritiert. Und das Geschmacksurteil über den Bulgakow-Roman teile ich nicht. Idee: Die Zitate gar nicht am Schluss kenntlich machen, sondern als eine Art immanentes Literaturrätsel ohne Auflösung im Text belassen?

Nebenbei: Da sind noch mehr Schreib- und Tippfehler. Bitte also z. B. Memeler Straße, Simone de Beauvoir und Der Meister und Margarita.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Hallo Petra, Hallo Arno,
ich hoffe, dadurch, dass ich drei Punkte vor das erste Wort im Text gesetzt habe, kommt heraus, dass die Überschrift "Auf der Großhesseloher Brücke" der Anfang des ersten Satzes ist. Ich wollte diese Brücke unbedingt mit in die Überschrift nehmen, warum weiß ich gar nicht, obwohl sie eigentlich zur Handlung gar nichts beiträgt.

Das ist eine erfundene Biografie, die aber viel authentisches Material über das Leben von Johannes R. Becher enthält. In dem Haus in der Marchlewskistraße, früher Memeler Straße, in der Nähe arbeite ich, hat er 1911 als Student wirklich gewohnt.
Ich wurde auf ihn aufmerksam, weil ich als Jugendliche, so mit 12, 13, bevor er verboten -warum eigentlich - wurde in der DDR, mal den Film nach seinem autobiographischen Roman gesehen habe.
Im Gedächtnis geblieben sind mir, außer der geheimnisvollen Liebesgeschichte, noch die Großhesseloher Brücke und die Stadt Lüttich. Ich habe wirklich nach Franziska Fuß - Fanny - geforscht aber leider nicht viel gefunden. Ist ja klar, dass mich ein junges Mädchen, mit dem ich mich identifizieren konnte, damals mehr interessierte.

Hier liegt auch eine dicke Biografie über ihn. Habe ich aber nur überflogen. Um so intensiver habe ich alles über Horst Wessel gelesen. Auch hier hat mich die Identität seiner Freundin sehr interessiert, Erna Jaenichen. Und außerdem die ganzen Verhältnisse in den Zuhälterkreisen, auch nicht weit von mir, in der Nähe des Alex, wo die Volksbühne ist, da ist sie auf den Strich gegangen. Das war früher eine ganz heiße Gegend, Verbrecherhochburg. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Heute sind da haufenweise Szenecafés und zu DDR-Zeiten war es dort völlig wie ausgestorben.

Frauen interessieren sich wohl für Frauen, weil man sich da vergleichen kann.

Es stimmt schon, dass es vielleicht nicht am günstigsten ist, wenn ich die Herkunft der Zitate an das Ende setze. Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, das einfach wegzulassen. Ich denke, dass es nicht erlaubt ist, ohne Angabe von Autoren zu zitieren.

Den "Meister und Margarita" habe ich tapfer als Hörbuch angehört, alle zehn Teile. Gefällt mir aber wirklich nicht. Elias Canettis "Blendung" und Kafkas "Schloß" um so mehr, auch wenn beide keine gute Laune aufkommen lassen.

Auch das mit der kursiven Schreibweise war angedacht, ist aber verworfen worden. Schon vorstellbar, dass der Text viele total irritiert, weil es quer durch den Gemüsegarten geht. Da kommt wenigstens keine Langeweile auf. Ich habe einfach alles reingehauen, was mir gerade in den Kopf gekommen ist.
Ich dachte mir, wenn ich schon einen Nazi mit reinnehme, darf auch ein Jude nicht fehlen. So habe ich erwähnt, was ich mal in der Biografie von Heinz Knobloch über ihn gelesen habe, dass Moses ein paar Wochen vor dem Berliner Stadttor für Juden ausharren musste, bis er einen Bürgen innerhalb der Mauern gefunden hatte. Merkwürdige Zeiten.
Gruß Friedrichshainerin
 

petrasmiles

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Sorry, Friedrichshainerin, das habe ich nicht geschnallt. Dann würde aber meines Erachtens auch an die Betreffzeile hinten drei Punkte hingehören. Ich mache das manchmal bei E-Mails so.
Dann werde ich wohl nochmal von vorne anfangen müssen.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

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Liebe Friedrichshainerin,

ich habe es noch einmal versucht, aber es hat mir dann nicht gefallen - der Flickenteppich ist zu groß. Gerade anfangs holpert es gewaltig zwischen Zitaten und 'Erzählstimme' - die mir ein bisschen zu flapsig rüberkommt - und die Zitate zu wenig aussagekräftig, was auch daran liegen kann, dass ich z.B. weder mit Werk noch Vita von Becher vertraut bin.

Ich lese da auch viel Überflüssiges - oder Sachen, wo ich mich frage, das meint sie doch jetzt nicht im Ernst - und das wird es wohl auch sein, was mich von dem Text abhält, die Frage, was oder wen Du in Deinem Text ernst nimmst.
Das klingt jetzt tiefgründiger, als es gemeint ist - und ich will Dir auch gar nicht zu nahe treten. Wenn es Dir Spaß gemacht hat, das zu schreiben, dann war es ja schon ein voller Erfolg!

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,
natürlich habe ich vieles nicht ernst gemeint. Wahrscheinlich hätte die Mockumentory besser unter die Rubrik Satire gepasst. Es ist eine erfundene Biografie, mit Versatzstücken aus den Lebensläufen verschiedener historischer Persönlichkeiten und Dichter. Locker habe ich mich an Johannes R. Becher orientiert.
Gruß Friedrichshainerin
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Friedrichshainerin,

vielleicht hättest Du das zitierte und irgendwie doch nicht zitierte einfach weglassen sollen und aus Deiner Erinnerung einen Text daraus machen können, der dann auch eine einheitliche Erzählstimme gehabt hätte.
Ja, und mit der Rubrik hast Du vielleicht auch recht.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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