Arno Abendschön
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Nur wenige Alltagssituationen scheinen so intim wie die Arbeit des Friseurs am Kopf seines Kunden. Der großen körperlichen Nähe entspricht jedoch keine innere der Beteiligten. Um die Pseudo-Intimität erträglich zu machen, beginnt der Friseur oft ein Gespräch mit dem Kunden. Zeigt der sich maulfaul, redet Figaro von eigenen Angelegenheiten. Er handhabt dann nicht mehr nur Schere, Kamm usw., sondern führt mit Worten, Tonfall, Gebärden ein kleines Stück auf. Er ist gleichzeitig Autor, Regisseur und einziger Akteur. Diese Privatvorstellungen fallen so verschieden aus, wie es die Friseure als Privatmenschen auch sind.
Solange ich klein war, kam ein Friseur zu uns ins Haus. Er gab sich mir gegenüber als Lehrer, Erzieher, väterlicher Freund. „Mein Junge“, sagte er beinahe jedes Mal leicht gravitätisch, „bei einem jungen Mann kommt es auf zwei Sachen an: auf die Schuhe und auf die Frisur. Nur darauf schauen die Leute. Merk es dir.“ Oder er äußerte sich über das noch junge Medium Fernsehen. Viele schafften sich damals ihr erstes Gerät an und sahen fast alles. Das sei doch nur Müll, warnte er mich leise, bekümmert, es sei nicht das wirkliche Leben. Er war in den Fünfzigern, sein Gang schwerfällig, er schnaufte dabei. Erst nach Feierabend schnitt er anderen für wenig Geld die Haare, im Hauptberuf arbeitete er körperlich schwer in der nahen Kohlengrube. Er sprach nur Hochdeutsch und von den Großeltern, deren Mieter er war, erfuhr ich, dass er aus Ostpreußen gekommen war. Auf der Flucht nach Westen war ihm 1945 die Frau an Typhus, Diphterie oder Entkräftung gestorben. Er lebte in Onkelehe mit einer Kriegerwitwe und sie zogen gemeinsam seine Tochter auf, alle drei gut miteinander auskommend, ernsthafte Menschen ihrer Natur nach wie auch schicksalsbeladen.
Als Oberschüler ging ich zu einem unserer Dorffriseure. Es war ein noch junger Mann, der zügig arbeitete und oft sagte: „Ja, alle drei Wochen muss man schon zum Friseur kommen.“ Ich ließ mich dennoch nur jede fünfte blicken und saß unter ihm, versunken in meine Gedanken. Einmal fuhr ich innerlich zusammen und durfte es nicht zeigen. Er hatte nach einem Jungen gefragt, für den ich mich insgeheim stark interessierte. Warum der Friseur gerade mich auszuhorchen versuchte? Ich blieb misstrauisch und begann ihm selbst einen Roman anzudichten. Waren wir am Ende beide so? Ich war mir ja selbst noch unsicher.
Mulmig wurde mir später auch in Berlin. In dem Friedenauer Salon arbeitete regelmäßig ein kleiner alter Buckliger an mir, er schnitt sorgfältig, meistens freundlich lächelnd. Ich sah, dass ihm das Haareschneiden bei seiner Statur nicht leicht fiel, und er dauerte mich. Was mich eines Tages schockierte, war seine Bemerkung: „Wenn man Ihnen den Nacken ausrasiert, bräuchte man unten gar nicht mehr aufzuhören, bei der starken Körperbehaarung.“ Er grinste anerkennend …
… und ich ging nächstes Mal zum Friseur ins Einkaufszentrum, wo die pointierte Szene sich erst an der Kasse abspielte. Ein junger Friseurgeselle hatte mich in Windeseile bedient und seine Kollegin machte sich an die Rechnung. Sie unterbrach sich auf einmal, starrte mich mit dem Ausdruck größten Entsetzens, ja unüberwindlichen Ekelgefühls an, stieß dumpfe Laute des Abscheus aus. Hatte ich Kopfläuse oder einen grindigen Ausschlag? Nie im Leben fühlte ich mich so verachtet. Dann geleitete sie mich zurück vor die verspiegelte Wand – der Kollege musste nacharbeiten, die Mängel des Schnitts ausbügeln.
Kein anderer Friseur hat mir so oft die Haare geschnitten wie Herr *** in Hamburg. Er war jenseits der fünfzig, arbeitete allein im eigenen Vorstadtsalon und erzählte viel aus seinem Leben, von seinem Alltag. Ich hörte immer gern zu und erfuhr, er sei als junger Mann jahrelang als Bordfriseur zur See gefahren, zwischen Europa und Südamerika. Seine Gattin beteiligte sich oft an Preisausschreiben und gewann ab und zu mehr oder weniger Nützliches, einmal auch eine Gratisreise für zwei Personen nach Rio de Janeiro. Das ergab weiteren Erzählstoff … Ich wusste, dass er in der Lüneburger Heide aufgewachsen war, und eines Tages sagte ich ihm, bald würde ich eben dorthin umziehen. Entgegen meiner Erwartung fiel seine Reaktion nicht positiv aus. Er schüttelte den Kopf, erzählte nichts von der Heide, sah wohl nur einen Kunden weniger in mir. Als dann der letzte Termin bei ihm da war, nach so vielen Jahren, hatte er keine Gedanken mehr frei. Seine Frau war gerade schwer erkrankt und er in großer Sorge. Wir trennten uns beide niedergedrückt.
Zum Erzählen aufgelegt war auch die lebhafte junge Frau vietnamesischer Herkunft in einem Lichtenberger Salon. Ich war also zurück in Berlin und erfuhr immer wieder Neues über ihre Verwandtschaft, ihre kleine intelligente Tochter, über Reisen nach Vietnam. Sie selbst war so kleingewachsen, dass sie darum bitten musste, mich im Stuhl nicht aufzurichten, sondern im Gegenteil ein wenig zusammenzusinken. Sie war der Typ quirlige Berlinerin, mit exotischen Gesichtzügen und beinahe jungmädchenhaftem Gehabe, eine sympathische westöstliche Erscheinung.
Inzwischen bin ich schon wieder umgezogen und Stammkunde in einem anderen mittelgroßen Salon mit lauter jüngeren Friseurinnen. Sie arbeiten gründlich und konzentriert und dennoch unterhalten sie sich gleichzeitig viel untereinander, mit mir eher nicht. Der große Abstand zwischen den Generationen ist erstmals fühlbar. Bei so hurtiger Wechselrede zwischen den Angestellten wirkt die Zuwendung zum einzelnen Kunden nur noch unpersönlich, und das ist mir heute ganz recht. Respektvoll höre ich eine Zeitlang zu und überlasse mich dann meinen Gedanken, Erinnerungen.
Solange ich klein war, kam ein Friseur zu uns ins Haus. Er gab sich mir gegenüber als Lehrer, Erzieher, väterlicher Freund. „Mein Junge“, sagte er beinahe jedes Mal leicht gravitätisch, „bei einem jungen Mann kommt es auf zwei Sachen an: auf die Schuhe und auf die Frisur. Nur darauf schauen die Leute. Merk es dir.“ Oder er äußerte sich über das noch junge Medium Fernsehen. Viele schafften sich damals ihr erstes Gerät an und sahen fast alles. Das sei doch nur Müll, warnte er mich leise, bekümmert, es sei nicht das wirkliche Leben. Er war in den Fünfzigern, sein Gang schwerfällig, er schnaufte dabei. Erst nach Feierabend schnitt er anderen für wenig Geld die Haare, im Hauptberuf arbeitete er körperlich schwer in der nahen Kohlengrube. Er sprach nur Hochdeutsch und von den Großeltern, deren Mieter er war, erfuhr ich, dass er aus Ostpreußen gekommen war. Auf der Flucht nach Westen war ihm 1945 die Frau an Typhus, Diphterie oder Entkräftung gestorben. Er lebte in Onkelehe mit einer Kriegerwitwe und sie zogen gemeinsam seine Tochter auf, alle drei gut miteinander auskommend, ernsthafte Menschen ihrer Natur nach wie auch schicksalsbeladen.
Als Oberschüler ging ich zu einem unserer Dorffriseure. Es war ein noch junger Mann, der zügig arbeitete und oft sagte: „Ja, alle drei Wochen muss man schon zum Friseur kommen.“ Ich ließ mich dennoch nur jede fünfte blicken und saß unter ihm, versunken in meine Gedanken. Einmal fuhr ich innerlich zusammen und durfte es nicht zeigen. Er hatte nach einem Jungen gefragt, für den ich mich insgeheim stark interessierte. Warum der Friseur gerade mich auszuhorchen versuchte? Ich blieb misstrauisch und begann ihm selbst einen Roman anzudichten. Waren wir am Ende beide so? Ich war mir ja selbst noch unsicher.
Mulmig wurde mir später auch in Berlin. In dem Friedenauer Salon arbeitete regelmäßig ein kleiner alter Buckliger an mir, er schnitt sorgfältig, meistens freundlich lächelnd. Ich sah, dass ihm das Haareschneiden bei seiner Statur nicht leicht fiel, und er dauerte mich. Was mich eines Tages schockierte, war seine Bemerkung: „Wenn man Ihnen den Nacken ausrasiert, bräuchte man unten gar nicht mehr aufzuhören, bei der starken Körperbehaarung.“ Er grinste anerkennend …
… und ich ging nächstes Mal zum Friseur ins Einkaufszentrum, wo die pointierte Szene sich erst an der Kasse abspielte. Ein junger Friseurgeselle hatte mich in Windeseile bedient und seine Kollegin machte sich an die Rechnung. Sie unterbrach sich auf einmal, starrte mich mit dem Ausdruck größten Entsetzens, ja unüberwindlichen Ekelgefühls an, stieß dumpfe Laute des Abscheus aus. Hatte ich Kopfläuse oder einen grindigen Ausschlag? Nie im Leben fühlte ich mich so verachtet. Dann geleitete sie mich zurück vor die verspiegelte Wand – der Kollege musste nacharbeiten, die Mängel des Schnitts ausbügeln.
Kein anderer Friseur hat mir so oft die Haare geschnitten wie Herr *** in Hamburg. Er war jenseits der fünfzig, arbeitete allein im eigenen Vorstadtsalon und erzählte viel aus seinem Leben, von seinem Alltag. Ich hörte immer gern zu und erfuhr, er sei als junger Mann jahrelang als Bordfriseur zur See gefahren, zwischen Europa und Südamerika. Seine Gattin beteiligte sich oft an Preisausschreiben und gewann ab und zu mehr oder weniger Nützliches, einmal auch eine Gratisreise für zwei Personen nach Rio de Janeiro. Das ergab weiteren Erzählstoff … Ich wusste, dass er in der Lüneburger Heide aufgewachsen war, und eines Tages sagte ich ihm, bald würde ich eben dorthin umziehen. Entgegen meiner Erwartung fiel seine Reaktion nicht positiv aus. Er schüttelte den Kopf, erzählte nichts von der Heide, sah wohl nur einen Kunden weniger in mir. Als dann der letzte Termin bei ihm da war, nach so vielen Jahren, hatte er keine Gedanken mehr frei. Seine Frau war gerade schwer erkrankt und er in großer Sorge. Wir trennten uns beide niedergedrückt.
Zum Erzählen aufgelegt war auch die lebhafte junge Frau vietnamesischer Herkunft in einem Lichtenberger Salon. Ich war also zurück in Berlin und erfuhr immer wieder Neues über ihre Verwandtschaft, ihre kleine intelligente Tochter, über Reisen nach Vietnam. Sie selbst war so kleingewachsen, dass sie darum bitten musste, mich im Stuhl nicht aufzurichten, sondern im Gegenteil ein wenig zusammenzusinken. Sie war der Typ quirlige Berlinerin, mit exotischen Gesichtzügen und beinahe jungmädchenhaftem Gehabe, eine sympathische westöstliche Erscheinung.
Inzwischen bin ich schon wieder umgezogen und Stammkunde in einem anderen mittelgroßen Salon mit lauter jüngeren Friseurinnen. Sie arbeiten gründlich und konzentriert und dennoch unterhalten sie sich gleichzeitig viel untereinander, mit mir eher nicht. Der große Abstand zwischen den Generationen ist erstmals fühlbar. Bei so hurtiger Wechselrede zwischen den Angestellten wirkt die Zuwendung zum einzelnen Kunden nur noch unpersönlich, und das ist mir heute ganz recht. Respektvoll höre ich eine Zeitlang zu und überlasse mich dann meinen Gedanken, Erinnerungen.